Johannes Richard zur Megede
Unter Zigeunern
Johannes Richard zur Megede

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Erstes Kapitel.

Von der dritten Etage konnte man auf die neu errichtete Markthalle sehen. Sonst hatte das Haus Nr. 47 nichts vor den übrigen Mietshäusern voraus, die, hoch, grau und einförmig, sich bis zur Potsdamerstraße erstreckten, von wo gedämpft das Klingeln der Pferdebahnen herüberklang. Ueberhaupt atmete die Straße mit ihrem glatten, wenig befahrenen Asphalt, dem sauberen Trottoir, auf dem nur gut gekleidete Menschen vereinzelt hin und her spazierten, den wenigen in den Keller hinabgeflohenen Geschäften eine gewisse geheimrätliche Ruhe. Auch Nr. 47, sehr hoch, sehr ruhig, barg in seinen teppichbelegten Treppen jene staubige Stille, welche Bureaux und Ministerien auszeichnet. Sein einziger Schmuck, freilich ein merkwürdiger, war ganz unten im Treppenhause: die Ariadne aus dem Louvre, ein empörend rohes Machwerk, zerkreilt und beschmiert, mit verstümmelter Nase; daneben einige verstaubte 6 Schlingpflanzen, darüber flackerte wie zum Hohn eine häßliche, auch tags brennende Gaskrone.

Hier in der dritten Etage pflegte allfreitaglich der Klub der »schäbigen Berühmtheiten« zu tagen. Diese Bezeichnung traf nicht ganz. Denn außer längst vergessenen Tagesberühmtheiten begegnete man hier auch bekannten Namen neben ganz unbedeutenden, nie genannten Menschenkindern. Es war ein kleiner, geschlossener Kreis, und es machte jedenfalls der Begründerin, Frau Klara Linker, alle Ehre, daß der Klub oder »Salon«, wie sie ihn lieber nennen hörte, ein volles Menschenalter und manchen Wechsel des Glückes überdauert hatte.

Es war sechs Uhr nachmittags, ein grauer, verdrießlicher Novembertag – die Gaskrone über dem Gipsleib der Ariadne brannte trübe – als ein schlanker Herr im weiten, hellen Mantel die Portiersloge passierte.

Die Portiersfrau, die sonst alle kannte, die hier aus und ein gingen, konnte ihn nicht recht unterbringen, obgleich ihr die tiefe, hübsche Stimme, mit der er nach Frau Klara Linker fragte, und das etwas gelbliche, feine Gesicht mit dem schmalen, schwarzen Schnurrbart und den dunkeln tiefliegenden Augen bekannt deuchte. Es war Gert Lerden, der erst gestern von seiner großen Reise zurückgekehrt war, und dem bei einer ziellosen Wanderung durch 7 Berlin, das sich in den drei Jahren gewaltig verändert hatte, zufällig der »Salon Linker« und vergangene hübsche Tage einfielen. Wie oft war er schon als Knabe die drei Treppen hinaufgestolpert! Heute erschien ihm der Aufstieg ungewohnt, der trockene Gasgeruch drückend; und als er hinter der Entreethür deutlich das Wogen und Summen einer zahlreichen Gesellschaft vernahm, überkam ihn ganz unmotiviert ein Gefühl der Unlust, des Ekels, die lächerliche Ahnung, als ob der »Salon« irgend eine Gefahr für ihn bergen könnte. Aber empört über diese feige Angst vor dem Ungewissen, die sein klarer Kopf sonst nicht kannte, drückte er heftig auf den Knopf der elektrischen Leitung, und der schrille, zitternde Ton gellte durch den Korridor.

Madame empfing ihn ein wenig pikiert.

»Eigentlich müßte ich Ihnen böse sein, Doktor Lerden. In den drei Jahren kein Lebenszeichen! Sie haben Ihre alten Freunde schnell vergessen.«

Der Doktor küßte als Antwort galant ihre weiße, außerordentlich magere Hand und machte mit dem grauen Cylinder eine Bewegung, die andeuten sollte, daß dies keineswegs der Fall sei.

