Johannes Richard zur Megede
Quitt!
Johannes Richard zur Megede

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Zweites Kapitel.

Es schneite nicht mehr. Ein eleganter russischer Schlitten mit zwei flinken Juckern davor bog hinter dem Thor auf die Axelsteiner Chaussee ab. Darin saßen Loja und Gampesch, unter der dicken Bärendecke wohl verwahrt. Der Rittmeister war auch heute in Uniform.

»Du gehst wohl mit dem Schnürrock schlafen?« fragte Loja bissig.

»Es sieht beinahe so aus. Als ob ich mich auf den Rittmeister dick thäte! Aber da bestellt einen so ein Bezirkskommandeur ›dienstlich‹ . . . Waffenrock . . . ganz wie 'n Fähnrich. Ich bin doch a. D. Der Teufel hole die ganze Geschichte! – Du bist fein heraus . . . nie Soldat gewesen, pfeifst auf den ganzen Krämpel! Und auch wegen gestern . . . Nee!« Er war nicht sehr bei Laune.

»Ich würde immer thun, was ich Lust hätte.«

»Jawohl! Und wenn dir die Kandarenzügel so angezogen werden, daß du kerzengerade stehst und dich höchstens überschlagen könntest? Aber das Ueberschlagen bringe ich nicht fertig – du schon eher.«

»Jeder nach seiner Façon!« gab der »Freund« achselzuckend zurück und blickte auf die Ebene.

23 Sie war von einer halbklaren Schnee-Atmosphäre überzogen. Die Sonne hing über dem schwarzen Waldsaume am äußersten Horizonte – eine blaßgelbe, matte Lichtkugel, die jetzt so recht schläfrig, langsam in die Fichten zur Nachtruhe hineinzusinken schien. Ihre letzten Strahlen glitten glanzlos, scheu über die Schneefelder, die Schatten der Chausseebäume dehnten sich ins Riesige auf den stumpf weißen Flächen. Anmutig gewellt, schier endlos lag die östliche Ebene da, wie ein beim Wogengang plötzlich erstarrtes Meer. Aber der weiten Oede fehlte, um wirkungsvoll zu sein, heute der funkelnde Schneeglanz, das leuchtende Frostfirmament. Die eingestreuten Waldstücke hatten eine verdächtige Aehnlichkeit mit großen Tintenflecken. Grau und bleiern legte sich der niedrige Himmel darüber, wie eine alte Wagenplane. So stumpf, so freudlos schaute alles drein. Aber das schien gerade in des »Freundes« Stimmung zu passen.

Die Chaussee sah aus wie ein Hohlweg; meterhoch stauten sich an vielen Stellen die Schneewände. Zuweilen sprang auf der Seite ein magerer Hase auf; ein Reh, das in einer fast verwehten Eichenschonung mitten im Felde die junge Rinde abgeäst hatte, versuchte flüchtig über das Schneefeld zu streichen; die schlanken Läufe sanken tief ein auf dem lockeren Grunde. Rebhühner liefen geschäftig umher oder saßen aufgeplustert dicht bei einander auf dem Schnee. Ringsum Stille! Nur das helle Läuten der Schlittenglocken. – Da scheuten plötzlich die Jucker. Ein Schwarm Krähen erhob sich erschreckt und kreischend aus einem Ebereschenbaume – er wollte sich hier zur Nacht einrichten – und flog – kra – kra – mit langen Flügelschlägen 24 dem Walde zu. Loja fuhr wie aus einem Traume auf. »Sind wir bald da?« Es dämmerte schon stark.

»So schnell geht's nicht!« Die Chaussee stieg etwas an; die Scenerie veränderte sich. Wald schob sich zu beiden Seiten heran, zur Rechten hob sich der schlanke Turm eines Schlosses aus den alten Bäumen eines Gutsparks. Gampesch kommentierte: »Senkenhagen, der feudalste Herrensitz hier herum. So ein Berliner Kommissionsrat hat sich das wunderschöne Gut erschwindelt.« – Bauernschlitten klingelten jetzt manchmal auf der schmalen Fahrrinne vorüber; die Kleinbauern der Gegend mit devotem Gruß, klapprige, verbrauchte Schinder vor den plumpen Gefährten. Dann wieder ein starkes, wohlgenährtes Gespann – Landleute aus dem katholischen Ermlande; sie rührten nicht an die Pelzmütze, steif waren die Nacken und hart die wie aus Holz geschnittenen Bauerngesichter.

