Johannes Richard zur Megede
Unter Zigeunern
Johannes Richard zur Megede

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Vierzehntes Kapitel.

Als Lerden heraustrat, schlug ihm ein feiner, kalter Sprühregen ins Gesicht. Es war einer jener mürrischen Novemberabende, welche den Winter einleiten. Er sah und hörte nichts, wußte kaum, in welcher Richtung er ging. Der Schlag war schwer gewesen. »Welcher Narr ich doch war!« Er hätte laut auflachen mögen. Die widersinnigsten Gedanken tanzten einen wilden Cancan in seinem wohlgescheitelten Kopfe; sie kamen, verschwanden mit Windeseile, ohne daß er sie fassen, weiterführen konnte – bis auf einen einzigen, der, wie die fixe Idee eines Verrückten, sich durch das Gewirr durchbohrte. »Rache! Aber wie?« Alles Häßliche, Niedrige, was der vornehmen Natur sonst fremd war, wagte sich aus den Schlupfwinkeln seiner Seele hervor. »Ihn niederschießen, ihn brandmarken!« Es gab tausend Arten, den Grafen zu ruinieren. Doch keiner dünkte ihm grausam und ätzend genug. Die 232 Vernunft hielt sich vorsichtig zurück, wie immer in solchen Augenblicken.

Dazu also war er aus Paris gekommen, hatte diese peinliche Auseinandersetzung gesucht? Es krampfte sich etwas in seinem Innern zusammen. Und diese erste Begegnung mit dem Grafen, auf die er sich während der ganzen Reise beinahe kindisch gefreut hatte? Wie erstaunt der wohl sein würde, wenn er ihn nach der glücklichen Lösung des Konfliktes überraschte. »Kommen Sie, cher comte; ich lasse Sie nicht eine Stunde mehr in Berlin. Was haben Sie für Streiche gemacht?« Und wenn ihm der Graf mit einem verdrießlichen »Ich kann unmöglich!« antworten würde, hatte sich Lerden einen so netten Schluß ausgedacht. »Frau Lo läßt Ihnen ›Glückliche Reise‹ wünschen, bedauert aber, Sie auf keinen Fall mehr annehmen zu können.« – Und jetzt! Das war der Lohn dafür, daß er, der mißtrauisch allen sein Herz verschlossen hatte – allen, bis auf diesen einzigen – von diesem einzigen bestohlen wurde. Der Wutparoxismus erfaßte ihn jäh, so daß die Laternen vor seinen Augen tanzten und er sich an eine Wand lehnen mußte, um nicht dahin zu wanken wie ein Betrunkener. Der Anfall ging rasch vorüber dank dem Regen, der ernüchternd auf Lerden herabrieselte, und den Menschen, welche lachend, lustig vorbeikamen; die kühl wägende Vernunft wagte 233 sich mutiger hervor. Dennoch kam ihm kein einziges Mal der so naheliegende Gedanke: »Aber der Graf kann ja gar nicht ahnen, daß du diese Frau geliebt hast – wie geliebt!«

Noch ehe er die Potsdamerstraße erreicht hatte, war er ruhig, ganz ruhig. »Recht kindisch, sich über Dinge aufzuregen, die noch gar nicht sicher sind. Lo kann sich getäuscht haben . . . Der Graf selbst soll mir beichten.« Sicher, elegant schritt er dahin; aus seinen Augen blitzte jener gefrorene Haß, der so viel blinder ist als der heiße, weil wir ihn selbst immer nur für kühle Kritik halten.

Am Elisabethkrankenhause stieg er auf die Pferdebahn. »Ich will sofort nach der Dennewitzstraße!« Ganz mit sich beschäftigt, das Auge nach Innen gerichtet, saß er im Wagen. »Wie mache ich es am geschicktesten?« Sein Gegenüber, ein schlanker Dragoneroffizier, das Monocle im graublassen Auge, studierte kopfschüttelnd Lerdens kluges Gesicht. Was interessierte den Millionär heute das Pferdebahnpublikum? Sonst war er sehr lange Strecken gefahren, in eine Ecke gedrückt, bloß um diese stets wechselnden Typen des Weltstadtpflasters zu beobachten, vor allem die höchst charakteristische Art, wie jeder seinen Groschen hervorholte. Da waren die Alten, Reichgewordenen, mit harten, wie aus Holz geschnittenen Gesichtern, die langsam das schmutzige Portemonnaie 234 hervorlangten, unter der Menge von Gold- und Silberstücken den einsamen Groschen herauswühlten und, nachdem sie den glatten Rand befühlt hatten, mürrisch bezahlten. Gegenüber saß die Handwerkersfrau, die mit Netz und Tasche von der Markthalle zurückkam und, Fahrschein und Portemonnaie in der roten Hand, noch einmal nachrechnete, den Kopf schüttelte und mißtrauisch dem Kondukteur nachsah. »Sollte ich dir am Ende ein Fünfgroschenstück gegeben haben?« Am liebsten hatte Lerden jene verarbeiteten, blassen, jungen Menschen – Comptoiristen, Studenten – die uns ungern eine Einsicht in die schmale Börse aus dem »Fünfzigpfennigbazar« gestatteten, und aus Angst, vom Schaffner vielleicht doch als Proletarier durchschaut zu werden, mit nervös zitternder Hand einen Fünfer Trinkgeld hinzufügten – sehr verschieden von ihren Altersgenossen, in patentem Anzug, mit schlecht verheilten Durchziehern, die mit generösem »schon gut!« den restierenden Nickel refüsierten.

