Johannes Richard zur Megede
Quitt!
Johannes Richard zur Megede

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtundzwanzigstes Kapitel.

in Herrenhause wurde Marie wie eine »Vermißte« empfangen. »Comtesse« . . . »Gräfin« . . . »Marie« – »Endlich!« Der Besuch war zahlreich, und man erwartete das Geburtstagskind schon seit Stunden.

»Und Arthur?« fragte der Graf mit leicht gerunzelter Stirn.

»Ach ja, Papa . . . ich vergaß . . . er bedauert sehr . . . fühlte sich schließlich etwas unwohl. Schlimm ist's nicht. Wir sind so lange spazieren gegangen!« Sie log ruhig, ohne mit der Wimper zu zucken, daß sie sich über sich selbst wunderte.

»Na, bis Lorschen hätte es mit dem Unwohlsein doch wohl langen können,« schloß der Graf leicht pikiert. Doch Frau Domat, die Intimste, sah mit wohlwollendem Lächeln auf den Kreis der weniger Intimen: »Ja, so lange geht die wahre, vornehme Liebe spazieren!« sagten ihre grünen Augen. Und wer die Comtesse heute sah, die Bewegungen so geschmeidig, die Wangen gerötet, die Augen in tiefer Glut leuchtend, der mochte wohl insgeheim den glücklichen Gampesch beneiden, dem das sonst so launige Schicksal dieses kostbar gefaßte Juwel gönnte. Ja, Comtesse Marie spielte ihre Rolle gut – wenn's eine Rolle war! Sie bewegte sich mit der naiven 245 Grazie der Glücklichen, die das Lächeln reizend, das Witzwort liebenswürdig macht. Und niemand fragte sich: Warum diese köstliche Lebensfrische, diese blühende Jugend gerade in der Stunde, wo er nicht da ist? Marie selbst begriff kaum, woher sie diese unheimliche Elasticität nahm an einem Tage, der an wilder Erregung und dumpfer Seelenqual ihr das Unmögliche zumutete.

Es war nicht die tückische Glut des Fiebers, es war das Lebenselixir des Glückes, das sie jung gemacht hatte und frei. Wohl lag ein Schleier über ihren Augen – aber ein rosiger. Sie glitt durch die hohen, düsteren Zimmer und empfand nicht ihre dürftige Vornehmheit; sie sah die Menschen und fühlte nicht ihre Mittelmäßigkeit. Sie saß auf dem Balkon eines Zauberschlosses, den Rosendüfte aus schwebenden Wundergärten umwehen. Tief unten hastet die Menschheit, ein drolliges Ameisengewimmel. Sie nimmt sich seltsam aus von der Höhe des Glücks, diese Menschheit. Sie ist bunt und farblos zugleich. Sie rennt und hat kein sichtbares Ziel; die Individuen heben sich nicht heraus. Die schönen und die häßlichen, die jungen und die alten Gesichter verschwimmen in einem ungewissen Dunst. Das Ganze amüsiert uns, der einzelne sagt uns nichts. Höchstens wenn ein ganz seltsames Zwergungetüm vorüberrollt, denkt man daran, daß diese Ameisenwelt doch wahrscheinlich aus sehr verschiedenen Ameisen bestehen muß – und wenn ein Krüppel daherwankt, fragt man sich: Giebt's denn auch in dieser stumpfen Masse Glück und Unglück, Freude und Qual? Denn der Brodem der Tiefe dringt nicht zu den Zinnen der Zauberburg. Der Egoismus des Glücks ist grausig in seiner Naivität. So glitt auch an Marie 246 heute diese Gesellschaft vorbei wie die wechselnden Bilder eines Kaleidoskops – die Glasstückchen klappern, die Arabesken formen sich; jedes Bild ist hübsch, und jedes geht spurlos an dem Geiste vorüber.

Dennoch gab es zwei Gestalten, die sie gern mied, weil sie sich scharf gegen die Allgemeinheit abhoben. Ihr Vater, dessen forschenden Blick sie zuweilen ungemütlich auf Haar und Gesicht prickeln fühlte, und Prinz Lack, der gegen alle Verabredung nicht in Lack erschienen war und sich auch dementsprechend benahm. Er war unausstehlich. Er erzählte eine Geschichte von einem Mann mit einer gebrochenen Nase, beschrieb die Verunstaltung aufs genaueste und erzeugte peinliches Schweigen, weil die Nase von Frau Domat gar nicht zu verkennen war. Er unterhielt sich im Flüsterton mit der alten Baronin Walen, verschmähte das Hörrohr und entlockte der Unglücklichen die komischsten Gesichtsverzerrungen, weil sie doch nicht zugeben wollte, daß sie keinen Laut verstand. Als Frau Sondeck sich etwas eingehender mit der Ehre einer Nächsten beschäftigte, mahnte er freundlich: »Der Bär kommt, gnädige Frau!« so daß die Dame denn doch zornig errötend sagen mußte: »Ich verstehe Sie nicht, Herr v. Natzfeld.« Die jungen Damen, die sich viel von ihm versprochen hatten, sah er überhaupt nicht. Und als nach Tisch im Rauchzimmer sich das Gespräch auf die Landwirtschaft gemütlich verbreitete und jemand angesichts der Notlage schüchtern vorschlug, die etwas vernachlässigte Schafzucht wieder aufzunehmen, meinte Hasso bissig: »I was! Ich dächte eigentlich, Schafe hätten wir schon zu viel.« Auch der Comtesse gratulierte er nur ganz flüchtig. Loja erwähnte er mit keinem Wort. Zufällig wurde einmal der Name 247 des Freiherrn genannt; als Antwort stieß er den Rauch seiner Zigarette in die Luft und trommelte mit den Fingern auf einem Sektglase den Dessauermarsch.

Es war spät geworden, und nur noch einige Nachzügler waren zurückgeblieben. Marie fühlte die nahende Abspannung. ›Einen Augenblick allein, das macht mich wieder frisch.‹ Sie schritt rasch durch die lange Zimmerflucht. Die Lichter brannten niedrig, und mürrische Verlassenheit brütete über den alten Räumen. Die Comtesse wollte in ihr Boudoir, wo Kaminfeuer weiches Licht auf die behagliche Einrichtung warf. Da schrak sie vor einem riesigen Schattenriß an der Wand zusammen. Hasso saß bereits in einem Fauteuil und sah in die Flamme.

»Was machst du hier?« fragte sie verwundert.

Er drehte sich um, wenig erfreut über die Störung. »Ich befinde mich in einer vorzüglichen Gesellschaft.«

»Das heißt allein. Sieh mal, das war mein Wunsch auch. Ich gehe ins Kabinett nebenan, da haben wir beide unsern Willen. Wünsche wohl zu träumen.«

»Gleichfalls, Reichsgräfin.« Dabei erhob er sich aber mit einem lauernden Ausdruck in den Augen. »Dein Parfüm ist doch immer noch weißer Flieder, Marie?«

»Gewiß. Wieso?«

Natzfeld räusperte sich und trat in den Lichtkreis der Hängelampe über dem Geburtstagstisch . . . »Es wird dir vielleicht noch schleierhaft ein gewisser Freiherr v. Loja erinnerlich sein . . . widerwärtiges Subjekt . . . Aufwiegler . . .«

248 »Allerdings, Hasso.« Aber sie hatte Mühe, ruhig zu bleiben.