»Wir sind hier so knapp an der Grenzscheide. Hüben Großgrundbesitz, Protestanten – drüben fast nur Bauern und ein starrer Katholizismus.«

Die grauen Dämmerungsfittiche hatten sich tiefer gesenkt – es war Nacht. Nebel wogten, die Wälder versanken. »Schneller, Fritz!« trieb Gampesch. Der Weg senkte sich, ein rotes Chausseehaus flog vorüber, aus dem Grunde schimmerten Lichter. Der Schlitten fuhr durch ein Dorf; elende Häuser, kläffende Hunde, vor der Schenke der Planwagen und die Schindmähre eines Handelsjuden, ein betrunkener Knecht, der sich fluchend bemühte, auf das Sattelpferd seines Viergespannes zu kommen. »Einer von meinen Kerls, den ich heute vormittag mit Getreide nach der Stadt geschickt habe. Ich darf ihn nicht mal fortjagen, so groß ist der Leutemangel bei uns!« flüsterte 25 Gampesch. – Dann klang es hohl unter den Pferdehufen, eine Brücke – Loja beugte sich zur Seite, um den Lauf des kleinen, eilig dahinrauschenden Flüßchens zu verfolgen, das aber hinter den Dorfhäusern sich schnell in Wald und Nebel verlor. Die Jucker griffen jetzt mächtig aus, obgleich sie wieder eine starke Bodenwelle zu überwinden hatten, dann noch einige Minuten auf ebener Bahn; links zweigte sich eine breite Lindenallee ab. Die Tiere sprangen vergnügt beim Einbiegen und wieherten nach dem warmen Stall. Der Kutscher hatte Mühe, sie zu halten. Als die dunkeln Umrisse eines Parks auftauchten, meinte Gampesch lachend: »Das letzte Ende mußt du mir zuliebe noch höchstselbst im Schnee waten; Mieze hat es so gern, wenn ich sie überrasche.«

Auf einem schmalen Fußpfad birschten sie sich durch den Park bis zum Herrenhaus – einem langen, alten Gebäude mit Glasveranda und Balkon, simpel, geschmacklos, ohne eine Spur von Feudalität.

»Das ist das gräfliche Palais?« Es klang eine leichte Enttäuschung hindurch, und der Nachsatz: »Wenn deine Comtesse hier hinein paßt, hätte ich mir den Besuch sparen können,« lag dem »Freunde« wohl nah auf der Zunge.

»Ja, Hans, bei uns werden die Herrenhäuser nun einmal nicht größer. Liegt's am Klima oder am Geldbeutel, daß sie nicht wachsen? . . . Aber komm nur erst hinein, du wirst doch überrascht sein.« Sie traten leise in einen mächtigen Flur. Alte Hirschgeweihe, Rehgehörne, struppige Eberköpfe verdeckten durch ihre überreiche Menge fast ganz das pompejanische Rot der Wände. Ueber den Stubenthüren reckten sich sogar riesige Elchschaufeln aus altersgelben Schädeln. Eine prächtige Sammlung! »Und 26 alles auf Lorscher Boden erlegt.« Es mußten Jahrhunderte dazu gehört haben, um so viel Jagdtrophäen zusammenzubringen. Gampesch betrachtete prüfend einen Ständer mit Damengarderobe. »Mieze hat Besuch . . . Ich denke, es wird Frau Domat sein. Sie macht etwas in Einfachheit. Sonst eine sehr nette Frau . . . anständige Grundsätze . . . und meine Braut betrachtet sie in Litteraturangelegenheiten als Evangelium. – Nun denn, en avant!« Er hatte schon die Hand auf der Thürklinke. »Uebrigens noch eins! Mein Schwiegervater ist ein famoser Kerl, aber mit zwei Steckenpferden: Gothaischer Kalender und sein Kartoffelpflug. Wenn du namentlich auf dem ersten mitreiten kannst, vergiebt er dir jede andre Sünde.« –

»Guten Abend, meine Damen!«

»O Gott!«

»Arthur, du?« Dann folgte eine leichte Umarmung und ein Kuß. Die Verliebten beobachteten die Reserve wohlerzogener Leute.

»Ich bringe Ihnen hier einen alten Freund mit – Leibarzt des Großmogul –, dem ich natürlich von dir, Mieze, so viel vorgeschwärmt habe, daß er eine große Reise unterbrach, nur um dich zu sehen. Und nun sollst du, kleine Zauberin, ihn so weit bringen, daß er auf diese Reise überhaupt verzichtet und hier bei Grog und Wölfen aushält.«

Loja verbeugte sich stumm.