»Sind Sie es oder sind Sie es nicht?« fragte endlich zögernd der Dragoneroffizier, die Hand an der Mütze.

Lerden sah auf. »Ah, sieh da! Lange nicht gesehen, Herr Graf . . .«

»Was aber nicht an mir liegt. Wir haben uns alle Mühe gegeben, Sie mal wieder abzufangen. 235 Abgereist . . . Indien . . . Aegypten . . . was weiß ich? Ihre Rheinweinabende sind Ihnen noch unvergessen.«

»Schmeichelhaft.«

»Kommen Sie übermorgen zum Rennen?«

»Ich bin nur auf einige Tage hier. Paris ist mir lieber. Wüßte auch gar nicht, was ich im Westend zu suchen hätte. Seit meine ›Tamtam‹ gestürzt ist, lasse ich nicht mehr rennen. Ich kenne kaum noch ein Pferd und glaube, daß ich ganz den Blick verloren habe.«

»Einer unsrer vielversprechendsten Herrenreiter? Sie scherzen? Außerdem würde man sich sehr freuen . . .«

»Nein.«

Der Offizier überlegte etwas. »Halt, Sie werden doch kommen. Ihre ›Taraba‹ geht nach langer Pause wieder über die Bahn.«

»›Taraba‹?« Lerden zählte an den Fingern. »Hat jetzt gut ihre sieben Jahre.«

»Aber Gangwerk wie Stahl; hat wenig nachgelassen, seitdem sie Ihre Farben dreimal zum Siege führte. Jetzt nicht unter den Favoriten. Man traut der Lunge nicht recht. Gegen meinen Vierjährigen kommt sie auch sonst nicht auf.«

War es nun, daß Lerden seit heute überhaupt etwas gegen den Grafen hatte, oder daß er sich über 236 die Bewunderung ärgerte, mit der die Passagiere den arroganten Offizier betrachteten – er machte eine sehr abfällige Bemerkung über den gräflichen Rennstall.

»Ich proponiere.«

»Der Jockey, der die ›Taraba‹ steuert?« unterbrach Lerden kurz.

»Ihr alter Oesterreicher. Die Stute ist in den besten Händen.«

»Also ich komme, Herr Graf,« entschied sich Lerden. »Und wenn die Stute das erste Hindernis genommen hat, können wir über die Proposition sprechen.«

Als sie an der Dennewitzstraße ausstiegen, begleitete der Leutnant Lerden noch ein Stück. »Sie sehen schlecht aus, Herr Doktor! Sie müssen sich schonen. Ihre Art zu reisen muß anstrengend sein.«

»Schonen? – Für wen denn?«

Der Graf verstand ihn nicht ganz. – »Apropos, wenn wir mal wieder beim Wein sitzen sollten – ich könnte Ihnen da von einer famosen Acquisition erzählen. Berliner Weiber . . . ich sage Ihnen . . .«

»Die habe ich bis hierher,« sagte Lerden, auf den Hals zeigend. »Also im Westend, Herr Graf!« Und er konnte sich eines ironischen Lächelns nicht erwehren, als der Leutnant so recht gigerlmäßig die Hand ganz von oben in die seine legte. »Laffe! 237 – Es würde mir Spaß machen, dich mit einer ganz blödsinnigen Wette zu ruinieren.«

*

»Sie hier? – Wie ich mich freue.«

»Ich ging an Ihrer Wohnung vorbei, und weil ich Licht sah, wollte ich mir gestatten, Herr Graf von Silowstrem . . .«

»Sie bleiben doch längere Zeit?«

»Kommt auf die Umstände an. Ich fürchte, die Arrangements werden Wochen in Anspruch nehmen. – Ein miserabler Herbst bei Ihnen. Was macht die Schriftstellerei, wenn man fragen darf?«