»Madame haben sich gar nicht verändert.«

»So! Auch sonst finden Sie alles beim alten: die Portiersfrau, die Ariadne, den Odeur der Mietskaserne – und jene stolze Höhe,« fügte sie ironisch 8 hinzu, »die dem Salon jetzt sogar die Aussicht auf die Markthalle sichert. Bei uns ist eben alles schlicht bürgerlich.«

Frau Klara Linker pflegte dies oft zu sagen mit ihrer scharfen, sehr accentuierten Sprache. Und vornehm war es auch keineswegs, dieses etwas längliche Empfangszimmer mit dem Mahagoniflügel in der Mitte und den zwei merkwürdigen Sofa-Arrangements in den Ecken. Im übrigen ein richtiges Frauengemach mit einer Masse kleiner Etageren, deckenbelegter Tischchen, altmodischer Nippes und roten Büchern in Goldschnitt – jene tausend Kleinigkeiten, die alle ihre hübsche, kleine Geschichte zu haben scheinen, und namentlich bei dieser Frau, die von einem berühmten Manne geliebt worden war, und wo selbst die vergilbten Eselsohren in Heines Buch der Lieder, der zerfaserte Mops im Fußkissen und die Fülle alter Noten auf dem Klavier an jene köstlichen Tage der Liebe und des Glückes gemahnen. Ihn selbst, den großen Mann, hatte man inmitten einer pedantisch geordneten Kollektion winzig kleiner Oelbilder aufgehängt, und sein Imperatorenkopf mit dem flammenden Auge und der wohl gekräuselten Mirabeaumähne schaute düster auf dies Trümmerfeld von Erinnerungen herab.

»Sie bleiben natürlich zu Abend. Der ›Salon‹ ist vollzählig. Wir haben sogar vornehmen Besuch: 9 einen veritabeln Grafen!« Ueber Lerdens Gesicht ging ein feines Lächeln, das sich schnell in seinen langen Schnurrbartspitzen verlor. Sie hielt inne. »Und eine Frau, eine Frau, wie ich sie nicht liebe. Aber Sie werden ja sehen. Schellagg liest im Berliner Zimmer sein Neuestes vor – sehr wirkungsvoll, nackt, nichts für Kinder. Wir dürfen nicht stören; er ist so nervös. Aber erzählen Sie von Ihren Reisen!«

Doktor Lerden hatte sich auf einem knarrenden Faulenzer niedergelassen und bestand das Examen über seine Erlebnisse, die ihm kurz und scharf, wie einem Quartaner französische Vokabeln, abgefragt wurden, ziemlich gut.

»Ach, mein Lac Léman! Wie sich das geändert haben muß! – Vor dreißig Jahren und mit ihm –« Sie machte eine Bewegung nach dem fast lebensgroßen Bilde ihres berühmten Freundes.

Ueberhaupt eine seltsame Frau . . . Lerden fiel es heute besonders auf. Wie sie ihn bezaubert haben mochte, ihren berühmten Freund? Diese skelettartig magere Figur mit den unschönen, eckigen Bewegungen – der Kopf klein, mit zu scharf geschnittenem Profil – ein Paar Augen, so fahl und verblaßt wie das aschblonde, glatt über die Schläfen gestrichene Haar. Und dann der Mund, sehr groß, mit sinnlichen, blassen Lippen und falschen Zähnen – alles ohne 10 Reiz. Das einzig Hübsche, die hohe, faltenlose Stirn . . . Ja, wie? Leute, die sie vor dreißig Jahren gekannt, versicherten, sie habe damals schon so alt ausgesehen, wie sie jetzt jung aussah.

Die Getrennte, ein Mittelding zwischen Mamsell und Dienstmädchen, brachte noch eine Lampe und stellte sie dicht vor Lerden auf den Tisch. Frau Klara Linker sah ihren Gast scharf an. »Wissen Sie, daß Sie beinahe alt geworden sind während der drei Jahre, Doktor Lerden?«

Er lächelte und strich mit seiner wohlgepflegten Aristokratenhand über den schon ergrauenden Scheitel. »Es liegt bei uns in der Familie, Madame . . . vielleicht habe ich auch etwas rasch gelebt.«

»Nein, nein . . . nicht das!« unterbrach sie ihn kurz. »Es liegt in Ihren Augen, in Ihrer Sprache . . . Nerven oder –«

In seinem Gesichte stieg eine leichte Röte auf, und er wiederholte mechanisch: »Oder?«

»Oder . . . Sie haben eine bittere Erfahrung gemacht.«

»Nicht, daß ich wüßte . . .« Aber die roten Flecken auf seinen Backenknochen straften ihn Lügen.

Sie schwiegen eine Weile. Vor ihrem durchdringenden Blicke hatte er die Augen niedergeschlagen.

»Uebrigens, Madame, in Ihrer Familie befindet sich alles wohl? Ich vergaß . . .«

11 Sie lachte. »Sehr wohl! Ich bin auch Schwiegermutter geworden!«

»Ach! Ihr Herr Sohn? Verheiratet?«

»Nein! Nicht er!« Sie machte eine Pause und preßte die Lippen zusammen. »Nicht er . . . aber Lo.«

Doktor Lerden machte eine Bewegung, als wenn er aufspringen wollte. Dann lächelte er sarkastisch. »Lo? Verzeihen Sie, Madame, aber ich hätte nicht geglaubt . . .«

»Daß sich einer finden würde,« ergänzte sie ruhig. »Ich auch nicht. Aber sie ist recht glücklich, obgleich er einen guten Kopf kleiner ist – und er ist kein kleiner Mann.«

Unwillkürlich mußte er wieder lächeln. Der Gedanke war auch zu kraß! Charlotte Linker . . .!