»Indien? – Da müssen Sie uns sehr viel erzählen, Herr Doktor!« Es war der wundervolle Metallton der Stimme von gestern; die sehr lebhafte Art kontrastierte seltsam mit der ruhigen Reinheit des Klanges.

»Arzt? – Ein schöner Beruf!« Frau Domats 27 grünwässerige Augen blickten kühl auf den Fremden, und eine Nase, welche wie gebrochen aussah, so scharf war die Biegung, verzog sich etwas hochmütig. Dann setzten die Damen ein eben unterbrochenes Gespräch fort. Man saß in niedrigen Fauteuils um den grünen Eckkamin. Große Tannenscheite knisterten und sprühten; hoch lohte die Flamme und gab den Gesichtern den warmen, mattleuchtenden Bronzeton. Sonst brannte kein Licht. Die Comtesse liebte kindisch die Kaminplaudereien. Ueber den Lichtkreis hinaus lag ein gemütliches Halbdunkel. Goldene Bilderrahmen blinkten vertraulich, der Messingpendel der alten Uhr unter dem großen Spiegel wiegte sich gleißend. Kalt blitzte das Spiegelglas herüber, die Gegenstände in dämmeriger Verschwommenheit reflektierend. Aber an gewissen unschönen Linien, an dem tiefen Glanz des nachgedunkelten Mahagoni erkannte man doch die Einrichtung als Erzeugnis der poesielosen Dürftigkeit der dreißiger Jahre.

»Sehen Sie, Comtesse Marie, ich besuche jeden Kranken im Dorf!« Frau Domat sprach die rollenden »Rrs« und die Vokale sehr deutlich. Ihre Redeweise erhielt dadurch etwas unangenehm Bestimmtes.

»Gnädige Frau ist nämlich die heilige Elisabeth in unsrer Gegend.«

»Sie übertreiben, Herr v. Gampesch,« wehrte sie mild.

»Thu' ich das, Mieze?« Er saß dicht neben ihr und streichelte ihre kleine Hand.

»Gnädige Frau opfert sich auf!« bestätigte die Comtesse überzeugt.

Von Lojas Sessel, der ein wenig zurückgeschoben stand, kam ein leichtes Räuspern. Die Comtesse warf einen schnellen, argwöhnischen Blick zur Seite, 28 und die kleine, scharfe Falte, die sich jetzt zwischen ihre Augen legte, verschwand den ganzen Abend nicht mehr, sie fühlte instinktiv einen Widerwillen gegen diesen Fremden.

Comtesse Marie war keine Schönheit, vielleicht nicht einmal sehr hübsch, aber in jenem glücklichen Alter, wo junge Mädchen schon schielen müssen, um häßlich zu sein. Kaum mittelgroß, mit feiner Taille, schlanken, geschmeidigen Gliedern, hatte sie in der Bewegung jene pikante Mischung von ungesuchter jungfräulicher Anmut und der bewußten Würde der angehenden Frau. Das Gesicht war unregelmäßig, von nervöser Beweglichkeit der Züge, der Teint durchsichtig, olivengelb, was ihr unter den blonden Schönheiten des Ostens den Namen »Zigeunerin« verschafft hatte. Unter dem nonnenhaft gescheitelten, pechschwarzen Haar eine niedrige Stirn, ein Paar schöner Augen, dunkel, tief, Augen, die so recht von Herzen lieben und hassen konnten, und ein roter, leidenschaftlicher Mund, zu groß, um hübsch zu sein, der aber sicher halten würde, was die Augen versprachen.

»Ja, wenn ich nicht einen Mann hätte, der mich versteht! . . . Gemeinsamkeit des Denkens, Fühlens, Handelns, das ist die Ehe! . . . Die Leidenschaft der ersten Jahre? – Man lächelt später darüber. Sie werden das auch thun, Comtesse Marie . . . Reine Freuden!«

Gampesch lächelte mit liebenswürdiger Verschmitztheit.

»Ist das nicht etwas langweilig auf die Dauer?« fragte Loja. »Das heißt: ich glaube bei allen Frauen, Sie ausgenommen, nicht an die himmlische Friedfertigkeit. Balzac sagt einmal: ›Die Ehe ist ein Kampf bis zum Tode.‹ Und er kannte die Frauen!«

29 »So? Kannte er sie? Vielleicht Französinnen! Doch eine deutsche Frau, die noch Ideale hat . . .«

»Ja, ja, die deutsche Frau!« erwiderte er ernsthaft.