»Der Kerl muß in Lorschen umgehen! Denke dir, Cousinchen, nach Tisch bin ich mit der schönen Anna im Klavierzimmer zusammen. Auf dem Eckdiwan liegt ein weißes Taschentuch. Die Doerstedt ist ordnungsliebend und hebt's auf.« – Hasso sah der Comtesse scharf ins Gesicht – »Und denke dir, es war ein Taschentuch von diesem Loja mit einem ganz leichten Fliedergeruch! Ich weiß positiv, daß er kein Parfüm liebt und heute morgen um sieben Uhr abgefahren ist. Wo kommt der Fliedergeruch her? Mein verräucherter Gesichtserker wäre natürlich niemals auf irgend welche Gedanken gekommen, aber die schöne Anna hob gleich die klassische Nase und sagte: ›Ach, das ist ja Maries Parfüm.‹«

Die Comtesse starrte Prinz Lack an. »Ein Taschentuch? . . . Die Anna hat's gefunden, sagst du? . . .«

»Ah! – ah so! . . . Es ist ja recht niedlich,« spöttelte er, als wenn ihm blitzartig das Verständnis aufzuckte. »Mir wirft die Frau Gräfin die ›Volte‹ vor und hat selbst eine unrechtmäßige Sammlung fremder Herrentaschentücher.«

»Mach keinen Unsinn, Hasso!« drängte sie, »die Anna hat's doch nicht gefunden?«

»Kennst du die wunderschöne Stelle aus dem Taine? Ein Marquis überrascht seine Frau, als sie ein Prinz von Geblüt küßt. Er ist ein Kavalier, zieht sich diskret zurück und sagt nachher nur zu ihr, warnend: ›Madame, seien Sie in Zukunft vorsichtiger! Wie leicht hätte Sie ein andrer als ich überraschen können.‹« Mit diesen Worten zog Hasso das Taschentuch aus dem Rock . . . »Ich war, Gott 249 sei Dank, allein der glückliche Finder.« Da verstand sie, daß sie in eine Falle gegangen. Sie wollte wieder heraus. Er aber ließ sie nicht. »Wie bist du zu dem Taschentuch gekommen, Cousine? Denn dir gehört's, das wußte ich sofort! Und darüber nachzudenken, habe ich mich hier isoliert.«

Sie sah ihm ruhig in die Augen, die jetzt das warme Leuchten ihrer eignen wiederzugeben schienen: »Du bist sein bester Freund? – ja, du bist's.«

»Man sagt's wenigstens.«

Dann trat sie rasch ganz nahe zu ihm. Er fühlte den heißen Hauch ihres Mundes und hörte die Worte: »Er ist hier – und ich bin seine Braut.«

Hasso fuhr zurück. Das Geständnis hatte er nicht erwartet. »Mädel, bist du toll?!«

»Nein, Hasso, nur sehr glücklich!«

Darauf schüttelte er den Kopf: »Ihr Komödianten, ihr! . . . Nee, Mieze, für so verständig hätte ich dich nie gehalten! . . . Darf ich dir die Hand küssen? . . . Du verdienst's! . . . Merk dir übrigens den Tag: bei so einer Nachricht fehlt selbst mir das schnoddrige mauvais mot

Er fand sich übrigens schnell wieder, der kühle Prinz Lack. »Und die Zukunft?«

»Ach, Zukunft!« wiederholte sie unwillig und wollte fort.

»Bleib lieber,« riet er, »und höre auf einen Menschen, der bei allem Interesse für euch den Gesichtswinkel nüchternen Menschenverstandes ungern vermißt. Mit dem Entloben und Verloben ist das nicht so einfach! Wie ich deinen Vater taxiere, Mieze, läßt er dich eher katholisch werden und schickt dich in ein Kloster, als daß er so eine Schwenkung gutheißt. Er läuft hinter dem Pfluge her und mißt 250 die Furche mit dem Zollstock – die Leute haben für die Pflicht sehr viel und für die Romantik sehr wenig Verständnis. Außerdem möchte ich gar nicht wissen, was der verflossene Arthur für eine Rolle zu spielen gedenkt, wenn ihm ausgerechnet Loja das Liebchen abknöpft. Wenn zwei Duzbrüder solche Todfeinde sind, daß sie sich gegenseitig kaltblütig verbrennen sehen können, dann endigt so eine Affaire gewöhnlich mit einem großen Leichenschmaus. Der Gampesch läßt dir den Loja doch nicht! ›Hab' ich sie nicht, – dann sollst du sie auch nicht haben! . . .‹ Da muß einer kein Blut in den Adern haben und keine Galle, wenn er sich's gefallen läßt, daß ihm heute mittag zwölf Uhr seine Braut den Abschied giebt und sich fünf Minuten vor dreiviertel ein Uhr mit einem andern verlobt . . . Meiner Ansicht nach ist Schweigen, Zeit gewinnen die erste Bürgerpflicht – du sagst vorläufig gar nichts. Gampesch wird sich schon melden. Und macht dir dann dein Vater die berühmte Scene, fragt: ›Wie, wo und warum?‹ – so antwortest du einfach: ›Ich mag ihn nicht mehr.‹ Und weiter läßt du dir nichts 'rauspressen. Wenn du eine ganz gute Komödiantin bist, wirst du nervenkrank. Zuerst willst du keinen Menschen sehen . . . dann gehst du in ein Bad. Der ahnungslose Vater wird mitgenommen. Dazu kann sich von ungefähr Loja einfinden – du hast die Komödie der Abneigung so lange meisterlich gespielt – spiele sie noch vier Monate weiter. Aber du mußt immer kränker werden! Die Professoren verzweifeln, der Vater wendet sich als ultima ratio an ihn‹ – und siehe da . . . die neue Kur, die meinetwegen mit Röntgenbestrahlung des Herzmuskels beginnen kann, schlägt so wunderbar an, daß du zuerst zwei, 251 dann drei, dann vier Stunden außer Bett sein kannst, bis du zuletzt aus lauter Lebensfreude gar nicht mehr ins Bett gehst. Dann schmiede das Eisen! ›Er‹ muß natürlich wieder fort, mit Dank belastet, daß er kaum krauchen kann. Die Nervenzufälle kommen wieder. Du lächelst nur müde . . . bis dein Vater endlich fragt: ›Vielleicht . . . war's die Persönlichkeit des Arztes selbst? Kind, sprich!‹ Und jetzt darfst du den heiligen Elisabeth Augenaufschlag von der Domat parat haben. ›Ach, ich weiß nicht, Papa . . . ich liebe ihn nicht . . . aber seine Nähe wirkt so beruhigend . . .‹ Und das alles so lyrisch!« Prinz Lack flötete in den höchsten Tönen. »Und dann soll's mit dem Teufel zugehen, wenn nicht alle Welt, selbst Gampesch, ja und Amen sagt. Denn die Menschheit verdiente noch immer mit einem riesengroßen Ringe durch die Nase geboren zu werden!« endigte er in dem Tone fast väterlichen Wohlwollens.

Die Comtesse hatte dem Vetter mit sehr gemischten Empfindungen zugehört. Ihren guten Vater in dieser Rolle – und Loja – sie selbst: nein, der Hasso war doch unverbesserlich! Dann aber überwand die große Komik des Vortrages den Zorn so, daß sie laut auflachen mußte. »Den Unsinn glaubst du ja selbst nicht, Hasso!«

»Gewiß nicht,« gab er ruhig zu. »Ich will euch bloß einige Geigen vom Himmel holen. Erstensmal wirst du unbedingt irgend eine Komödie spielen müssen. Zweitens werden wir deinen Vater mit List oder Gewalt nach unsrer Reichshauptstadt Orschau verbannen, bis die Zukunft klar ist . . . Er merkt so wie so schon was! Und dann werde ich dir noch in der Nacht den Loja nach Sassen entführen, wie Luthern auf die Wartburg. Ich 252 habe immer Angst, er und Gampesch fahren sich doch noch mal ernstlich in die Haare. Laß mich man machen . . .«

Marie hatte noch gerade Zeit, ihm ein »Pst!« zuzurufen. Im Nebenzimmer klangen die knarrenden Schritte des Vaters.

Er trat ein. »Du siehst dir wohl nochmals den Geburtstagstisch an?« fragte der Graf zärtlich und küßte sie aufs Haar. »Guck mich mal an!« – und dabei beugte er ihren Kopf zurück – »wär's dir nicht doch etwas schwer, aus dem alten Hause zu gehen? Zu dreiviertel bist du ja freilich schon in Gampeschkeim! Ihr Kinder seid doch ein undankbares Volk! Wenn die Flügel gewachsen sind, dann geht's fort. Hat dir übrigens Arthur gesagt, daß Michaelis das erste Aufgebot ist? . . . Ihr habt euch doch nicht etwa gezankt?«

»Aber Papa!« Und sie senkte die Augen, während brennende Röte ihr bis zum Haare stieg.

»Nein? – Ich bitte ums Auge, Mieze . . . so! . . .« Er sah prüfend hinein: »Du siehst heute ganz vorzüglich aus, wie lange nicht! Aber dahinten . . . da hinten . . . da flackert's so unsicher, als ob's sagen wollte: ›Wenn du nur wüßtest!‹«

Da versuchte sie zu lächeln, und er beruhigte sich schnell. »Na, zankt euch auch mal! Nur keinen dritten dazwischen lassen, auch den Vater nicht. Das ist ganz richtig! . . . Uebrigens – ich kam eigentlich wegen Hasso. Ich weiß nicht, ob morgen im Kreistag was los ist . . . Adieu!«

›Den Vater belügen, verlassen?‹ dachte sie wehmütig, während sie ihm nachsah.