Sie kannten sich sehr gut; sie hatten Tanzstunde zusammen gehabt. Er hatte ihr den ersten Kuß gegeben auf ihre roten Lippen; er fühlte es heute noch, wie ihre dunkeln Augen sich in die seinen gebohrt hatten, während der Duft ihres blauschwarzen Lockenhaares ihn berauschte. Tempi passati . . . Dann waren sie beide ihre eignen Wege gegangen. Sie war groß geworden, zum Erschrecken groß, daß die Leute auf der Straße ihr nachsahen. Er hatte keinen zweiten Kuß verlangt, aber gelacht und gewitzelt haben sie über den ersten; sie in ihrer liebenswürdigen Bongarçonmanier, er mit der Blasiertheit 12 eines angehenden Weltmannes. Aber daß es ein zweiter wagen würde – Nimmermehr! . . . eine Würde, eine Höhe! . . . und jetzt sogar verheiratet . . . Und der Mann wagte es, ohne Stelzen neben ihr zu gehen!

»Freilich eine etwas gemachte Geschichte, eine Verlobung in der Leihbibliothek bei einem Gespräch über Daudets ›Unsterblichen‹ . . .« Sie zuckte gleichmütig die Achseln. »Sie wollte einen Mann, er suchte eine Frau, und gute Freunde haben sie da zusammengekuppelt. Ich habe meine Hand nicht im Spiele gehabt; ich hasse Kuppeleien . . . und außerdem . . .« sie sah nachdenklich vor sich hin . . . »ich weiß nicht, ob gerade meine Kinder zur Ehe passen.«

»Aber Madame!«

»Keine Phrase, mein Lieber! Ich kenne uns besser!« sagte sie brüsk. »Wir taugen nicht zur Liebe . . .« Sie drehte sich rasch um nach einem großen Oelbild. Es stand in einer Ecke auf einer Staffelei, halb von einer Plüschdraperie bedeckt. »Wozu Verstecken spielen? Ich habe sie einander gegenübergebracht, ihn, meinen Mann – und ihn, meinen einzigen Freund! Man nennt so etwas schamlos . . . Warum nicht das härteste Wort? Aber ich will mein Glück und mein Unglück stets vor Augen haben!«

13 Doktor Lerden sah lange auf das Bild . . . ein hübscher, blonder Männerkopf, blauäugig, einen unentschlossenen Zug um den gutmütigen Mund. Er kannte die Geschichte und kannte sie auch nicht. Es war ihnen allen ein Rätsel gewesen, wie sie zusammengekommen waren: dieser Typus eines bürgerlichen Lebemannes und schwachen Herzens und sie, klug, reizlos, unerbittlich . . . eigentlich der Mann in dieser unglückseligen Ehe. Ihre Blicke streiften sich, aber ihr blaßblaues Auge sagte ihm nichts.

»Haben Sie keine Lust, zu heiraten, Doktor Lerden?«

Seine Stirn krauste sich. »Nie!«

»Und warum nicht?« fragte sie erstaunt. »Sie sind jung« – er machte eine dankende Kopfbewegung – »reich . . .«

»Eben um dieses letzten Punktes willen werde ich nicht heiraten. Wissen Sie, Madame, daß ich die Reise eigentlich unternommen habe, weil man mich partout unter die Haube bringen wollte? Diese Jagd der Mütter ist nur im Anfang amüsant. Aber dann . . . Fi donc! . . . als ob man in den Zeiten des Weiberkaufes lebte! Man soll alles bezahlen . . . die Nase, den Mund, die Figur, vom Teint und den Zähnen gar nicht zu sprechen; denn der Teufel weiß, was bei diesen süßen Geschöpfen nicht alles Kunst ist . . .«

»Doktor Lerden?« warf sie vorwurfsvoll ein.