Auf dem Gesichte des harmlosen Burschen, der in seiner aufrichtigen Freude, den alten Protektor wiederzusehen, die eisige Höflichkeit des andern gar nicht bemerkte, erschien ein verbitterter Zug. »Absteigender Ast . . . Sehr sogar.«

Lerden ging unruhig, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer auf und ab, in jener vagen Hoffnung, daß sein argwöhnischer Blick vielleicht irgend einen Gegenstand – ein Buch, ein vertrocknetes Blatt – welches intime Beziehungen zwischen dem Grafen und der Professorin vermuten ließ, entdecken könne. »Wo haben Sie das her? – Von der Professorin? Sie stehen ja sehr freundschaftlich mit der schönen Frau, seit der Ehemann außer Sicht ist.« Aber zu 238 solch einer bissigen Bemerkung fand er keine Gelegenheit. In der unfreundlichen Garçonwohnung machte alles einen vernachlässigten Eindruck – die verstaubten Bücher, die rostende Feder auf dem Porzellanschreibzeug, der Graf selbst, wie er in der offenen Jagdjoppe, an der die Hirschhornknöpfe baumelten, ohne Kragen am Mitteltisch stand und nervös auf eine blau angestrichene Zeitungsstelle trommelte.

»Ich möchte Sie auch noch sprechen wegen der Geschichte da, lieber Doktor. Lesen Sie!«

Lerden studierte das Blatt aufmerksam, hie und da eine Stelle halblaut wiederholend. »Geschichte einer Eintagsberühmtheit . . . nicht die besten Antecedenzien . . . Man sagt, Berlin infiziere die Provinz; ganz im Gegenteil!« Dann kam die ganze Rinow-Silowstremsche Liebesgeschichte, romanhaft zugestutzt. Er faltete die Zeitung sorgfältig zusammen und meinte, die Augen auf das Fenster gerichtet: »Das ist allerdings etwas stark. Auf wen geht das?«

»Auf mich.«

»So?« Lerden nahm seine Promenade wieder auf.

»Ich kenne den Hund und möchte Genugthuung fordern.«

»Das wäre nicht klug. In solchen Dingen thut eine Reitpeitsche gute Dienste. Ich nehme natürlich an, daß der Bursche verleumdet. Sonst . . . Schweigen 239 ist oft Gold! Doch das müssen Sie mit sich und Ihrem Gewissen ausmachen.«

»Markieren Sie nicht den kalten Verstandesmenschen, der Sie gar nicht sind, Lerden.« Erregt ergriff er dessen Hand. »Ich habe Ihnen wohl damals weh gethan – mir aber am wehsten. Wenn je ein Mensch Sie wirklich geschätzt hat, bin ich es gewesen. Zwischen uns darf keine Wolke sein. Rauben Sie mir meinen Glauben nicht. Wenn Sie meine Geschichte wüßten . . .«

»Und wenn ich sie nun wüßte? – Besser beinahe wie Sie selbst . . .«

»Dann wissen Sie auch, daß es eine Geschichte der Schwäche, nicht der Gemeinheit ist, daß jeder junge, unerfahrene Mensch an meiner Stelle dasselbe gethan hätte.«

»Ich weiß nicht.«

»Nein, Doktor, nicht den Ton.«

Lerden nahm schweigend den Hut, welchen er auf den Tisch gelegt hatte, und nahm seine Zimmerpromenade wieder auf. »Sie haben wohl nicht ganz ehrlich an mir gehandelt,« gab er nach einer schwülen Pause zurück.

»Ich verstehe Sie nicht. Aber fragen Sie mich, was Sie wollen – und bei Gott! Sie sollen die Wahrheit wissen, selbst wenn sie für mich schmachvoll wäre.«

240 »Was aber gar nicht meine Absicht ist.« Lerden hat sich später oft die Frage vorgelegt, warum er auf diesen ehrlich gemeinten Vorschlag nicht einging. Die Wahrheit lag so nahe. In drei Worten hätte er Gewißheit gehabt. Doch diese bis ins Innerste skeptische Natur hatte ihre besondere Ansicht über Wahrheiten in Kardinalfragen. »Du führst mich doch an! Darum sondiere ich lieber ganz vorsichtig.« Und laut fortfahrend: »Sie müssen mir eine gewisse Animosität nicht übelnehmen, Herr Graf, Paris ruiniert die Nerven. Machen Sie lieber schnell Toilette und essen Sie mit mir zu Abend, irgendwo.«

Dem Grafen war es schwer ums Herz. »Sie gefallen mir heute gar nicht, Doktor. Bleiben Sie lieber hier. Wir wollen uns aussprechen. Ich habe Ihren Rat in tausend Sachen nötig, und mir kommt es vor, als wenn Sie mir unrecht thäten – unabsichtlich natürlich. Ich bin ja der einzige, der den wirklichen Lerden kennt.«