Indessen saß Hasso wieder wortkarg auf seinem gewöhnlichen Platz auf dem Schaukelstuhle des 253 Herrenzimmers. ›Wie den Alten 'rauspraktizieren?‹ Auf eine Lüge kam's ihm nicht an. Da gab der eben eingetretene Onkel selbst die Handhabe. »Morgen was los, Hasso?«

Prinz Lack dehnte sich gelangweilt . . . »Auf dem Kreistage? . . . Kolossal viel! Fünf Chausseesteine bewilligen . . . einen halben Lehrer anstellen . . . Flurschadenreklamation vom Manöver . . . Wenigstens Papier wird verbraucht, und Zeit wird vertrödelt! Dann ist noch so 'n stocktaubes altes Weib, Kreisarme . . . die Gemeinden und Besitzer sind nicht 'ranzukriegen. Bei mir war sie zuletzt. Danke auch für Obst!« Hasso sprach mit kluger Berechnung so cynisch.

Der Graf fuhr auf. »Dieses verwünschte Sich-drücken!« donnerte er, während er seine Zigarre im Aschenbecher zerstampfte. Aber er fand für seinen Zorn kein Echo. Verdrießliche, öde, gedrückte Mienen. Die Herren wußten genau, wie unangenehm auch die kleinste Verpflichtung auf den unrentabel gewordenen Gütern lastete. »Und das werde ich morgen mal auf dem Kreistage sagen, was ich von uns allen halte. Wir wollen die Spitzen sein, die Sozialdemokratie bekriegen und katzbalgen uns da 'rum, ob ein so altes, unglückliches Tier verhungern soll oder nicht! Mit den Bajonetten ist's wahrhaftig nicht gethan . . . Ja, das ist Adel! Wir fahren viere lang, wo möglich Vollblut – und so was Rechtloses wird 'rumgestoßen, weil's 'ne Pflicht auferlegt. Ich will lieber verhungern, als daß ein Kerl mir nachsagt, ich hätte einen Menschen unwürdig behandelt.«

»Längst vorgesehen . . . Klebegesetz,« warf Hasso achselzuckend ein. »Mein Inspektor amüsiert sich 254 jeden Sonnabend sechs Stunden mit einem Gummitopf. Jetzt ist er schon etwas schwachsinnig geworden davon und will kleben, ewig kleben! Ja, der grüne Tisch weiß ganz genau, was dem Lande notthut!«

»Na, du kommst ja in den Reichstag! Du! – und Reformen?« höhnte der Graf.

Hasso ertrug's gleichmütig. Für morgen war sein Onkel in die Stadt gelockt – das war der Zweck der Uebung.

Der Graf ging sehr mißgestimmt zu Bett. Marie blieb in ihrem Boudoir allein. Sie saß am Kamin. Das Feuer war heruntergebrannt. In der roten Asche stöhnte nur noch ein nasser, schwarzer Fichtenkloben, den kleine Flämmchen behend umtanzten. Draußen raschelte der Herbstwind im Kastanienbaum, und sie hörte die herabfallenden Früchte auf das Steinpflaster klappen. Sie war in der überreizten, fast hellseherischen Stimmung, wo alles Leblose zu leben beginnt und seine stumme Sprache redet.

Der große Tag ihres Lebens war gekommen. Die Vergangenheit zog an ihr vorüber: die träumende Kindheit, die kleine Liebe – die Uniform schimmerte durch und das hübsche Gesicht, das liebenswürdige Lächeln ihres Arthur. Und dann fühlte sie die Stahlhand, die sie packte, herausriß aus dem Geleise des Gewohnten, sie schüttelte, wegschleuderte – da war sie erwacht . . . das Weib war lebendig geworden und die große Liebe. Nicht die Phantasie zog sie im trügerischen Spiele mit, das große Gefühl warf jetzt sein unerbittliches Licht auf das Gewesene und trennte vom Wesen den Schein. Sie saß lange. Vom Geburtstagstisch her trugen die welken Rosen aus Arthurs Strauß ihren Duft 255 herüber. Aber kein wehmütig Erinnern, kein Bedauern! Sein Schicksal ließ sie kalt. Nun wollte sie in die Zukunft sehen, doch Schleier wallten darüber. Seltsam . . .

Sie erhob sich. Ein unheimliches Gefühl wollte sie beschleichen – sie fröstelte. Es war wohl die Natur, die ihr Recht forderte. Dann zog sie den Stein aus der Tasche, den häßlichen Kiesel von der Landstraße. Sie küßte ihn. »Hans . . . Hans.«

*

Am frühen Morgen erwachte sie. Der alte Diener tappte durch den Korridor. Der Graf gab einen kurzen Befehl. Ein Wagen fuhr vor. Sie horchte. »Guter Papa! . . .« Dann schloß sie die Augen und versuchte sich einzubilden, alles sei beim alten. In dem Wirtschaftshofe summte das Roßwerk, ein Knecht pfiff. Vielleicht war das Gestern doch ein Traum? Und sie öffnete ganz langsam die Augen. Die Gegenstände glänzten matt in dem mürrischen Herbstmorgen. Leiser Fliedergeruch umwehte sie. Es war von seinem Taschentuche. Sie nahm es und drückte es ans Herz. Es war doch kein Traum!

Die Jungfer war verwundert, daß die Langschläferin heute schon so früh klingelte.

»Wie ist 's Wetter heute, Anna?« fragte die Comtesse lustig.

»Es fällt feucht. Man kann keinen Menschen erkennen vor Nebel.«

»Bis zehn Uhr muß die Sonne wieder da sein! Ich mache dich verantwortlich.«

Die Zofe kicherte. »Die gnädige Comtesse sind heute sehr guter Laune.«

»Bin ich das nicht immer, Anna?«

256 »Na . . .«

»Wie seh' ich übrigens aus?« fragte die Comtesse weiter.

»Etwas angegriffen, Comtesse.«

»Ach, du hast doch immer was zu tadeln . . . Gieb mir den Spiegel!« Sie sah in ein feines, nervöses Gesichtchen mit matten Linien um Augen und Mund, die sie nachdenklich stimmten. »Ich habe schon vorteilhafter ausgesehen,« resümierte sie. Sie warf den Spiegel aufs Bett. Wenn 's Herz nur schwarz ist – nicht wahr, Anna? Hast du nicht übrigens 'n Schatz?«

»Ach nee – Comtesse wissen ja: der Karl vom Herrn v. Doerstedt.«

Marie schlüpfte in ihren Morgenrock. »Wenn du mir heute ganz ausgezeichnet das Haar machst – ich muß heute gut aussehen! –, dann schenk' ich euch zur Hochzeit, was du dir wünschest . . . Freust du dich nicht? Lach doch, Mariell!« Die Jungfer lächelte devot. »Ordentlich!« befahl die Comtesse. »Ich will's hören,« – und sie drängte so lange, bis das Mädchen laut lachte. »Ich will heute nur fröhliche Gesichter sehen.«

Bei der Toilette aber hatte die Zofe schweren Stand. Marie wollte hübsch sein, wollte bezaubern durch Jugend und Anmut. Aber der Jungfer erregte sie doch Bedenken mit ihrer Fröhlichkeit. Der Herr Rittmeister liebte, wie bekannt, die Modefarbe – die Comtesse befahl das hellgraue Kleid; der Herr Rittmeister bevorzugte die Scheitelfrisur – die Comtesse wünschte den griechischen Knoten. Und als alles glücklich beendet war und der hohe Stehspiegel ein sehr gelungenes Werk zöfischer Kunst wiedergab, schüttelte Marie doch in komischem 257 Unwillen den Kopf. »Warum hab' ich eigentlich so 'n großen Mund, Anna – warum?«

Die Jungfer hatte das Schlafzimmer verlassen. Da riß Marie in einer Anwandlung von Reue das mühselige Gebilde wieder zusammen und wand mit ungeübter Hand den griechischen Knoten selbst. »Wozu die Komödie für ihn? Er hat mich auch so lieb.«

Sie ging. Es war ein wunderschöner Tag. Zwar zog dicker Herbstnebel um Halm und Strauch und verdeckte die Sonne, aber Marie fühlte die verdrießliche Herbststimmung nicht. Für sie schien die Sonne, war's köstlich hell – und wenn's Nacht gewesen wäre. An der Fichte erwartete er sie. Heute sahen sie aus wie ein Paar vernünftige Liebesleute. Sie gingen eng aneinandergeschmiegt und sahen sich immer an. Mit der Unterhaltung war's nicht viel. Von den Waldgräsern tropfte der Tau, die Schonungen dampften. Noch lag für die beiden eine jungfräuliche Weihe über der Natur, ein zukunftsfrohes Keimen und Knospen, was dem müden Herbst fern lag und aus ihren Herzen kam. Ein wunschloses Glück war in ihre Seelen gezogen. Heute kümmerte sie die Zukunft nicht. Sie mußte ja schön sein!