Der verschleierte Hohn riß sie zu einem langatmigen Exposé hin, einem Exposé voll banaler Gemeinplätze. Der kategorische Imperativ, heilige Pflicht, Ideal, Thron, Vaterland wirbelten da durcheinander. Es war die halbverdaute Konversationslexikonsbelesenheit einer Frau, die Phrasen um ihrer Unklarheit willen liebt und nebenbei die feste Ueberzeugung hat, daß sie, die Landsmännin des großen Kant, mit der Luft seiner Heimat auch etwas von seiner reinen Vernunft eingesogen haben müsse.

Die Comtesse liebte das klingende Wort, und ihren einundzwanzig Jahren imponierte das philosophische Kauderwelsch mächtig. ›Ha, wie die dich abtrumpft!‹ dachte sie. Doch so oft sie auch triumphierend zu dem »Freunde« hinsah, sie hatte dabei das ungemütliche Gefühl, daß der Mann durchaus nicht geschlagen, daß vielmehr sein Schweigen, die ironischen Fältchen um Augen und Mund eine recht ungezogene Antwort seien.

»Gnädige Frau sind erst gestern wiedergekommen?« fragte Gampesch, als der Redestrom etwas spärlicher floß.

»Am Morgen, Herr Rittmeister. Ich hatte Pech auf der Reise. Kein Schlafwagenplatz mehr frei. Es war immerhin noch ein Glück, daß in meinem Coupé erster Klasse nur noch ein einziger Herr saß. Eine Dame wäre mir freilich lieber gewesen. Herren gegenüber bin ich stets mißtrauisch. Sie haben zuweilen eine fatale Art, Reisebekanntschaften anzuknüpfen. Dieser allerdings hatte das Aussehen eines Offiziers in Zivil. Aber man hat zu viel von eleganten Gaunern und Bauernfängern gehört. Ich 30 drücke mich in eine Coupéecke. Da entfaltet er eine Zeitung – die Kreuzzeitung. Und ich wußte auf der Stelle,« fuhr sie emphatisch fort, »daß der Mann ein Ehrenmann sein müsse!«

Gampesch nickte zustimmend. Loja fuhr sich, als sei er abgespannt, nachlässig mit der Hand über Gesicht und Stirn.

»Und jeder anständige Mensch wird hoffentlich beistimmen!« rief die Comtesse etwas erregt. Sie hatte des Fremden Handbewegung als Kritik gedeutet. ›Der Mensch paßt nicht zu uns,‹ entschied sie jugendlich-schnell.

»Denken Sie sich, Herr v. Gampesch, daß der Herr sich als Ihr letzter Eskadronchef aus B. herausstellte.«

»Der Apoll, von dem du mir gestern bei Sauer erzähltest?« warf Loja ein.

»Vermutlich!« Er lächelte nur mühsam und war etwas rot geworden.

»Waren Sie gestern auch in der Stadt?« fragte Frau Domat. »Bei Sauer soll es ja mal wieder toll zugegangen sein!«

»Ich bin schon sehr früh weggefahren.«

»Natürlich, als vornehmer Mann, dem solche Orgien zuwider sind! Der berüchtigte Gellmann ist sinnlos betrunken gewesen, hat mit Sektgläsern geworfen. – Und Lieder sind gesungen worden! – Oberst v. Lette, den ich heute in der Konditorei traf, findet es unverständlich, daß man mit einem Gebrandmarkten wie diesem Gellmann auch nur fünf Minuten in demselben Lokal aushalten könne – einem aus dem Landwehroffiziercorps wegen infamer Gesinnung exkludierten Menschen!«

»Gnädige Frau haben vollkommen recht. Duell 31 verweigert . . . andre schwierige Sachen . . . Aber es war, wie gesagt, eine rein geschäftliche Zusammenkunft. Wir können ihn – einen der Gründer – doch nicht aus der Genossenschaft hinauswerfen. Der Herr Kommandeur hat mir heute schon die Leviten gelesen . . . nicht angenehm . . . am Ende ist es ja doch nur seine Pflicht!«

»Sie sind ja auch weggegangen, Herr Rittmeister. Aber nachher! Alles betrunken . . . Dann noch gespielt! . . . Die armen Frauen! – Der Haupträdelsführer soll ein Fremder und Freund Gellmanns gewesen sein, der reinen Rum aus Wassergläsern trank. Mir wird schon schlecht bei dem Gedanken! Wie hieß der Mann denn? . . . Er ist wohl nach Ihnen gekommen, Herr v. Gampesch?«