Aber für den Skeptiker war die Zeit vorbei, wo ihn diese liebenswürdige Schwäche rühren konnte, und er wippte als Antwort nur ungeduldig mit der Fußspitze, indem er für sich murmelte: »Kennt? – Du sollst mich erst kennen lernen, Bursche!«

Nur zögernd entschied sich der Graf fürs Mitgehen. »Weil Sie es sind!« Während er schnell 241 den Gesellschaftsrock überwarf und sich mit dem Kamm durch das Kraushaar fuhr, besah sich Lerden, als ahne er, daß er zum letztenmal hier sei, noch einmal genau das Mietszimmer, welches, mit seiner elenden Einrichtung ungemütlich, vom Zigarrendampf durchzogen, so recht für diesen deklassierten Aristokraten paßte. Dabei empfand er eine Art Gewissensbisse. »Warum bin ich so hinterlistig?« Es war ein gemeiner Zug, der seinem innersten Wesen Hohn sprach; das fühlte er sehr deutlich. »Bah, man wird kindisch!« Doch als der Graf fertig war und nach einem freundlichen: »Nun, sind Sie bereit?« die Lampe ausblies, hatte er ganz die Empfindung, als wenn das Licht ihrer Freundschaft hiermit ausgelöscht wäre, ein für allemal.

Sie nahmen das Souper in einem der vornehmsten Restaurants unter den »Linden«. Der Graf war einsilbig, niedergedrückt; er fühlte sich geniert in diesem eleganten Raum bei dem Abendessen mit allen Chicanen von der Schildkrötensuppe bis zum Elixir de Spa – geniert durch die achtungsvolle Vertraulichkeit des alten steifleinenen Oberkellners, der bei seinem würdigen: »Nicht wahr, Steinberger Kabinett, Herr Doktor, 68er? – Erlaucht haben auch des öftern nach Herrn Doktor gefragt,« ihn vollkommen ignorierte oder, mit hochgezogenen Brauen ihn musternd, so recht arrogant zu fragen 242 schien: »Wie bist du eigentlich in eine so verdammt noble Gesellschaft gekommen, du grüner Unbekannter?« – geniert vor allem durch Lerden selbst, der fast jeden Gang unberührt vorübergehen ließ, aber eine gemachte Lustigkeit zur Schau trug. »So essen Sie doch, Herr Graf. Weg die Falten! Wer wird beim Rheinwein Trübsinn blasen?« Und dazwischen fing er zuweilen einen so scharfen, gar nicht zu deutenden Blick des Millionärs auf, der ihn so beunruhigte, daß er Lerden plötzlich in einer Pariser Anekdote unterbrach: »Was haben Sie eigentlich, Doktor? – Sie haben bestimmt etwas gegen mich!«

Lerden zog die Brauen leicht zusammen. »Sie sehen Gespenster! Ich will nach einer Beruhigungszigarre klingeln.«

Langsam, die Hände in den Paletottaschen, die Importe im Munde, schlenderten sie nach dem Souper durch die Straßen. Der Regen rieselte staubfein und dicht auf Lerdens Boulevardcylinder hernieder, so daß er ganz wollig aussah. Keiner sprach ein Wort.

An der Französischen Straße hielt ein Pferdebahnwagen.

»Frédéricstraß? Goldadlèr?«

Bei dem unverkennbar französischen Accent dieser Worte sah Lerden auf. Es waren zwei Damen, die der Kondukteur mit äußerst pfiffigem 243 Gesicht betrachtete, wie sie, das Kleid bis über den Knöchel gehoben, etwas zögernd mit ihren spitzen Lackschuhen auf das feuchte Pflaster hüpften. Offenbar waren sie nicht sehr ortskundig, und Lerden, einer plötzlichen Eingebung folgend, sagte mit einem nachlässigen Griff an den Cylinderhut: »Est-ce permis de vous accompagner? C'est notre chemin.«

Die beiden acceptierten lachend das Anerbieten.

»Nach dem Goldadler? Haben Sie wirklich Lust?« fragte der Graf verdrießlich. Lerden hatte so oft gesagt, daß derartige Amusements weit hinter ihm lägen. Und was konnte der Feinschmecker an diesen passabel hübschen französischen Chansonnetten finden, die er in den folies Bergères sicher in viel eleganteren Ausgaben gesehen hatte.