Gegen Mittag kam auch Prinz Lack. Er trug Gewehr und Jagdgamaschen und tauchte plötzlich hinter einem Tannenbusch auf wie ein Wilddieb. Tyras wedelte verlegen, weil ihm der fürsichtige Jägerschritt entgangen. Anfangs war der Comtesse Hassos Gegenwart etwas unbehaglich, doch er benahm sich mit so rückhaltloser Herzlichkeit, daß sie lächelnd ihren Hans fragte: »Soll ich ihn wieder zu Gnaden annehmen?«

»Ja, das kannst du, weiß Gott, Marie! Wenn's 258 drauf ankam, hat er immer Farbe bekannt und war goldehrlich.« Er klopfte Prinz Lack auf die Schulter: »Nicht wahr, alter Hasso?!« Und Hasso entgegnete mit sauersüßem Humor: »Ich mich freuen? Da seid Ihr aber höllisch schief gewickelt, Freiherr! Erst rechne ich felsenfest auf Dennhöfen – dann knöpft's mir die Cousine ab – und jetzt wird der wieder ein ganz Fremder vor die Nase gesetzt, den ich nicht ausstehen kann . . . Nebenbei gesagt: das Verlobungsfrühstück werden die Herrschaften bei mir nehmen. Grützwurst und Kornus! Daraus könnt ihr meine Liebe ermessen . . . Eigentlich bin ich doch ein kreuzdummes Luder!« fuhr er nachdenklich fort. »Was mir wohl der Gampeschkeimer für meine Wissenschaft geben würde? Für einen Korb Sekt verrate ich das Geheimnis! Mir ist überhaupt heute so nach einem anständigen Franzosen zu Mute.«

Sie waren bis zu einem verlassenen Samenkamp mitten im Walde gekommen. Der Zaun war niedergebrochen, und Hasen hatten die Jungeichen geschält. Ein paar Pferdehäupter tauchten sehr unerwartet aus dem Nebel auf – ein kleiner Birschwagen. Prinz Lack setzte sich in Positur und näselte: »Hier beginnt der Sasser Amtsbezirk – eingestiegen, wenns gefällig ist! Ich verhafte Sie« – er machte ein Gesicht, als wenn er eine große Brille auf der Nase hätte und ein schwieriges Aktenstück verläse – »Sie, den mehrfach vorbestraften Heilgehilfen und Kurpfuscher Loja aus Batavia wegen unerlaubter Führung des Freiherrn-Prädikates und des dringenden Verdachtes, Seelenverkäuferei nach den holländischen Kolonien zu betreiben – und Sie, die unverehelichte, aber steckbrieflich verfolgte Marie Wilnein, weil Sie bei 259 dem verbrecherischen Vorhaben mit Ihrer Person den deutbarsten Vorschub geleistet haben sollen. Dazu bemerke ich, daß, da bei dem Jähzorn und dem gewaltthätigen Charakter der Verhafteten die Möglichkeit eines Fluchtversuches oder Widerstandes gegen die Staatsgewalt einerseits nicht ausgeschlossen ist, anderseits aber in Ansehung der hohen Gemeingefährlichkeit des p. Loja und der unverantwortlichen Willfährigkeit der p. Wilnein eine schleunige Inhaftierung geboten scheint – die Vorführung mittels eines Sasser Krümperfuhrwerks erfolgt. Die Kosten für letzteres sind von den Verhafteten zu tragen.« Bei diesen Worten sicherte Hasso umständlich seine ungeladene Büchse. Die Verhafteten lachten und stiegen ein. Die irdische Gerechtigkeit schwang sich als Kutscher auf den Bock. Die mageren Klepper zogen an. Auf Holzwegen und mit viel List brachte Hasso seine Beute bis zum Sasser Park. »Der Verhaftete steigt hier aus und betritt in spätestens einer halben Stunde das Gerichtszimmer. Die Verhaftete nehme ich mit.« Die Peitsche knallte, Hasso schnitt noch ein höhnisches Gesicht und rief durch die Hand zurück: »Die Verhaftete wird nach Gampeschkeim gebracht, wo sie ortsbehörig.«

Als zu verabredeter Zeit Loja durch den Diener gemeldet wurde, that Prinz Lack sehr erstaunt, und die Comtesse machte eine kühle Verbeugung. Trotzdem stand wie durch Zauberei in Kürze ein ausgewähltes Frühstück parat, der Sekt frappiert und die Hummern von tadelloser Frische. Hasso ging selbst in die Küche und lobte seine alte Wirtschafterin: »Sehen Sie mal, wie gut das war, Mamsellchen, daß wir heute früh noch aus der Stadt was kommen ließen.«

260 »Ja, wer konnte denn das ahnen, gnädiger Herr!« seufzte die erhitzte Dame und schwenkte das Waffeleisen. Sie hätte gern alle Register ihrer Kochkunst spielen lassen, schon um ihre Lorscher Kollegin zu ärgern, mit der sie wegen einer Rumspeise in Todfeindschaft lebte.

»Meinen Sie, ich wußte es?« gab Prinz Lack zurück und ging zu seinen Gästen.

Da wurde bei duftendem Kaffee und einer Upmann der Kriegsplan weiter verhandelt. Hasso residierte im Rat. »Ich bin ja doch der einzige, der seine fünf Sinne ganz zusammen hat heute,« schalt er gutmütig . . . »Ich habe mir die Sache überlegt. Du wartest nicht etwa ab, Mieze, bis dich der Alte stellt, sondern du beichtest ihm gleich morgen früh. Für heute haben wir ihn ja durch ein landrätliches L'hombre unschädlich gemacht. Keine Details! Abwarten, wie er's aufnimmt! Er hat dich ja riesig lieb, und trotz unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten halte ich ihn für den anständigsten Menschen, dem das Glück seiner Tochter wirklich doch wohl mehr wert ist als das Geklatsche der Gegend. Ist er einigermaßen handlich, gehst du weiter und gestehst ihm ganz ruhig, daß du das Ungeheuer hier schon lange liebst. Es ist eine Geschmacksverirrung, ich gebe es zu! Aber ich leide ja auch an einem ähnlichen Sehfehler. Vielleicht springt er aber aus dem Häuschen, verwünscht dich und ihn. Das ist übrigens nicht so tragisch bei Vätern, wenn die Töchter einen genügenden Thränenvorrat auf Lager haben. Oder er nimmt's als praktischer Mann, fährt zu dem hier und sagt: ›Angenehm sind Sie mir als Schwiegersohn keineswegs, ich hätte sogar große Lust, Sie zu prügeln – aber lassen Sie 261 wenigstens über die leidige Entlobungsgeschichte Gras wachsen, und dann wollen wir weiter sprechen.‹ Mit 'n bißchen Diplomatie und Zeit läßt sich die Sache schon so einfädeln. daß der hier zu dir kommt wie die Tugend! . . . hm! . . . wie jener zur Ohrfeige. Ist dein Vater aber ganz rabiat, dann existiert für dich der Loja einfach nicht. Dann mach' ich später die Sache von hinten 'rum, in Kaiserberg oder so wo . . . Zuletzt bleibt euch ja noch das Durchgehen! Aber mit dem schweren Geschütz gleich vor? . . . Weißt du, da bin ich wie Moltke vor Paris: ›Aushungern, cernieren!‹ Auf einmal kapituliert die Festung, und man zieht ohne Bombardement durch den Triumphbogen.«

*

Ein heimlicher Waldspaziergang des Paares schloß sich daran. ›Hindernisse sind ja da, aber sie sind zu nehmen.‹ dachte Marie. Und je mehr sie sich in die Zukunft vertiefte, um so fester wurde in ihr der Glaube an des Vaters selbstlose Liebe und seine vornehme Denkungsart. Die Zeit verflog. Es war bereits dunkel, als sie endlich nach Sassen zurückkehrte. Sie hoffte, noch eine Nacht zur Ruhe und zur Ueberlegung vor sich zu haben, weil der Vater sich erst spät von dem L'hombretisch zu trennen pflegte.