14 Er aber fuhr mit einem verächtlichen Zucken seiner schmalen Lippen fort: »Wenn ein Mann seine Freiheit verkauft . . . eh bien! . . . aber noch zuzahlen zu müssen, bloß für die Gewißheit, desto sicherer betrogen zu werden! . . . Ja, betrogen zu werden und in des Wortes häßlichster Bedeutung.«

Sie lächelte. »Also aus Erfahrung?«

»Meinetwegen aus Erfahrung . . . und da wir nun einmal bei einem heikeln Punkte sind, warum soll man nicht lieber Betrüger sein als Betrogener? – Ich habe bis dato noch von keinem Manne gehört, der ehrlos wurde, weil er einen dritten mit dessen Frau betrog . . . im Gegenteil! . . . es gehört Mut und Klugheit dazu – und die ehrt man immer . . . . Uebrigens laufen in neunundneunzig Fällen die Herren wohlgemut mit ihren Hörnern umher, und es ist gar kein Eklat nötig. Und wenn,« er zuckte die Achseln, »dann wird die Frau einfach über Bord geworfen von beiden. Das ist so Gesellschaftsmoral!«

Sie dachte nach. Was hatte er nur, dieser tadellose Gesellschaftsmensch, den sie schon als Knaben gern gehabt hatte wegen seines feinen, hübschen Gesichtes und seiner Million – er, der immer glatt, kühl, verständig, niemals mit seinen Gefühlen oder Worten Mißbrauch getrieben hatte? Und jetzt so scharf! Natürlich handelte es sich dabei um eine ganz bestimmte Frau . . . aber welche? Aus ihrer 15 Bekanntschaft? Ah bah! Und während er vor ihr saß, den Mund zusammengekniffen, in das Tischdeckmuster vertieft, ging sie alle ihre Bekannten durch; es waren hübsche Mädchen darunter, liebenswürdige Schafsnaturen mit guten Anlagen zur Mutter und Hausfrau, aber keine, die diesem Liebling der Gesellschaft nicht sofort an den Hals geflogen wäre.

Er mochte ahnen, was der kluge, kleine Kopf seines Gegenüber kalkulierte; aber offenbar sehr sicher, daß niemand sein Geheimnis erraten könnte, fand er schnell seine ironische Ruhe wieder, und als aus dem Berliner Zimmer ein gedämpftes Klatschen und einige Ausrufe herüberklangen, sagte er mit unmerklichem Spott: »Der ›Salon‹ hat gesprochen; nur die Gratulationscour bleibt noch übrig.«

Die Gesellschaft strömte in den Salon. »Aber Lerden, Herr Doktor Lerden . . . Sie wieder hier!« Man hatte ihn nicht vergessen. »Na, Sie mögen auch nett erzählen können!« Er war im Nu umdrängt. Und während sich die Hände von einem halben Dutzend töchtergesegneten Vätern verlangend nach ihm ausstreckten, hatte er nicht übel Lust, aufzulachen und in aller Freundlichkeit zu sagen: »Geben Sie sich keine Mühe, ich bin meiner sehr sicher; das Wiedersehen gilt nicht mir, sondern der Million.« Und weil er dies nur zu gut wußte, dieser vollendete Cyniker, zeigte auch sein Gesicht jenen ironisch-weltmännischen 16 Ausdruck, der zu seiner schlanken Figur und seiner reservierten Höflichkeit so gut paßte. Man war bezaubert, und namentlich die paar Frauen, die zum »Salon« gehörten, konnten nicht oft genug wiederholen: »Wie vornehm er wieder aussieht und wie reich er ist!« Auch Frau Klara Linker sah das mit Genugthuung. Das war der wirkliche Lerden, einer von den wenigen Menschen, dem niemand die Gedanken von der Stirn ablesen konnte, so himmelweit verschieden von jenem andern Lerden, der ihr vor fünf Minuten gegenüber gesessen hatte, eine breite, tiefe Falte in der Stirn, mit zusammengepreßten Lippen und vor Erregung vibrierender Stimme. Er war ihr interessant genug, dieser andre, daß sie eine Weile nachdenklich auf den blanken Schädel des großen Schellagg starrte, der näselnd und selbstgefällig den Schluß seines »Neuesten« ihr kommentierte.

Und gerade in diesem Augenblicke preßte Lerden sein Taschentuch in der geballten Faust zusammen, und seine Augen flammten in einem feindseligen Glanze – nur einen Moment. Die beiden »Gäste« traten aus dem Berliner Zimmer, wo sie noch eine Weile disputiert hatten, in den Salon: der Graf und die Professorin. Frau Klara Linker stellte vor und war nicht wenig erstaunt, daß Lerden mit der Frau eine kurze Bekanntschaft aus dem Süden erneuerte.

17 »Also hier sehen wir uns wieder, Madame . . . ich hätte nicht zu hoffen gewagt . . .« Ein gezwungenes Lächeln spielte um seine feine Nase. Sie hielt ihre großen, dunkelblauen Augen fest auf ihn gerichtet, und über das weiche Oval ihres hübschen, rosigen Gesichtchens legte sich plötzlich ein Ausdruck von Herbheit und Kälte.