»Man trifft da eine Menge alte Bekannte beiderlei Geschlechtes. Sie haben wirklich keine Spur mehr von Ihrer früheren Leichtfertigkeit!«

Es gab Zeiten, wo es für den Grafen einen unwiderstehlichen Kitzel gehabt hatte, zuweilen die platten Lascivitäten der Cafés chantants sich anzuhören; heute war er nur ein melancholischer Beobachter, dieser durch alle Gossen des Salonlebens gewirbelte Aristokrat, der recht widerwillig in den schmutzigen, wenig versprechenden Flur des Hauses eintrat. Der Kassierer, ein alter, mitgenommener Mann im Pelz, dünkte ihm der passendste Thürhüter. 244 Welche Erfahrungen mochten diese zitternden runzligen Hände, dieser Kopf eines alten Schauspielers mit dem sorgfältigen Scheitel durch das spärliche Grauhaar und den dicken Säcken unter den blöden Augen schon hinter sich haben! Das richtige Menetekel! »Geh nur hinein, so speit dich der Schlund wieder aus!« Doch kaum einer von denen, die eilig das Schiebefensterchen passierten, fand diese Deutung.

Oben empfing sie eine verbrauchte, heiße, von starken Wohlgerüchen und Zigarrendampf geschwängerte Atmosphäre. Es war ein länglicher Raum. Im Hintergrund die Bühne, davor die Musik, dann zwei lange Reihen von Tischen, dicht besetzt; mitten hindurch ging ein schmaler Gang, den die Chansonnetten unaufhörlich durchtänzelten, um nach dem dahinter gelegenen Weinzimmer zu gelangen. Das Konzert war schlecht, und erst die Vorstellung auf der mit grellfarbigen Stoffen behangenen Estrade! Eine Chansonnette im roten Röckchen tanzte, sang, lächelte – ohne Stimme, ohne Grazie, ohne irgend eine Illusion bei den lachenden, pfeifenden, klatschenden Zuhörern hervorbringen zu wollen. Die ganze Wand der Bühne füllten die Tingeltangeleusen, in allen möglichen Posen umhersitzend; und die frech ins Publikum gerichteten Augen, die übereinander geschlagenen Beine, welche unter den rosa oder fleischfarbenen Tricots und den hohen koketten 245 Schnürstiefelchen keineswegs immer anmutige Formen zeigten, diese verschminkten, teils erschrecklich alten, teils erschrecklich jugendlichen Gesichter schienen ganz cynisch zu fragen: »Willst du nicht?« Und es bedurfte gar nicht des öden Balletteusenlächelns, das zuweilen hinter den tiefroten Lippen ein furchtbar blasses Zahnfleisch sehen ließ, oder des gelegentlich ins Publikum gerufenen: »Paulchen, schicke mir doch einen Knickebein!« und des gleichmütigen: »Denn nicht!«, wenn Paulchen kühl blieb – die Gemeinheit war noch durchsichtiger wie die Gazeröckchen der Tänzerinnen.

Warum blieb Lerden so lang? Nicht, daß sie ihn sonderlich interessiert hätten, diese bei aller Verkommenheit gezierten, moschusduftenden Chansonnetten, wie sie an seinem Eckplatz immerfort vorbeipromenierten, ihm mit dem Federfächer den Arm streifend, so daß er den herabgefallenen Reispuder von seinem Ellbogen blasen mußte, doch die ganze Atmosphäre von Verderbtheit fesselte ihn. War das die wahre Lebenslust der Anwesenden? Er versuchte, die Gesichter zu studieren. Einige Banditenphysiognomien waren darunter – die hierher gehörigen Charakterköpfe. Aber das andre? – Gesundheitstrotzende Oekonomengesichter, Durchreisende, welche hier in einer einzigen Nacht den letzten Hundertmarkschein verjubelten, um dann in einem Winkel Pommerns 246 oder Mecklenburgs den Katzenjammer zu verdauen und von Berlin zu erzählen, von dem sie nur die Friedrichstraße kannten. – Offiziere in Zivil mit durchgezogenem Scheitel, sofort erkenntlich durch die steife Haltung, den Jargon, die Kasino-Airs, mit denen sie sich zutranken und den Zigarettendampf verächtlich durch die Nase bliesen. – Studenten, Kaufleute, von sehr modisch gekleideten Comptoiristen bis zum Ladendiener mit den blauen verarbeiteten Fäusten und der fettglänzenden Haartolle – dazwischen verstreut einzelne ehrbare Bürger aus dem alten Berlin, die sich vor Lachen ausschütten wollten über diese blödsinnig-leichten Couplets und jede Nummer mit Witzen im gemütlichen Berlinisch und lebhaftem Händeklatschen begleiteten, ohne an den Trauring in der Westentasche zu denken – alles in allem ein leichtlebiges, unschädliches Völkchen, das ebenso schnell auseinanderflog, wie es zusammengeflattert war. Und warum kamen sie? Es machte Lerden Vergnügen, nachzugrübeln. Gab es denn wirklich Menschen, die seicht und kurzsichtig genug waren, diese Couplets hübsch, diese geschminkten Gesichter anziehend zu finden? Kaum. Oder war es der blasierende Hauch der Weltstadt, der die Perversität erzeugt und die Unnatur sorgsam züchtet? Aber es trafen sich doch hier Freunde, grundverschiedene Naturen, welche das Leben 247 auseinandergerissen, an entgegengesetzte Pole geworfen – nach Jahrzehnten, an dem einzigen Tage, wo sie in Berlin waren, zufällig hier! Sie waren glückliche Gatten, zärtliche Väter – Leute, die keine gähnende Herzensleere auszufüllen, keinen quälenden Gedanken zu betäuben hatten. Wie trafen die sich gerade an dem Orte? Es war also kein Ausfluß der Hyperkultur, nicht die Weltstadt. Es lag tiefer in der menschlichen Natur selbst jener unaufgeklärte, rasende Widerspruch des Inneren, der jedem einmal bewußt wird, wenn plötzlich die Logik des Gedankens irgend eine widersinnige, ganz fernliegende Vorstellung stört, so aufdringlich, daß wir ihr widerwillig folgen müssen.