Sie irrte sich. Der Graf empfing sie schon auf dem Flur.

»Du kommst mit Sasser Fuhrwerk?« fragte er, ohne sie anzusehen.

»Ich habe die Fohlen revidiert.«

»Hast du einen Augenblick Zeit, Marie?« Da wußte sie, daß die Situation ernst war. Der Graf 262 verabschiedete kurz den alten Diener: »Ich möchte heute abend nicht mehr gestört werden.«

»Jawohl, Herr Graf! Gute Nacht.«

Dann zündete der Alte selbst einen Leuchter an, der stets auf dem Mitteltisch im Flur stehen mußte. Dabei zitterte seine Hand. Marie sah ihn an. Er war blaß, und die Stimme klang rostig. »Wir wollen in den Saal gehen – dir ist's doch recht?«

Sie nickte. Er ging voran mit kurzen, aufgeregten Schritten. Im Saal war's herbstlich kühl. Ein kaum bemerkbarer Rest von Blumenduft und Festgeruch lag noch in der Luft und machte das dunkle Zimmer mit dem unruhig flackernden Lichte nur noch unheimlicher. Der Krystallbehang am Kronleuchter blitzte, der Wandspiegel gleißte. Ein paar düstere Stahlstiche, über die der Lichtschein glitt, blickten tot. Marie hatte das Gefühl wie vor einer Hinrichtung. Vor der kleinen Etagere, auf der das Bild der Mutter stand, machte der Graf Halt. Er setzte den Leuchter so, daß er das Daguerreotyp verdeckte.

»Rück dir den Fauteuil näher, Marie.« Sie that's fast willenlos, setzte sich und starrte blinzelnd in das Licht. Der Graf schob einen leichten Stuhl dicht heran. Es schien dem kräftigen Manne schwer zu werden. Während er sich schwerfällig niederließ, bewegten sich die Lippen, und die Adern an den Schläfen spielten. Marie ließ die Hände sinken. ›Jetzt kommt die Katastrophe.‹ Der Vater sah sie nur unsicher an, als er ihre herabhängende Hand ergriff und liebevoll sagte: »Nicht wahr, du bist etwas angegriffen, mein Kind? Du solltest dir auch im Gehen weniger zumuten! Du kannst ja nichts dafür, daß deine Nerven so zart sind. Aber nicht wahr – 263 du wirst eine gute, gesunde Frau werden – nicht wahr?« Er streichelte ihr die Hand. Thränen traten ihr in die Augen, und sie vermochte nur mit dem Kopfe zu nicken. Er beugte sich näher zu ihr. »Und gestern bist du nach der Krankheit besonders aufgeregt gewesen? – hast thörichte Dinge gesagt, die du gar nicht verantworten kannst und willst? Sag: ›Ja!‹ Unsre ganze Unterredung ist damit endgültig aus. Niemand wird mit dir je davon sprechen – auch er nicht! Aber sag frisch: ›Ja!‹ – Thu's deinem alten Vater zuliebe.«

Und Marie fühlte ihr Herz weicher und weicher werden bei dem sanften, rührenden Ton der alten, lieben, jetzt etwas bebenden Stimme. Eine heiße Flut brach aus ihren Augen. Sie hatte die beiden Hände aufs Gesicht gepreßt, im Fauteuil zurückgelehnt. Leise murmelte sie: »Ich kann nicht . . . lieber . . . lieber Vater.«

Er brauste nicht auf. Nur die buschige Braue faltete sich leicht; in den grauen Augen kämpften herzliche Liebe mit aufsteigendem Zorn. Er holte tief Atem. »Sieh, ich habe ihn heute ganz zufällig in der Stadt getroffen – er wich mir sogar aus. Aber ich sah ihm an, daß er etwas Schweres auf dem Herzen hatte. Da hab' ich ihn gestellt und ihn offen und ehrlich gefragt, wie's unter Männern richtig. Er wollte nicht 'raus mit der Sprache . . . Nur daß es zu Ende sei mit euch, und daß du ihm schreckliche Sachen gesagt hättest! Er ist sonst nicht ganz mein Fall, wie du weißt – dein Arthur. Aber er nahm die Sache so verständig, so vornehm! Er sei dir nicht einmal böse, er könne dir nicht böse sein – aber sein Lebensglück hättest du vernichtet. Es war gewiß keine Schauspielerei 264 dabei! – Mieze, sei doch mein gutes Mädel! Er hat dich so herzlich lieb – und du liebst ihn doch auch? Und da sollte euch eine Reihe dummer, unüberlegter Worte trennen?! Soll dein alter Vater seinem einzigen Kinde von Herzen böse werden? Ich weiß ja, daß wir alle unsre häßlichen Regungen haben. Und als er mir das erzählte, dachte ich so in recht unwürdiger Selbstsucht: ›Jetzt giebt dir das Schicksal das einzige, was dich an diese Erde fesselt, ungebeten wieder zurück.‹ Das war aber nur ein Moment, ein unbedeutender Schatten. ›Sind unsre Kinder für uns da – oder wir für sie?‹ fragte ich mich. – Ich denke, das letztere . . . Morgen früh will er nach Kaiserberg, Berlin und noch weiter, bloß um aus der Heimat zu kommen, zu vergessen. Bezwinge den Trotzkopf, Mieze! Ich laß sofort anspannen. Fahr zu ihm! Und was auch die Leute reden mögen, weil's so spät ist, geh zu ihm unangemeldet, gieb ihm einen Kuß und sage: ›Sei mir wieder gut, Schatz!‹«

Da stöhnte sie auf. Alle klugen Ratschläge Hassos waren dahin . . . »Ich kann nicht, Papa . . . ich liebe einen andern . . . ich liebe . . .«

Er hob abwehrend die Hand und sagte schneidend: »Keinen Namen, wenn ich bitten darf! Ich will ihn nicht wissen!« Und in seinen Augen legte sich die schwere Wolke des Zornes über das milde Feuer der Liebe.

Ein langes, banges Schweigen.

Auch ihr waren die Thränen versiegt. Vielleicht ließ er doch in seinem Geiste die Männer passieren, die's ihr angethan haben konnten . . . Doerstedt . . . Natzfeld . . . der Leutnant Domat . . . An Loja dachte er nicht einmal . . . »Hm – hm!« . . . 265 Das Leben hatte ihn zu strenger Selbstbeherrschung erzogen – der Mann der Pflicht liebte den schrankenlosen Zorn nicht. Er hatte nur die Hand der Tochter losgelassen. Das war der schweigende Ernst vor dem Sturm.

Marie fühlte es und richtete sich auf.