»Es war doch schön damals im Süden,« fuhr er fort, »die köstlichen Abende in Sorrent auf der weit vorgebauten Terrasse der Sirene – unten die Orangengärten, die goldenen Früchte im bewegungslosen Laube schimmernd, duftend, geheimnisvoll. Und wir drei Deutschen allein, schweigend, träumerisch, die halb geleerten Gläser vor uns – zu unsern Füßen die silbernglitzernde Fläche des Golfes, dessen kleine Wellen murmelnd auf den Sand rollten – vor uns grau, zackig der Fels von Capri mit einem blinzelnden Lichtschimmer von der Villa der Timber . . . Erinnern Sie sich, Madame?«

Aber aus ihren kurzen, einsilbigen Antworten sprach nur ein widerwilliges Erinnern, und Klara Linker, die mit dem großen Schellagg dabei stand, kamen die beiden vor wie ein Paar hübsche, langweilige Modetouristen, die als Angedenken höchstens eine hübsche Phrase mitnehmen. Sie machte eine verächtliche Bewegung mit der Hand, die vor allem der Frau galt – einem von den ihr verhaßten 18 weichen Gesichtern mit Madonnenaugen und jenem Goldton des Blondhaars, wie man ihn nur bei Tizian findet.

Sie wandte sich rasch zu Schellagg, der durch seine großen, glänzenden Brillengläser den weißen Nacken der Professorin wohlwollend prüfte; und ohne ihre scharfe Stimme irgendwie zu mäßigen, sagte sie mit einem kalten Blitzen ihrer farblosen Augen: »Ja, dick, weiß und dumm, das sind die Frauen zum Lieben!«

Die »Getrennte« öffnete die Flügelthüren zum Eßsaal. Man ging zu Tisch. Wenn Gert Lerden unter den mächtigen Eindrücken seiner Reise zuweilen an etwas aus dem »Salon Linker« gedacht hatte, so war es dieses Eßzimmer. Groß, hoch, mit reichvergoldetem Stuck und schönen, farbenfrohen Gemälden an den Wänden, war es einzige, kostbare Reminiscenz an den wirklichen »Salon«. Die Zeiten lagen weit zurück; die Herrlichkeit war etwas schäbig geworden, wie der »Salon« selbst.

Aber dennoch, trotz der nachgedunkelten Bilder und dem gelblichen Glanz auf den weiß lackierten Polsterstühlen bot er einen so grellen Gegensatz zu der nüchternen Stillosigkeit der andern Gemächer, daß die lärmende und disputierende Gesellschaft unwillkürlich verstummte, und über Lerden, der jedes Stück dieser Einrichtung kannte – von der 19 großen Kopie der »himmlischen und irdischen Liebe« Tizians mit dem leuchtenden Fleischton der Frauenglieder in ihrer keuschen Nacktheit und dem wonnigen über die Landschaft zitternden Lufthauch bis zu dem durchsichtig gewordenen Damast der Gedecke und dem schweren Silber, in dem, verputzt und abgerieben, doch noch die Initialen der beiden Menschen sichtbar waren, die sich zuletzt so bitter gehaßt –, kam ein so eigentümliches Gefühl, daß er nicht einmal den großen Schellagg belächeln konnte, der, angeregt durch den Anblick des köstlichen Frauennackens von vorhin, begierig den Duft des Rehziemers mit seiner dicken, historischen Nase einsog. Es war zurückgegangen mit dem »Salon«. Sonst war er eine Stätte der kulinarischen Genüsse gewesen mit den feinen Delikatessen der Saison und alten, feurigen Rheinweinen; jetzt stand vor jedem Couvert eine Flasche Dalmatiner Wein mit leuchtender Etikette. Aber der große Schellagg pflegte ihn nur tropfenweise und mit Wasser verdünnt zu sich zu nehmen, während seine Nasenflügel sich verächtlich der etwas herben Blume verschlossen.

Man hatte sich an der Tafel niedergesetzt, zwanglos, wie jeder wollte. Lerden saß ganz unten neben dem Grafen, einem passabel hübschen, blonden Menschen, der nach seiner Ueberzeugung etwas ausgegessen haben mußte; denn die schüchtern verbindliche 20 Art, die bescheidene Sprachweise paßten wenig zu dem stolzen Namen Silowstrem, so daß Lerden interessiert und skeptisch das unregelmäßige Profil seines Nebenmannes betrachtete. Was that ein Graf in dieser Gesellschaft? Wußte er vielleicht nicht, welch politisch anrüchige Figur der große Freund von Frau Klara Linker gewesen war? . . . Jedenfalls ein Zigeuner wie die übrige Gesellschaft, dieser Graf . . .