Loja hatte sich im Fauteuil etwas aufgerichtet. »Der Fremde, das Kaninchen, sitzt hier, gnädige Frau!«

»Sie? – Das ist unmöglich!«

»Vielleicht doch! Die Groggeschichte stimmt zu auffällig. Aber um Sie zu beruhigen, meistens nehme ich auf das Liter Rum doch ein Gramm Wasser.«

»Aber ich bin überzeugt, daß ein Herr v. Loja . . . Herr Füllenius ist mein Gewährsmann . . . Es kann nur eine Verwechslung sein . . .« Ihr war es offenbar sehr peinlich, die Klatscherei nacherzählt zu haben.

»Sie sind zu gütig! Aber ich trinke wirklich viel Spirituosen. Eine gemeine Passion, ich gebe das zu. Bedenken Sie jedoch, daß ich fünf Jahre in einer verzweifelten Fiebergegend war, wo es nur zwei Diäten giebt: keinen Tropfen Alkohol oder immerwährend welchen! Ich wählte aus guten 32 Gründen die letztere. – Und daß ich so lange in einer Gesellschaft blieb, die weder hoffähig noch nüchtern war? Alte Schwäche! Der Tropfen Plebejerblut rächt sich nun einmal, den ich durch meine Mutter in den Adern habe . . . Sehen Sie, Gnädigste, wer im Leben zu viel gut maskierte Schurken und Narren gesehen hat, dem ist es geradezu ein Genuß, auch mal der nackten Bestie zu begegnen. Und die Hauptsache: Ich habe den guten Orschauern viel Vergnügen gemacht; ich wollte, ich bliebe länger hier – ich würde ihnen noch ein größeres machen und mit diesem Gellmann oder wie er heißt – mir ist weder Name noch Gesicht erinnerlich – Brüderschaft trinken, selbst wenn er eine Bagnofessel am Beine nachschleppte!«

Die Zuhörer schwiegen verlegen. War es Scherz oder Ernst? Der Ton ließ beides zu. Zum Glück ertönte jetzt auf dem Flur eine etwas polterige, laute Herrenstimme: »Besuch da, Friedrich? – Vesper bestellt? – Natürlich vergessen . . . Ihr Schlingels habt's hier alle zu gut!« Und hinter dem Diener, der mit zwei Lampen eintrat, erschien der Graf Wilnein. Der Typus eines ostpreußischen Landedelmannes. Eine mächtige Gestalt, die trotz des langen weißen Bartes und des kahlen Schädels eine jugendliche, straffe Haltung hatte. Hochmut, Güte, eine Portion Bauernschlauheit vereinten sich seltsam in diesem Gesicht, das durch die kräftige Adlernase und den Stahlglanz der grauen Augen etwas entschieden Vornehmes hatte. Die Tochter hatte von dem Vater keinen Zug!

»Guten Abend, gnädige Frau. Sehr gütig, daß Sie den verschneiten Lorschern die Langweile vertreiben kommen! Fängt jetzt wieder an zu stürmen. 33 Doch es wird kalt, denke ich.« Er küßte mit altmodischer Galanterie Frau Domat die Hand und wandte sich dann zur Tochter, ihren kleinen Kopf liebevoll zwischen seine Hände nehmend: »Na, du Einzige?« Er war in heiterster Stimmung, die aber sofort einer gewissen Reserviertheit wich, als er den Fremden bemerkte.

»Darf ich Ihnen, Papa, den Freiherrn v. Loja aus dem Hause Dessenheim vorstellen?« sagte Gampesch respektvoll. »Dessenheim, eines der ältesten fränkischen Freiherrengeschlechter!«

»Dessenheim? Verzeihen Sie einen Augenblick!« Etwas steifbeinig stampfte der Graf ins Nebenzimmer, um bald mit dem Freiherrlichen Taschenbuch und dem Adelslexikon zurückzukehren . . . »Da haben wir Sie gleich! . . . à la bonne heure! Ein Zweig von Ihnen hat schon um 1400 die Reichsstandschaft gehabt . . . ausgestorben . . . auch der . . . der Stammbaum lichtet sich nach der Krone hin bedenklich . . . Sie sind wohl einer der Letzten, wenn nicht gar der Letzte Ihres Stammes?«