»Also man läuft zusammen und läuft auseinander, wie's einem gefällt! Heute gefällt dir der, morgen der, übermorgen der . . . nein, ich hätte dich höher taxiert . . . Hör mich genau, mein Kind! Die Liebe und die Ehe ist nicht für heute und gestern – die ist fürs Leben. Und das ist etwas ganz andres, als der Backfisch träumt. Da giebt's Sonne und Wolken, Lachen und Weinen – und das schadet der Liebe nichts. Auch Langeweile, Ueberdruß, Versuchungen. Das ist so selbstverständlich wie Tag und Nacht. Nur wenn man Hunger hat, schmeckt's. Zur Liebe gehören die großen und die kleinen Sorgen. Denn es ist das Segensreiche bei der Liebe in der Ehe, daß sie Pflicht ist, Gesetz. Die Versuchungen gehen und kommen – die Jahre auch. Und wer's ehrlich mit seiner Pflicht meint, dem sind die sündigen Wallungen des Blutes keine Gefahr – das mag altfränkisch gedacht sein und unfrei, aber das Große liegt doch darin, das Schaffende, aus dem der Mensch sich über das Tier emporrang. Wenn man zwei Jahre verlobt ist, Kind, da hat man Zeit genug gehabt, sich klar zu werden, ob man zu einander paßt oder nicht. Wenn man zwei Jahre wirklich den Bräutigam geliebt hat, hat man nicht mehr das Recht zu sagen: der andre gefällt mir besser. Denn da könnte wieder ein andrer kommen und wieder ein andrer . . . Und wo sollte das hin? Ich habe noch immer die Hoffnung, du 266 lenkst ein. Sieh mal, weil du schon früh wahrheitsliebend warst und pflichttreu, habe ich dich nicht nach der Schablone erzogen. Du brauchtest meiner Ansicht nach nicht die gemeine Obhut, die vielleicht Mädels wie die Doerstedt nötig haben oder die aus Senkenhagen, weil sie sich mit einem Fähnrich küssen könnten oder dem Inspektor. Ich sag' dir's ehrlich: ich bin stolz gewesen auf das Mädel, das ich in jeder Situation allein lassen konnte. Mir widerstrebt überhaupt das Aufpassen im Innersten der Seele. Man soll ein Mädel so erziehen, daß seine Moral nicht über jeden Schnurrbart stolpert. Bei dir war ich so sicher! – Ich habe mich doch getäuscht . . . Das thut mir weh. – Als du dich verlobtest in einem Alter, wo ein gesundes Mädel an so etwas denken kann und soll – da wußte ich, daß du nicht den ersten besten nehmen würdest. Aber wenn du gesagt hättest: ›Der Herr Müller gefällt mir: er ist nichts, er hat nichts, aber ich hab' ihn doch nun mal lieb‹ – meinst du, ich hätte mein Standesvorurteil nicht doch bezwungen? Darin denke ich bürgerlich, sehr bürgerlich! Aber du hast mir nicht den Herrn Müller präsentiert, du hast einen aus unsern Kreisen gefunden, einen verständigen Mann, alt genug, der das Nötige mit Anstand durchgemacht hat. Und auf einmal ist der dir nicht mehr gut. Wo ist das Pflichtgefühl, die innerliche Wahrheitsliebe? Bedenk, du bist nicht allein dazu da, glücklich zu werden, sondern auch glücklich zu machen!«

Marie war ruhiger geworden. Sie hörte mit klaren. klugen Augen zu. Es war ein vornehmer Geist, der ihr die harte Pflicht predigte – und es war ihr Vater! Aber es lag auch eine starre Unfreiheit, ein dumpfer Zug in dieser Lebensauffassung. 267 Und sie sah in sein Gesicht – das alte Gesicht, in dem die Linien mit jedem Wort sich härteten, starr wurden, so daß die Falten wie eingeschnitten erschienen und die Runzeln wie ausgemeißelt. Sein Auge glitt an der Tochter vorüber ins Dunkle. Und Marie war's, als sähe und spräche er noch zu einer andern, die nicht hier war. Die andre? Ein entsetzlicher Gedanke tauchte ihr auf. Sie stieß ihn empört ins Dunkel zurück. Nein, die andre konnte ihm nicht die düsteren Erfahrungen gegeben haben, die sein weiches Herz festgehämmert hatten, daß es nichts mehr verstand als die eherne Pflicht. ›Und mag er sie auch gemacht haben, diese Erfahrungen! Ich mach' sie nicht!‹ Liebe und Jugend hoben sich in der Tochter gewaltig gegen diese Pflicht. Sie verstand, fühlte alles mit – aber sie fühlte auch, wie sie hinauswuchs aus dem kleinen starren Ring überlieferter Pflichten zu der großen einen, die sich selbst genug ist.

Das gab ihr eine fast überlegene Ruhe . . . »Papa, ich schlage dich mit deinen eignen Waffen. Den Mann, dessen Namen du nicht wissen willst, liebe ich! – Ich muß ihm folgen – das ist meine Pflicht, was auch dabei zu Grunde gehen möge. Sobald ich das begriffen habe, kann ich nur den einen Weg gehen. Und ich weiß, daß es der richtige ist.«

Seine Nasenflügel zuckten verächtlich, die Lippe kniff sich. »So . . . so – da weiß ich wenigstens, wo ich daran bin. Jawohl, ich verstehe! . . . Das ist die neue Zeit, die Könige stürzt, die Eltern verhöhnt, die Pflichten verachtet – die nichts kennt als die gemeine Leidenschaft. So weit bist du also auch?« Ihre Augen trafen sich. »Weißt du, was 268 die freche Stirn verdient, mißratenes Ding? Meinen . . .« Er hatte die geballte Faust erhoben.

Ihr aber graute vor dem Wort, das kommen sollte, und sie umklammerte seinen Arm: »Um Gottes willen . . . sprich das Wort nicht! Es müßte uns ja auf ewig trennen . . . Bin ich nicht dein einziges Kind?« flehte sie, »Vater! . . . Denk doch an die Mutter!« Es schien ihr wie eine letzte Hilfe, diese Beschwörung. Sie nahm das Daguerreotyp hinter dem Leuchter hervor, behutsam, liebevoll, und hielt's ihm hin. »Bittet das nicht für mich, Papa?«

Er hatte sich von der Tochter losgerissen und starrte auf das Bild. Die Hand zitterte, das Auge leuchtete. Es war ein böses Leuchten! Dann schleuderte er das Bild auf den Tisch zurück, daß das Glas splitterte und die Tochter bei dem feinen Klange zusammenfuhr. In dem vor Aufregung zuckenden todblassen Gesicht erkannte sie den Vater kaum mehr. »Erinnere mich nicht an sie! . . . Thu's nicht, mein Kind! . . . thu's nicht!« wehrte er in einem eigentümlichen hohen, fast singenden Ton. Dann fuhr er sich nach dem Kopf. »Weißt du, wer mir das Haar grau gemacht hat und das Herz alt? – Deine Mutter!«

Da sprang sie auf. »Papa!«

»Setz dich . . . setz dich!« sprach er, sie mit beiden Armen niederziehend. Er war seiner Sinne kaum noch mächtig.

»Ich will dir etwas erzählen, mein Kind. Ich hoffte, es könnte mit mir sterben . . . Vielleicht ist's dir eine heilsame Lehre . . . und morgen wär's vielleicht zu spät. Denn du sollst nicht zu Grunde gehen an dem verfluchten Natzfeldschen Blute! . . . Sieh dir das Zimmer genau an! Es hat sich wenig 269 geändert seit dreiundzwanzig Jahren. Nur wo das Bild hier steht, stand deine Mutter. Es war im Frühjahr, in der Dämmerstunde. Ich war von meinem Ritt durch die Wirtschaft etwas früher zurückgekommen, weil mein Brauner plötzlich zu lahmen anfing . . . Ich habe immer einen schweren Schritt gehabt, doch an dem Tage muß ich ausnahmsweise sehr leise gegangen sein – denn als ich in den Saal hier trat – fand ich deine Mutter in den Armen des Dennhöfer Natzfeld. Ich war völlig ahnungslos. Ich habe deine Mutter aus purer Liebe geheiratet, und jeder Gedanke an Untreue lag mir fern. Und ich mag wohl wie ein Gespenst vor ihnen aufgetaucht sein und merkwürdig ausgesehen haben, so daß sie selbst vergaßen, sich loszulassen. Ich sehe alles noch deutlich: ihr leichenblasses, erstarrtes Gesicht, seine zitternden Lippen. Es war ein Moment, wo der Mensch Bestie wird und Mörder, wenn er eine Waffe bei der Hand hat. Ich hatte nur meine Reitpeitsche. Also mußte die's thun! Und wie ich sie hob, kam Leben in die beiden. Sie klappte mit einem leisen Schrei ohnmächtig zusammen, und er sagte mit Haltung: ›Mißhandle nur sie nicht! Mit mir mach, was du willst.‹ Er hatte auf den Kavalier gerechnet – er hatte sich verrechnet! Ich gehe ganz langsam auf ihn zu: ›Herr v. Natzfeld‹ – in meinem Blick muß wohl etwas Lähmendes gelegen haben – ›Sie Hund!‹ Und da kriegte er den ersten Hieb quer übers Gesicht. Ich sehe noch, wie der blutige Striem aufspringt, und wie er den Arm hebt, sich zu decken. Aber da hab' ich ihn auch schon gepackt. Ich war sehr stark, und er hatte die marklose Natzfeldsche Attaché-Figur. Das hätte mich milder stimmen 270 sollen. Doch gerade der Klumpen, der sich nicht wehrte, und der's doch meiner Frau angethan hatte, reizte mich. Totschlagen wollte ich ihn nicht! Es war nicht Mitleid – 's war mir zu wenig. Und ich hab' ihn mißhandelt, wie man einen Hund schlägt oder einen nichtswürdigen Bengel. Sie sah's nicht, sie lag ohnmächtig auf dem Teppich. Aber 's wär' mir recht gewesen, wenn sie's gesehen hätte. Denn ich hab' ihn selbst blutend und halbnackt bis an die Verandathür geschleppt und ihn 'rausgeworfen. ›Drücken Sie sich durch den Wald, sonst lachen Sie noch die Schwolmer Schuljungen aus!‹ Das war mein letztes Wort.«

Marie war erstarrt. Ihr fröstelte. Sie dachte nicht an die Mutter, nicht an den Geschlagenen – aber ein Grauen kam sie an vor dem Vater, in dessen altem Gesicht die Brutalität der furchtbaren Scene sich jetzt noch widerspiegelte. Das war nicht der auf den Tod beleidigte Edelmann, das war der Bauer, der den schwachen Feind mit plumpem Absatz tritt, mit der Wagenrunge niederschlägt. Sie mußte die Augen schließen.