Wenn der »große Freund« ihn nur hätte sehen können, diesen »Salon« von heute mit seinen alt gewordenen, schäbigen Berühmtheiten und seinem verblaßten Liberalismus – ein verschwommenes Zerrbild jenes schönen »Einst«, wo die Ideen noch jung gewesen waren und glänzend, wie die leuchtend-schönen Schultern der Frauen. Das war vorüber! Und wie Lerden mit einem kritischen Blicke über die lange, dicht besetzte Tafel sah, kamen sie ihm allesamt vor wie eine zusammengewürfelte Zigeunerbande, die richtigen Zigeuner der Gesellschaft, vor denen man die Taschen ebenso vorsichtig verschließen muß wie die Herzen; aber unähnlich jenen unsteten Kindern des Waldes und der Freiheit, die in ihren braunen Rassegesichtern und bunten Lumpen doch einen wirklichen Charakter und eine wirkliche Eigenart zeigen statt jener erborgten oder vom Leben aufgezwungenen dieser Zigeuner des Salons.

Ganz oben an der Tafel thronte der große 21 Schellagg, der Held der Phrase – ein Mann, der nie duldete, daß man über etwas andres sprach als seine Werke, und mit seinem unvermeidlichen: »Wie finden Sie den Charakter des ›Fels?‹«, oder »das ist das Geheimnis wirklicher Originale!« selbst seinen Verehrern unausstehlich wurde. Als armer, unbekannter Litterat hatte er einen merkwürdigen Gustus auf Tyrannenhälse gehabt; aber mit dem Ruhme und den Honoraren war er mählich selber ein Aristokrat geworden, der mit Behagen seinen Fasan verspeiste und nur inmitten des größten Luxus seine sozialen Romane schrieb – weit schlechter als seine »Erstlingskinder«, zu denen ihn der knurrende Magen und der Kalkdunst der Dachkammer inspiriert hatte. Er war der Reklameheilige des »Salons«, um dessen kantigen Schädel immer eine Wolke von selbstgestreutem Weihrauch schwebte. Rot und wohlgenährt saß er zwischen seiner Suite von Journalisten und der Hausfrau, die seinen Stuhl ehrfürchtig wie den Dreifuß einer Pythia umringten, während eine Rechnungsratsfrau mit dem Kopf und der Büste einer Sichelschen Hagar sich verlangend zu dieser seltsamen Orakeljungfrau hinüberneigte. Weitab davon saßen »die Schäbigen«, der eigentliche Stamm dieser Tafel. Man sah es diesen abgeschabten schwarzen Röcken und faserigen Stulpen, die abgehungerte Körper und magere, zitterige Hände verhüllten, nicht 22 an, daß man es hier mit einstigen Tagesberühmtheiten zu thun hatte – Männer, die seit dreißig Jahren unerbittlich zu kommen pflegten, und die, nachdem sie politische oder litterarische Triumphe gefeiert hatten, zu häßlichen Schatten ihrer glaubensfrohen Jugend verdorrt waren. Sie sprachen wenig – nur von alten Zeiten – und schlugen gewaltige Breschen in den Freitagsbraten. Der große Schellagg, den sie mit dem schlechtverhehlten Neide der Armut beehrten, war recht froh, nicht neben seinen Jugendfreunden zu sitzen, den eigentlichen Kostgängern des »Salons«, die aus Opposition nur mit dem Messer aßen, und der dreißigjährigen Gastfreundschaft zum Trotz Frau Klara Linker und den »Salon« für alle Mißerfolge ihres Lebens verantwortlich machten.

Im Grunde waren es alles Abenteurer, die vom »Salon« Geld oder Ehre erhofften: oder wenn nicht – so sparte man wenigstens das Abendbrot . . . Wie es aber mit der Dankbarkeit bestellt war, davon zeugte die kleine Information, die der alte Doktor Jäger dem Grafen über den »Salon« zu teil werden ließ. Der alte, zahnlose Bursche mit emporgesträubtem grauen Haar und dem Kinn und den Augen einer Bulldogge war so recht das Urbild eines gemeinen Schmarotzers; und der Graf, etwas angewidert durch den Duft von Patzenhofer Bier und Gilka, das Parfüm der »Destille«, hörte mit Befremden diesem 23 sonderbaren Heiligen zu, wie er, seinen breiten Rücken weit über die Tafel beugend, daß der struppige Vollbart den Krystallkelch berührte, wiehernd seine Wissenschaft preisgab.

»Etwas dran an dieser Frau Klara Linker . . .? Heute so wenig wie damals! Sie müßten die Zeit des wirklichen ›Salons‹ miterlebt haben . . .! Jeden Tag offenes Haus – die besten Weine; dabei der reinste Jakobinerklub: Kein Gott, kein König!

»Was da geredet und getoastet wurde, während der Johannisberger das Blut erhitzte und der Anblick dieser schönen, stets sehr dekolletierten Frauen jedes Auge glänzen machte . . . der Hausherr mitten drinnen, immer die Hand am Weinglas! Und wenn ich das Zeug jetzt bedenke!« Er schüttelte sich.