»Ich habe die Ehre, Herr Graf.«

»Die ist vielmehr auf meiner Seite. Bin außerordentlich erfreut! Geben Sie mir die Hand, Herr Baron!« Er schüttelte sie mit einer für die erste Begegnung beinahe komischen Herzlichkeit, vertraulich hinzufügend: »So alter, unbezweifelter Adel, das ist gar nicht häufig! Und das junge Gemüse von heute taugt durch die Bank nichts.« Das war so eine gefundene Sache für diesen alten Junker, den Standesgenossen über den Stammbaum auszuforschen, vielleicht eine Verwandtschaft herauszutüfteln – seine besondere Passion. »Loja? – In den Geschlechtsregistern der Natzfelds – meine 34 verstorbene Frau war eine – kommen welche Ihres Namens vor . . . In der Armee trifft man sie nicht – merkwürdig!«

»Solange es stehende Heere giebt, wohl nicht einen einzigen.«

»In meinen Augen durchaus kein Mangel, lieber Baron! Sie waren ja auch schon große Herren, da wir als bettelarme Buschklepper im Ordensheer mitritten. – Etwas Frondeure – was? Mir ist es so! Teufel auch! Die rechten Reichsrittersippen konnten sich natürlich schwer daran gewöhnen, vor einem Potentaten den Nacken zu beugen. Bei uns ist das ganz etwas andres. Solche Kirchenmäuse mußten froh sein, wenn ihnen irgend ein hoher Herr einen tüchtigen Fetzen zuwarf. – Und Sie? Grundbesitzer natürlich! Der Edelmann gehört auch auf seine Hufe.«

»Erst eine haben – ich bin Arzt.«

»Wenigstens freier Beruf! Sie haben Herzöge zu Kollegen . . . Unter uns gesagt: mir ist es sehr recht, daß Gampesch nicht mehr aktiv ist. Heutzutage, wo nur ein paar Regimenter mit Edelleuten besetzt sind – und welche Sorte darunter! Die Großväter nobilitierte Leineweber oder Schuster.« Daß Loja schon morgen weiterreisen wollte, erschien dem Alten wie eine Beleidigung. »Das dürfen Sie uns nicht anthun! Unsre alte, gut ostpreußische Gastfreundschaft duldet das einfach nicht. Wenn es Ihnen bei dem Junggesellen Gampesch unbehaglich ist, kommen Sie zu uns. Ich lasse Ihnen noch heute Zimmer einrichten.«

»Aber ich danke wirklich!«

»Und Sie wären so angenehm gewesen – gerade der Arzt! – Unser Hausdoktor, der Geheimrat, ist 35 ja ganz tüchtig, aber« – er sah sich um und sprach leise weiter – »ein unglaublicher Kerl! Hat er irgend eine Dame aus der Gesellschaft zu behandeln, kann man sicher sein, daß er ihren ganzen Körper den Orschauer Referendarien abends auf den Kneiptisch zeichnet. So was sieht sich ganz nett an – aber wenn ich an meine eigne Tochter dabei denke, . . . Wie gefällt sie Ihnen übrigens? Keine Schönheit! Doch ein herzensgutes Ding! Mir ersetzt sie den Sohn vollkommen. Wenn ich nun so einen talentvollen Nichtsnutz hätte wie zum Beispiel Gampeschs Bruder, der Ehre und Reputation auf eine Jeukarte setzt und verliert! . . . Der hier ist ein tüchtiger Mensch, zum Ehemann meiner Mieze wie geschaffen . . . Der Junge hat überhaupt Glück: Reiches Mädel . . . alte Familie . . . und häßlich ist sie doch auch nicht. – Dem jungen Doerstedt war die Verlobung sehr gegen den Strich . . . hatte selber Absichten . . .«

Die Comtesse hatte scheinbar angelegentlich mit den andern geplaudert, ohne daß ihr ein Wort dieser Unterhaltung entgangen wäre – einer Unterhaltung, die gar nicht nach ihrem Herzen war. – Was war ihr stolzer Vater so ungemein liebenswürdig, beinahe geschwätzig? Aus Hochachtung vor der alten Familie der Lojas? Grafen waren doch jedenfalls vornehmer! . . . Konnte man sie überhaupt mit dem Fremden vergleichen – ihren Vater oder Arthur, diese adligen Gestalten und adligen Gesichter, von der adligen Gesinnung gar nicht zu reden? Unter den halbgesenkten Wimpern warf sie zuweilen einen verstohlenen Blick hinüber. Sie sah scharf, sehr scharf! Wie seltsam es manchmal in diesem Plebejergesicht zuckte, wie schwer verhaltener Haß! 36 Der meinte es sicher gar nicht gut, weder mit uns noch mit dem Bräutigam! Es beschlich sie ein vages Angstgefühl, welches sie aber schnell mit dem Wilneinschen Hochmut dämpfte: ›Was kann uns der Doktor! Und behandeln ließe ich mich von ihm auch in der höchsten Not nicht!‹

Der Diener servierte am Mitteltisch das Vesper.