Der Alte sah es nicht. Er fuhr mit einem schauerlichen Behagen fort:

»Es giebt Beleidigungen, wo man keine Satisfaktion verlangt – und keine giebt . . . Nun, er hat sie doch verlangt! – in einem Briefe, den er wohl in der Verzweiflung geschrieben haben mag, weil er nicht so weiterleben konnte oder wollte. Das wußt' ich! Und deswegen gab ich sie ihm nicht. Das hätte ihm so gepaßt: schärfste Bedingungen – fünf Schritte – er oder ich! Und dann vielleicht das Martyrium der Liebe zu erdulden mit einer Kugel in der Brust? Nein, mein Junge! Aber mit 271 den blutigen Striemen auf dem Rücken das Leben weiterschleppen, bis es unerträglich wird, und wer weiß wo verenden an Gift, am Strang, so gemein wie möglich, damit nur niemand ahnt, wer der Selbstmörder mit den Striemen gewesen sein mag. Ich muß ihm lassen, daß er zu dem Entschlusse nicht viel Zeit brauchte. Am Tage darauf verschwand er. Verschollen – ha, ha! Die Ostsee-Aale mögen ihn gefressen haben. Ich gönne ihnen den Genuß. Aber gerächt hat er sich doch! Verstehst du jetzt vielleicht, warum ich das Dennhöfer Schloß nie betreten habe, das Gut nur, wenn's unumgänglich notwendig? Wenn's doch noch heute ein Erdbeben verschlänge mit allem, was darauf ist! Er hat dir nichts zu vererben oder zu schenken, der tote Halunke! . . . Der alte Schlauberger, der Kauffmann, hat wohl so etwas gewittert. Aber es ist beim Denken geblieben – bei ihm und bei den andern. Da stand ihnen der Wilneinsche Name denn doch zu hoch. Ich möcht's auch keinem raten!«

»Und die Mutter?« Die Comtesse sprach es kaum hörbar.

Da schien er sich auf sich selbst zu besinnen. Die heiße Liebe, die er für die Gestorbene einst empfunden, zuckte als schwacher Abglanz über sein finsteres Gesicht. Er schwand . . . »Ich hätte sie ihm ja nachschicken können. Ihr wär's recht gewesen. Ich wollte es nicht! Mochte sie nur büßen für ihr Natzfeldsches Blut! Sie hat auch gebüßt! . . . Wir haben fast noch ein Jahr nebeneinander gelebt. Als sie starb, war der Kopf hier grau. Sie hat mich nicht mit Auseinandersetzungen gelangweilt, mit Winseln um Verzeihung – und ich habe sie nicht mit Vorwürfen gequält. Wir waren zwei 272 einsame Menschen, wir keuchten mit zusammengebissenen Zähnen unter unserm Pack dahin: sie unter ihrer Sünde, ich unter meiner Pflicht. Die Welt durfte nichts ahnen! Das war ich dem noch ungeborenen Kinde schuldig. Und sie verstand mich – sie war mir vielleicht dankbar dafür. Ich habe es gefühlt bei der letzten Aussprache, die wir in diesem Leben noch hatten – es war wenige Tage vor deiner Geburt. Sie hatte wohl so eine Todesahnung; der Gedanke, dich allein mit mir hier zu lassen, machte sie klein . . . ›Es ist dein Kind, Karl . . . ich schwöre es dir bei allem, was mir heilig ist!‹ Ich mag wohl sarkastisch gelächelt haben. Denn sie umschlang schluchzend meine Kniee: ›Ja, ich habe gesündigt, doch anders, als du denkst, Karl. Ich habe den andern immer geliebt – dich nie! . . . Aber ich habe es nicht gewußt, daß er mich auch liebte. Und daran mußten wir beide ja zu Grunde gehen! Aber es ist dein Kind. Sag mir, daß du es glaubst, ich müßte mich sonst mit ihm töten! Ich lebe ja nur noch für das Kind!‹ Darauf habe ich sie aufgehoben und getröstet. Und heute frage ich mich: warum? Ihr wäret beide gestorben – und ich auch.« Seine Stimme war weicher geworden.

»Sprich nicht weiter, Papa!« bat die Tochter.

Aber der Alte ballte krampfhaft die Hände, daß die Armmuskeln zitterten und die Nägel sich in das Fleisch gruben . . . »Ich muß! Es will 'runter von der Seele, mein Kind! Als sie starb – der Arzt war gegangen, in dem Zimmer nebenan schlief die barmherzige Schwester – habe ich vor ihrem Bett gekniet und gebetet. Kind, es war ein grausiges Gebet! Ich habe gebetet, daß sie sterben möchte – ja sterben möchte . . . Der Herr wird's mir 273 vergeben. Ich ertrug die Last nicht mehr! Gott hat mich erhört . . . Und auch an deiner Wiege habe ich gekniet und Gott um Erleuchtung gebeten. Das zappelnde, winselnde Ding, das da lag, war sie – und es war auch der andre . . .«

Marie war aufgesprungen. »Vater, du entehrst mich!« Sie fühlte wie einen Peitschenhieb, der sie aus der Erstarrung emporriß, den grausamen Verdacht, die rasende Ungerechtigkeit des Mannes, der im Kind noch das Weib zu hassen vermochte.

Und als hätte der empörte Klang ihrer Worte den Bann der düsteren Vorstellungen in seiner Seele gebrochen, sah er sie an – und fand sich selbst wieder. »Komm, Mieze, komm – du bist mein Kind! Sieh mal, ich habe so viel gelitten, daß du nicht alles auf die Goldwage legen darfst, was ich heute sage.« Er schloß sie in seine Arme und küßte ihr das Haar. »Du bist ja das einzige, was ich habe – und du solltest nicht mein Kind sein? Ich weiß es ja so genau! – sonst müßte alles lügen, der Instinkt, das Gefühl . . . Als ich dich zum erstenmal in meinen Armen hielt und du mich anlächeltest, da hab' ich geweint und der Toten alles abgebeten, weil sie mir mein Kind gelassen hatte. Wer kann denn überhaupt einem Kinde so von Herzen gut und von Herzen böse sein als der eigne Vater?«

Der tiefe Abgrund, den die Scene zwischen Vater und Kind gerissen, schloß sich wieder wie durch Zauberkraft. Das gemeinsame Blut trat in sein Recht, so daß im Herzen der Tochter das düstere Bild der Vergangenheit spurlos versank und nichts zurückblieb als das großherzige Frauenmitleid für den Mann, der so schwer gelitten.

Das Licht war tief herabgebrannt . . . In 274 schweigender Umarmung hatten sich Vater und Tochter gefunden. Und erst das trübselige Flackern des Stearinstumpfes mahnte Marie, daß es noch eine Wirklichkeit gebe und eine große Frage, die noch unentschieden.