»Dabei alles Unsinn, purer Unsinn! Kein Mensch glaubte ja, was er sagte . . . unser großer Mann zuletzt! Aber zu reden verstand er! Wie er so dastand mit seinem scharfen, geistreichen Filougesicht und mit seiner mächtigen Stimme die Phrase von der wahren Moral und der wahren Freiheit in das Geklirr der Gabeln und Gläser hineindonnerte! Und dann . . . das Händeklatschen, Hochrufen, Drücken . . .

»Ja, weiß Gott, von der wahren Freiheit und der wahren Moral hatten sie den rechten Begriff: Monsieur, Madame und der große Freund!

»Mein alter, guter Kurt Linker . . . welch ein 24 liebenswürdiger Lump! Das Hemd hätte er für jeden vom Leibe gezogen . . . und ich will die Male nicht zählen, wo er pumpte, immer in seiner generösen Manier: ›Du brauchst einen Louisdor, hier hast du zwei!‹ . . . und keinen Heller wiederbekommen!

»Aber von ehelicher Treue keine Spur . . . ein hübsches Bein, ein nettes Gazeröckchen . . . weg war er! Dabei kapriziös wie ein Frauenzimmer . . . Erst setzte er Himmel und Hölle in Bewegung, um einem feschen Modeweibchen die rosige Pfote drücken zu dürfen; acht Tage lang kein andrer Gedanke . . . Notabene, er war ein Mann, der das Handwerk verstand!

»Und dann . . . das Rendezvous ist verabredet, das Etui mit dem Brillantarmband klappert in seiner Tasche . . . Keine Lust! ›Jäger, gehst du mit, egal wohin? . . .‹

»Hat plötzlich einen Gustus auf die Gasse bekommen, mein guter Kurt! – – – Ja, das waren Zeiten, wenn wir so inkognito durch alle Kellerlokale Berlins bummelten!« Der alte Zigeuner machte ein trübseliges Gesicht.

»Und die,« er zeigte ganz ungeniert nach der Spitze der Tafel, wo um die unbewegliche Gestalt des großen Schellagg die Debatte tobte: . . . »Brillantfein abgetönt – Keine Idee! – Abgeschrieben – Ein netter Realismus – Poesie des Rinnsteins . . .« 25 Dazwischen die näselnde Stimme des Salonheiligen: »Ich habe in der Gestalt des ›Fels‹ ein für allemal den Typus eines wahrhaft modernen Charakters gegeben.« Mit ihren erhitzten blauen oder roten Köpfen, ihren rollenden Augen und den abgehackten Phrasen ihres Rotwelsch erinnerten sie an einen erregten, kreischenden Papageienschwarm, und Schellagg, ernst und feierlich, nahm sich zwischen ihnen aus wie ein alter, kahlköpfiger Affe, den sich die andern, thöricht genug! zu ihrem Richter auserkoren haben. Doktor Jäger hörte gespannt zu; es handelte sich offenbar um jemand aus der Gesellschaft.

»Und die« . . . wiederholte Lerden spitz. »Sie bleiben dem Herrn Grafen die Hauptsache schuldig.«

». . . alte, vertrocknete Ziege dort oben, war natürlich nicht grade die Frau, ihn auf andre Wege zu bringen. Ich bezweifle, ob sie es je versucht hat. Wozu auch? Sie hatte ihren ›großen Mann‹. Ein Bund der Geister! . . . versteht sich.« Er lachte gemein.

»Im übrigen wußte mein Kurt sehr genau, wie die Sachen standen. Und wenn sich die beiden Herren auch zehnmal am Tage treuherzig die Hände drückten, insgeheim dachte jeder: ›Du Lump!‹ und spuckte aus.«

»Und Sie glauben wirklich, daß auch die Frau . . .« warf der Graf ein, den die Geschichte und das scharfe 26 Streiflicht, das sie über die Salonverhältnisse warf, zu interessieren begann.

». . . sehr genau orientiert war. Hören Sie!

»Ich war eines Nachmittags allein bei Frau Klara Linker. Der ›große Mann‹ war eben gegangen; der Rauch seiner Zigarette schwebte noch um die Portieren.

»Frau Klaras eigentlich immer blasses Gesicht war auffallend rosig angehaucht; sie saß vor seinem großen Oelbild, das er ihr vor kurzem geschenkt hatte. Ich kam offenbar zur Unzeit, aber ich blieb. Wir wechselten kaum zwei Worte; sie ließ sich in ihrem Anschauungsunterricht absolut nicht stören. ›Er hat einen verdammt schlechten Geschmack, dein großer Mann,‹ dachte ich.