»An die Gewehre, meine Herrschaften!« rief der Graf aufstehend. »Das Schweinevesper, wie wir Bauern das hier nennen, ist mir das liebste. Präparieren Sie sich den ostpreußischen Maitrank, lieber Baron! – aber steif! Das ist gut nach solcher Fahrt.«

Auch die andern erhoben sich. Frau Domat mit einem freundlichen Blick auf Loja, der jetzt wieder vollkommen rehabilitiert erschien.

»Dir steht die Uniform wunderhübsch, Arthur!« sagte die Comtesse stolz. »Du solltest sie immer tragen!«

»Kleiner Kindskopf!« schalt der Graf gutmütig. »Lackstiefeln auf Sturzacker geht doch nicht!«

»Warum nicht? Du hast ja auch heute den Johanniter um, Arthur, und die andern Orden. Das ist der Annenorden . . . da ist auch ein exotischer . . . Ich habe den Namen wieder vergessen!« Sie lachte, zog aber sofort verdrießlich die Lippe, als Loja hinwarf: »Ah, Bahnhöfe unsicher gemacht!«

»Sie haben keine Orden, Herr Doktor?« Die Replik war spitz und herausfordernd.

»Sehen Sie, Baron, was meine Tochter für eine Kratzbürste ist? Immer klar zum Gefecht!«

»Die Comtesse hat auch meinen wundesten Punkt getroffen. Zehn Jahre meines Lebens, wenn ich nur den ›Exotischen‹ hätte! . . . Wie hat aber der gute Arthur dafür leiden müssen! Welche 37 Folterqualen, ehe der Prinz kam! Neue enge Stiefel, der Attila geschnürt zum Ersticken . . . Und vielleicht verschiebt sich im entscheidenden Moment die Binde . . . oder Hoheit gefällt seine Nase nicht. Die Angst gönne ich meinem besten Freunde nicht!«

Man lachte. Die Comtesse brachte der Spott beinahe zum Weinen.

»Er ist ein verkappter Anarchist,« drohte Gampesch. – »Edelmann bleibst du doch, Freundchen! Man braucht nur deine Hand anzusehen.« Und in Wahrheit war diese Hand das einzige Aristokratische an Loja – eine schöne Hand, schmal, weiß, mit zartem, blassem Geäder, wie die einer Frau. Es war, als wenn in diese feinen, schlanken Finger mit den langen, rosigen Nägeln sich all die Grazie, welche dem übrigen Körper versagt war, gewissermaßen konzentriert hätte.

»Ganz wie bei deinem Rapphengst mit den zwei weißen Haaren im Schwanz – zum Zeichen, daß irgend ein Urahn Schimmel gewesen sei,« gab Loja wegwerfend zurück.

»Waren Sie ein guter Fechter?« fragte Frau Domat mit einem Blick auf seine dunkelrote Säbelquart . . . »Mein Bruder war Saxoborusse.«

»Damit kann Loja auch aufwarten, gnädige Frau. In Bonn aktiv. Ob er fechten konnte! Diese Hand hier stand in dem Renommee, jede Parade durchzuschlagen.«

Die Damen sahen etwas ungläubig auf diese Frauenhand, die so recht matt-nachlässig auf dem altdeutschen Tischtuch lag. Loja meinte achselzuckend: »Ein Ruhm, auf den Kinder stolz sind; ich erinnere mich nur ungern dieser Zeiten.«

»Das glaube ich nicht, Hans! Ich war an 38 jenem Tage, wo du dir das Ehrenröslein holtest, mit dabei – und alle Achtung vor deiner Klinge.«

»Wie war die Sache?« fragte der Graf, der ein ritterliches Interesse an allen Raufereien nahm

»Es ist eine blutige Geschichte, meine Damen,« begann Gampesch lächelnd, »die sich in Berlin abspielte. Die Veranlassung, wie bei allen solchen Gelegenheiten, eine Lappalie – aber Hans war im Recht.«