»Also nicht wahr, Papa, wir wollen morgen weiter sprechen?«

Auch er war erwacht. Vielleicht war's die natürliche Nachwirkung, die häßliche Ernüchterung, die jener großen Nervenaufregung folgt, daß er ruhig sagte: »Nein, mein Kind! Was uns heute trennt, das würde uns auch morgen trennen. Einen Namen wünsche ich überhaupt nicht! Warum sich von vornherein eine Abneigung gegen einen Menschen einimpfen, der sie vielleicht gar nicht verdient? Werden wir uns darum sofort klar! Ich werde nun und nimmermehr diesen Menschen weder als deinen Mann noch als meinen Schwiegersohn anerkennen, der eine so schnöde und grundlose Ablösung für Arthur von Gampesch bei dir ist. Wer er auch sein möge, ich müßte ihm an der Schwelle meines Hauses sagen: ›Mein Herr, ich danke für die Ehre Ihrer Bekanntschaft.‹ Ich bin dir gar nicht böse, Marie, denn wenn du unsrer Unterredung wirklich gefolgt bist, so wirst du wissen, daß es für mich kein Paktieren geben kann. Darum wirst du dein großes Pflichtgefühl zusammennehmen, wie du dein kleines damals zusammengenommen hast, als du den Freiherrn von Loja um Verzeihung batest.«

Marie verfärbte sich.

»Sieh mal, was du für ein Kindskopf bist! Noch jetzt ist dir die Erinnerung an diese sogenannte Erniedrigung unerträglich. Ohne die Sache damals wärest du schon lange verheiratet. Jetzt thut's mir 275 fast leid, daß ich damals so streng war. Also besinne dich! Arthur wird dir jeden Augenblick verzeihen. Ich hoffe noch immer, daß es nur die Marotte deines hübschen Schwarzköpfchens ist. Ist sie weg, bist du selbst am zufriedensten. – Und nun schlaf wohl!« Er wollte sie küssen.

Sie bog den Kopf zurück und sah dem Vater fest ins Gesicht. »Dann küsse mich lieber nicht, Papa! Ich werde dir ungehorsam sein. Zwing mich nicht zur Wahl zwischen dir und ihm! Wenn's sein muß – es ist sehr unkindlich, aber es würde auch ein ganz schiefes Licht auf meine Liebe zu ihm werfen, wenn ich dir nicht ehrlich bekennen würde – ich würde gar keinen Kampf kämpfen: ich gehöre nur ihm – nur ihm!«

Der Graf nahm den Leuchter und stieß dabei an das zerbrochene Daguerreotyp. »Also das Natzfeldsche Blut wäre doch stärker?« Darauf zwang er sich zu einem kurzen Lachen. »Na, durchgehen wirst du mir wohl nicht!«

Sie antwortete ruhig: »Auch nicht mal das kann ich dir versprechen.«

»Marie! . . .«

»Vater . . .«

Sie trennten sich ohne Kuß.

Die Comtesse ging in ihr Schlafzimmer. Der Vater stand und fiel mit dem Wahngebilde seiner Pflicht, das war jetzt klar. »So müssen wir uns eben trennen.« Sie zauderte nicht. Und das Bild des Geliebten stieg in ihr auf. Sie fühlte den glühenden Kuß, die namenlose Seligkeit der Stunde. Der Kopf ward ihr heiß. Sie drückte ihn in die Kissen. »Hans . . . Hans.«

Darauf nahm sie ein Tuch und schlich auf den 276 Zehen durch den dunkeln Korridor die Treppe hinab. Die Hausthür kreischte leise. Als sie die feuchtkalte Nachtluft auf den fiebernden Wangen fühlte, atmete sie auf. »Ach, das thut wohl!« Und sie eilte zu der weißen Bank im Lindengange, wo sie so glücklich gewesen. Tyras trottete mit seinem Holzkreuze bedächtig hinter ihr her. Plötzlich knurrte er warnend. Auf der weißen Bank saß eine dunkle Gestalt. »Ruhig, Tyras!« befahl die Comtesse. Den Fremdling kannte sie: Es war Loja.

»Wie kommst du hierher, Hans?«

»Und du, Marie?«

Sie umarmten sich zärtlich. »Ich dachte an gestern, Marie.«

»Ich auch. Sieh mich übrigens nicht an!« bat sie, während er ihre zarte Gestalt an eine lichte Stelle zog.

»Ich sehe so häßlich aus.«

»Häßlich? Marie. Gräme dich nie in deinem Leben um dein Aussehen, du schwarze Einfalt. Für mich giebt's im Leben nur ein Weib – das bist du! – wie du auch aussehen mögest. Ich habe nie darüber nachgedacht, was ich eigentlich an dir besonders liebte. Das wäre mir so klein, so gewöhnlich vorgekommen! Du liebst mich ja auch, obgleich ich häßlich bin. Hast du übrigens mit deinem Vater gesprochen?«

»Jetzt eben.«

»Und?«

Sie seufzte. »Ach Hans! . . . Soll ich dir etwas erzählen – etwas Schreckliches? . . . Eigentlich sollt' ich's nicht! Aber vor dir Geheimnisse? – Unsinn! Ich bin ja du, und du bist ich. Aber wir wollen auf die Bank unter der Trauerweide gehen. Da ist es ganz finster und ganz einsam, ich habe so 277 Angst um dich! Und da wirst du mich auf den Schoß nehmen und ganz fest an dich drücken . . .«

Tyras hielt die Wache, während sie unter den tief herabhängenden Zweigen des Baumes vom Abend erzählte. Sie war so düster, sie entehrte sie fast selbst, diese Beichte des Vaters, dennoch erzählte sie alles. »Du verstehst mich, Hans, du stößest mich nicht weg! Der Vater hat so schwer zu tragen, der arme Mann! Aber weißt du, die Mutter thut mir auch leid. Sie konnte ja doch nicht anders! . . . Wir müssen auch entfliehen . . . du mußt mich nehmen, so bettelarm wie ich bin. Ist's nicht häßlich, so wegzulaufen und vielleicht nie wiederzukommen? Aber denk mal, das ist dabei auch wieder so ein köstliches Gefühl, wenn man sich sagen muß: ›Jetzt bist du ganz in seiner Hand, jetzt kann er mit dir machen, was er will.‹ Du darfst mich zu Tode quälen, Hans, aber auch nur du! . . . Aber nicht wegjagen! Nicht wahr, das wirst du auch nie können? Vor dir habe ich ja gar keinen Stolz, gar nichts! Wenn du mich wegjagtest, dann würde ich doch wiederkommen, wie ein Hund . . .«

»Und wenn's nun umgekehrt wäre? . . . Aber jetzt Kopf hoch, Marie! Was das Schicksal nicht geben will, das nehmen wir ihm. Das ist unser gutes Recht. Also paß auf: Drei Tage sehen wir uns nicht. Da verläuft sich die ganze Angelegenheit schon etwas. Ich bereite alles bis aufs Kleinste vor. Du brauchst nur irgend eine Legitimation, damit wir uns in England trauen lassen können. Aber sei klug wie die Schlange! Ich muß noch nach Berlin, um mein Gehalt zu erheben, mit dem Konsul Rücksprache zu nehmen. Man weiß nie, wie sich die Reiseroute ändert, und dann sitzen wir eines 278 Tages ohne Geld da. Am Dienstag treffen wir uns bei Hasso. Ist irgend etwas passiert, schreib oder telegraphiere ihm sofort; du kannst auf seine Diskretion unbedingt bauen! Und wenn wir dann so weit sind, dann machen wir den Zeitpunkt genau fest. Ich bin ein alter Reisender und werde diese kostbare Konterbande doch noch über den Ozean expedieren können!« scherzte er. »Und nun, Marie, gieb mir noch einen Kuß, so heiß, als wenn's der letzte wäre! Ich muß ja drei Tage damit auskommen.«

Sie glitt von seinem Schoß. »Es wird noch alles gut werden. Ich habe das ganz sichere Gefühl, Hans. Behüt' dich Gott!«

»Behüt' dich Gott!«

Er ging. Tyras gönnte ihm noch einen mißtrauischen Blick. Marie aber wandelte in Träumen noch lange durch die verschlungenen Kieswege des Parkes. Sie sehnte sich nicht nach dem Schlafe. Als sie endlich zum Herrenhause zurückkehrte, hörte sie vom Gampeschkeimer Turme eins schlagen. Die Hausthür war geschlossen. Es berührte sie peinlich, obgleich ihr solche Ausschließung schon manchmal passiert war. ›Sie rechnen mich gar nicht mehr zum Hause,‹ dachte sie. ›Nun gut, wenn sie mich nicht brauchen, ich brauche sie auch nicht!‹ Sie drehte sich kurz um und ging in den Park zurück.

Als im Frühlicht ein Viehfütterer zu dem Maisfelde ging, sah er Comtesse Marie. Sie schlief zusammengekauert auf der weißen Bank. 279

 


 


 << zurück weiter >>