»Im Augenblicke wurde die Flurglocke sehr scharf gezogen. Jemand stürzte hinein. Kurt Linker! – – – Aber wie er aussah! . . . das Vorhemd zerknittert, große Schweißtropfen auf der Stirn; eine Haarsträhne fiel ihm bis in die Augen – das Gesicht war ganz grau. Teufel, sah er alt aus! Ich will aufstehen, er aber an mir vorbei: ›Klara, du mußt mir deine dreißigtausend Thaler geben! . . . Es ist die einzige Rettung . . . Ach, wenn du wüßtest!‹ Er sagte das mit einer ganz rauhen, erstickten Stimme. Und Frau Klara Linker erhebt sich ruhig, sehr ruhig: ›Ich weiß alles, mein Lieber; aber mein 27 Geld gebe ich nicht!‹ – ›Dein letztes Wort?‹ – ›Mein letztes!‹ Er schleudert ihr irgend eine unflätige Redensart ins Gesicht! Sie wurde nicht einmal rot. Erst in diesem Augenblick sieht mich Kurt Linker. ›Ah, du! Na, auch gut!‹ Und in einem Wutanfalle reißt er das Bild von der Staffelei und schmeißt es auf die Erde. ›Da lieg, du Hund!‹

»Frau Klara wurde ganz blaß, wir hatten beide dieselbe Befürchtung, er könnte sie schlagen. Er aber spuckte ihr ordentlich eine ›Dirne!‹ ins Gesicht. Das regte sie aber gar nicht besonders auf, und indem sie das Bild vom Boden aufhob und die abgeblätterte Vergoldung besah, sagte sie mit ihrer blechernen Stimme: ›Wir sind fertig! Aber dies zur Notiz, daß ich dich und deine saubern Wege gekannt habe vom ersten Tage unsrer Ehe!‹ – Aber das putzigste dabei ist doch, daß der große Freund plötzlich nach Italien reisen mußte und den ›Salon‹ nie wieder gesehen hat. Kurt ist schon lange tot . . . Sie hat einen guten Magen, die Dame!«

Der alte Zigeuner erzählte gut – er, der vom »Salon« nur Gutes gehabt hatte, von den Zeiten an, wo er im blauen Frack mit gelben Knöpfen, in eine hohe Halsbinde eingezwängt, ein etwas eckiger Elegant, alle Orgien getreulich und ohne Skrupel mitgemacht hatte, bis zu diesem Abend, wo er, das vergilbte Vorhemd mit Schnupftabak bestreut, ekelhaft 28 schmatzend ein unerbittliches Verdammungsurteil aussprach.

Lerden schüttelte sich vor Ekel. Er kannte die Geschichte zur Genüge. – Welch empörender Undank! Unten am Tisch hatte man sich dicht zusammengedrängt, die »Schäbigen«, ein paar geschminkte Frauen, alle aufs höchste amüsiert und befriedigt durch dieses Histörchen, was kaum einem von ihnen neu war. Wenn Frau Linker nur solche Freunde hatte! Und plötzlich einer der Launen seines Reichtums nachgebend, fragte er brüsk: »Und wenn das nun alles gelogen wäre? . . .« Der Doktor Jäger rollte sich zusammen wie ein Stachelschwein; er wollte nichts hören. Die andern sahen schweigend, mit einem verlegenen Lächeln auf Lerden; auch der Graf blieb stumm. Offenbar diesen Verhältnissen zu fremd, begnügte er sich damit, rot zu werden und mit dem Messerbänkchen Figuren in den Damast zu zeichnen.

›Es lohnt sich nicht der Mühe!‹ dachte Lerden, und sein Blick ruhte einen Moment – ein wirkliches Ausruhen – auf dem feingeschnittenen, nachdenklich herabgebeugten Kopf der einzigen in dieser Gesellschaft, die keine Zigeunerin war. Er hatte es den ganzen Abend vermieden, die Professorin anzusehen, und der Graf, der verstohlen das scharfe Gesicht des Millionärs studierte, war erstaunt, in dieser 29 blasierten Weltmannsphysiognomie einen Zug so eigentümlichen Interesses zu entdecken, daß er verborgene Beziehungen zwischen den beiden ahnte. Es wurde ihm zur Gewißheit, als die Professorin den Kopf hob und, während der Eislöffel in ihrer Hand klirrte, plötzlich von einer Glutwelle wie übergossen war.

Lerden empfahl sich heute sehr früh. Die Reise, die ungewohnte Geselligkeit . . . Madame habe recht: Nerven oder . . .

Er log. Die letzten Gäste hatten längst den »Salon« verlassen, als er noch nachdenklich bei einer Flasche Chianti in der »Roma« saß. 30

 


 


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