Eine Spezialität trat auf – sie war jung, hübsch, eine vollbusige Ungarin, die schwarzen Augen blitzten. »Sie hat viel Schneid!« sagte ein Offizier. Und wirklich war viel von der heißblütigen Magyarenrasse in den blitzschnellen Tanzsprüngen der spornklirrenden Husarenstiefelchen, in der feurigen Grazie des in den blauen Schnürrock eingezwängten Frauenkörpers, in dem keck zurückgeworfenen, dunkeln Lockenkopfe, von dessen in die Stirn geschobener Pelzmütze der Reiherbusch gar kampfesmutig nickte. Hell und schmetternd wie eine Fanfare tönte ihr Soldatenliedchen, aus dessen Refrain »Fürs Militär, fürs Militär« immer eigentümlich prickelnd ihr scharfes, ausländisches »R« nachvibrierte.

248 »Bravo, bravo!« schrie alles, als sie sich mit einem sehr graziösen Honneur verbeugte.

»Was ist denn?« fragte der Graf. Die Hände um das Glas gefaltet, hatte er die ganze Zeit stumpfsinnig auf die abgestandene Blume seines Bieres geblickt. Lerden war es aufgefallen, wie unendlich schlaff dieses gutmütige Gesicht gerade in dieser apathischen Ruhe aussah.

»Mau amüsiert sich. Thun Sie das auch!« antwortete Lerden.

»Ich kann nicht!« Und plötzlich sprang ein so gequälter Zug um seinen Mund hervor, daß Lerden wider Willen Mitleid empfand. »Ich sollte auf die Frau und die Rache verzichten. Was kann der Narr dafür, daß die Frauen noch größere Närrinnen sind? – Lieber Graf« . . . begann er eben laut. Da tippte ein schlanker Mädchenfinger auf seinen Arm.

»Wir kennen uns! Aber woher?« Es war eine Chansonnette, die schon lange Lerden gemustert hatte – sehr jung, sehr verlebt, doch mit einem Paar wunderschöner Zigeuneraugen.

»Kommt mir auch so vor,« gab er zurück. »Man lernt eben so viel hübsche Weiber kennen, daß man die einzelnen gar nicht unterbringen kann.«

»Am Ende thut das nichts zur Sache!«

»Aber Sie sind wirklich hübsch, Signorina!« Das ist immer der Anfang.

249 »Sie auch! Berliner?«

»Ja! Doch was geht Euch das an? Erzählt mir lieber etwas aus Eurem vielbewegten Leben!«

»Was? Ich weiß nichts!« erwiderte sie apathisch. »Kommen Sie lieber ein bißchen hinter ins andre Zimmer! Ich habe Durst.«

»Ihr habt immer Durst! Da!« Er reichte ihr sein volles Bierglas. »Trink, Blume!«

Sie nippte zögernd, mehr aus Höflichkeit, einige Tropfen und schüttelte sich dann. »Br . . . Br . . .«

»Dann scheint's mit dem Durst nicht so weit her zu sein. Ihr Weiber müßt doch immer betteln!«

»Betteln? Bah!« Sie hielt ihm die ringgeschmückte Hand vors Auge.

»Simili?«

»Sie verstehen wohl was davon! Das sind Geschenke von meinen Verhältnissen. Da kommen Sie nicht mit! Der mit dem Brillant in der Perlenfassung kostet bei Werner fünfhundert Mark. Mein Schatz war damals Einjähriger bei den Gardedragonern. – Das Armband mit dem Rokokobildchen hat mir ein Stammtisch zum Geburtstag geschenkt.«

»Die Stammtische kennt man! Ihr habt natürlich niemand davon näher gekannt?« höhnte Lerden.

»Sie sind scheußlich!« Dann fuhr sie gleichmütig in ihrer Aufzählung fort. »Sehen Sie den Türkis da? – Er ist von einem Grafen. Die Uhr« 250 – es war ein reizendes, perlenbesetztes Bijou – »von einem Referendar. Gott, wie heißt er doch?«

Lerden lächelte.

»O, ich weiß alle meine Verehrer noch! – Das hier ist mein Glückspfennig!« Sie wies auf ein zierlich gefaßtes Goldstück, das an einer dünnen Kette an ihrem Hals hing.

Diese Kleinodien hatten eine weltstädtische, interessante Geschichte – eine Geschichte des Leichtsinns, der Dummheit, der Verschwendung – welche Lerden langweilig vorkam, weil er sie nur zu oft gehört hatte.

»Sie hören ja gar nicht zu!«

»O bitte. Von wem ist das Goldstück?« Er tippte ihr lächelnd auf den weißen Hals.

Erst wurde sie etwas verlegen, dann lachte sie. »Wenn der das ahnte! Ich – hier. – Sie kennen ihn sicher nicht. Ich selbst habe ihn nur einmal gesehen, als ich noch ein schmutziges Straßenmädchen war. Er ist immer auf Reisen.«

Auf einmal wurde Lerden aufmerksam. »Nicht so geheimnisvoll, Signorina.«

»Ich spreche nicht gern davon.« Ihr lag der Champagner sehr am Herzen. »Kommen Sie doch! Wir dürfen hier nicht so lange stehen.« Und dabei suchte ihr Auge den Geschäftsführer, ein hartes, brutales Gesicht, das sich eben zum langen »Achaz« 251 herabbeugte. Achaz war ein unsinniger Verschwender und fand ein Vergnügen daran, Publikum und Chansonnetten mit seinen aufdringlichen Redensarten zu tyrannisieren, um dann bei den Mädchen alles mit Sekt und händeweis auf die Bühne geworfenen Bouquets gut zu machen. Lerden erkannte einen alten Bekannten. Ist der Kerl mit seinem Gelde denn noch nicht fertig?

Sie schwieg unmutig. Dann sagte sie mit einer schnippischen Kopfbewegung: »Ich habe Hunger!«

»Hunger? – Ich denke Durst?«

»Ja, beides!«

Jetzt fing sie den Grafen auch an zu interessieren. Dieser Ton, diese schicke Handbewegung nach dem über der Brustschleife befestigten Veilchenbouquet – das war ja Lo, aber mit einem Stich ins Gemeine, das echte Kind der Berliner Gosse. Dabei war sie der Spottdrossel des Salons absolut nicht ähnlich. Die Figur klein, zierlich – der sehr tief entblößte Hals mager, grau, aber vielleicht häßlicher darum, weil der feine, anmutige Ansatz, der mit den spitzen, frostig zusammengezogenen Schultern, den dünnen Armen und schmalen, zarten Fingern so sehr harmonierte, etwas auffallend Kindliches, gewaltsam in der Entwicklung Aufgehaltenes verriet. Dazu dieser cynische, höchst charakteristische Sprung von den prahlerischen Aufzählungen zum Hunger!

252 »Erst beichten, Kleine!« hub Lerden wieder an und drückte ihr einen zusammengelegten Schein vorsichtig in die Hand. »Was ist's mit dem Goldstück?«

»Gott, ein sehr reicher Herr aus einem Vorort hat mir das mal geschenkt. Dann wollte er auch für die Erziehung sorgen. Geld hat er mehr wie genügend gegeben. Noch neulich hab' ich vom Notar das fürs Quartal abgeholt. Zu dem Gang habe ich immer ein altes, verschossenes Beigekleid in der Reserve. Eigentlich müßte ich das gar nicht erzählen. Doch Sie kennen ihn ja auf keinen Fall!«

»Und möchten Sie ihn wiedersehen?« fragte Lerden mit einem eigentümlichen Zucken um den Mund.

»Um Gottes willen!« Sie fuhr erschreckt auf. »Niemals! Wenn ich manchmal Sonntags an seiner Villa vorbeifahre, drehe ich den Kopf weg, obgleich ich recht gut weiß, daß er nicht zu Haus ist. Gott!« – und sie wog prüfend den Schein in ihrer zusammengeballten Faust – »ich weiß allein, daß ich schlecht bin.«

»Da haben Sie sehr recht!« mischte sich der Graf ins Gespräch. »Habt ihr alle denn kein Gewissen, Wohlthaten so zu vergelten? Wenn ich den Leichtgläubigen nur kennte, ich würde ihm schon reinen Wein einschenken.«

253 »Gehört der zu Ihnen?« fragte sie halblaut, sich zu Lerden herabbeugend.

»Ein Graf, Kleine . . .«

»Das kann mir nicht imponieren! Ich habe Fürsten gehabt« – fuhr sie laut fort – »freilich, sie waren höflicher.«

»Na, na!« Lerden legte die Hand auf des Grafen Arm, der gerade zu einer bitteren Bemerkung ausholte. »Schafe sind dazu da, daß sie geschoren werden. Lassen Sie dem hübschen Kinde doch sein Vergnügen! Ein Genasführter mehr oder weniger – was thut's? Und Ihrem Unbekannten die Augen öffnen? – Glücklich sind die geistig Armen. Denken Sie doch, der Mann könnte überhaupt ein verkappter Optimist sein. Solchen Leuten ihr hübsches Kartenhaus von Glauben und Tugend zusammenzublasen, ist gefährlich. Wer weiß, ob es dem dann nicht einfallen könnte, was er mit seinem guten Herzen gesündigt, durch wirkliche Teufeleien zehnfach wieder wett zu machen.«

Der Graf schüttelte unwillig den Kopf. »Es ist eine unerträgliche Atmosphäre hier! – Kommen Sie mit?«

»Beim besten Willen unmöglich. Die Kleine soll mir nachher beim Sekt noch ein kleines Privatissimum über Lebensweisheit lesen – Uebermorgen hole ich Sie nach Westend ab . . . Gute Nacht!«

»Viel Vergnügen!«

254 Ein Kolleg über Lebensweisheit! Niemals glaubte Lerden ein besseres gehört zu haben als von diesen parfümierten Lippen. Das war nicht zu teuer bezahlt mit den lumpigen hundert Mark für Sekt und Austern, die sie sich nach der Vorstellung noch im Weinzimmer leisteten. Sie war ganz ausgelassen glücklich über diese neue Eroberung, die sie mit Blumen überschüttete. Und mit der banalen Gutmütigkeit dieser Geschöpfe – heute trinken sie sich noch in Pommery toll und voll, und einen Monat später verenden sie vielleicht im Hospital – lockte sie Lerden noch eine halbe Krone für die Kellnerin heraus. »Sehen Sie mal, das arme Ding hat heute so wenig verdient . . .«

»Ja. Aber den Namen deines Gehörnten?«

»Nein, nie, nie!« wandte sie sich lachend ab, und darauf mit plötzlich aufsteigendem Argwohn: »Was ist eigentlich dabei so interessant? Am Ende wittern Sie etwas mit Ihrer feinen Nase!«

»Wenigstens den Anfangsbuchstaben!« drängte er.

»L . . . Da wissen Sie was Recht's!« Der Sekt begann ihr zu Kopf zu steigen. »Laß mich zufrieden mit dem langweiligen Kerl! Hab' ich ihn vielleicht angebettelt? Den Haushalt lernen, und dann vielleicht Wirtschafterin oder so etwas in Ostpreußen – zu naiv! Meine eine Schwester ist Kellnerin, die andre Statistin. – Wenn du jetzt mal zu ›Wallner‹ 255 gekommen bist, wird sie dir aufgefallen sein, sie hat berühmt schöne Schultern – und ich werde doch nicht aus der Art schlagen! . . . Trinken wir noch eine?«

»Selbstverständlich!«

Sie schmiegte sich an ihn. »Willst du mein Schatz sein?«

»Das wäre der schlechteste noch nicht, du kleiner Professor!« Er hob den vollen Kelch und sah ihr lächelnd ins weingerötete Gesicht. »Dein Wohl, Mädchen! Der Teufel hat dich mir zur rechten Zeit geschickt, damit er mich vor einer Dummheit bewahrte.« Dann zog er in ganz kleinen Absätzen, als wäre es Gift, das eisige Getränk ein.

»Schon gehen? – Jetzt wird's ja erst gemütlich!«

»Die Pflicht ruft. Uebermorgen auf der Rennbahn sehen wir uns wieder, und da sollst du auch meinen Namen wissen.«

»Ich bin sehr neugierig,« erwiderte sie und sah ihm recht verheißungsvoll mit ihren dunkeln Zigeuneraugen ins Gesicht.

Noch eine lange Weile saß sie und spielte träumend an ihrem Sektglas. Er ist hübsch, er ist reich . . . Später muß er mir ein Handschuhgeschäft in der Mittelstraße kaufen . . . Aber wo ich ihn nur gesehen haben mag . . . wo . . . wo . . . Und sie tippte einige Male, ohne Aufschluß zu erhalten, an ihre graue, siebzehnjährige Stirn. 256

 


 


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