»Das war er nicht! Ich hatte die Reprimande von dem langen Drosselstein nur verdient.«

»Dann mußt du deine Ansichten vollkommen umgekrempelt haben!«

»Vielleicht.«

»Jedenfalls nahmst du die Sache damals verdammt ernst, Hans. – Also – stellen Sie sich den großen, schmutzigen Saal eines Gartenhauses im äußersten Osten von Berlin vor, angefüllt mit Studenten in Couleur, Gästen, Paukärzten in ihren weißen Kitteln, alles rauchend, biertrinkend, gespannt. In der Mitte war ein freier Raum für die Fechtenden, der Fußboden dort blutiger Schmutz, weil schon vierzehn Paare gefochten hatten. Darüber schwebte eine Atmosphäre, wie ich sie mir in einem vollgepfropften Feldlazarett denke – Karbol, Jodoform, Blut in einer widerlichen Mischung. Es gehören gute Nerven dazu, wenigstens das erste Mal. Auf die Mensur traten jetzt die Fechtcelebritäten des Semesters: Graf Drosselstein, zwei Köpfe größer als ich, schlug eine tadellose Quart – und bei dem Sünder hier ging es ohne Knochensplitter nie ab. Mein Bruder, der viel vom Mensurfechten verstand, war auch mitgekommen und versicherte, daß er blindlings und gegen jeden Gegner auf Loja halten 39 würde . . . ›Paß auf, gleich beim Anhieb!‹ – ›Klingen gebunden?‹ – ›Sind gebunden!‹ – ›Los‹! Die schweren Säbel blitzten durcheinander; auf einmal: ›Halt!‹ Die Sekundanten werfen sich dazwischen. Uns bot sich ein scheußlicher Anblick. Hans hatte gleich im ersten Gange eine fast unparierte Quart hineinbekommen. Die linke Backe klaffte vom Ohr bis zum Mund eine halbe Handbreit auseinander. Das Blut strömte. Die Aerzte mit den Karbolschwämmen springen zu und wischen. Man konnte zuweilen die ganze Zahnreihe sehen.«

»Entsetzlich!« schrie Frau Domat mit verzogenem Gesichte. Die Comtesse sah gleichgültig auf das Tischtuch. Ihr war der Ausgang recht.

»Weiter, weiter!« mahnte der Alte, dem die Augen vor Kampfesfreude blitzten.

»Ich hatte mich weggedreht; die Schlächterei war mir ekelhaft! ›Natürlich ist es zu Ende!‹ Der Ansicht waren wohl auch die andern. Da höre ich ein halblautes Zwiegespräch. ›Abfuhr . . . selbstverständlich!‹ Es war der Unparteiische. – Dagegen Loja, der zwischen den zusammengebissenen Zähnen die Worte hindurchpreßt: ›Ich schlage weiter, oder ich schmeiße euch den ganzen Krämpel vor die Füße und kontrahiere auf der Stelle wieder!‹ – Weiß Gott, nie sahst du dem Stier, den ihr im Wappen führt, so ähnlich wie damals – ordentlich zum Aengstigen!

»›Aus seiten der »Saxonia« ein Blutiger,‹ konstatierte nach einer Pause gleichmütig der Unparteiische. Durch die Zuschauer ging eine Bewegung. ›Aber der kann doch nicht mehr pauken!‹ Es gehörte eben deine Energie dazu, da noch weiter zu machen. Mein Bruder war entzückt und flüsterte mir zu: ›Jetzt muß Drosselstein dran glauben! Es geht um 40 Kopf und Kragen . . . ich kenne Loja!‹ Wir andern aber waren nicht so hoffnungsvoll. Wie sie sich so gegenüberstanden mit ihren dicken Paukbrillen und Achselbandagen, Hans blutbesudelt, totenblaß – der lange Drosselstein frisch, selbstbewußt, war der Ausgang ziemlich klar. Es fing matt an, wenigstens bei Hans, der abwartend, sich sammelnd in der Parade lang, während sein Gegner a tempo schlug. So gingen drei Gänge vorüber. Beim vierten schlug Drosselstein, offenbar um ein Ende zu machen, sehr scharf an . . . schupp, schupp! . . . Quart, Terz nach . . . Hans regte sich ein wenig . . . ein leichter Fintenhieb und darauf ein langer, pfeifender – sein berüchtigter Temporalishieb! Der lange Drosselstein brach auf der Stelle zusammen. ›Wie 'n Rehbock!‹ sagte mein Bruder. Der Erste der Saxonia war natürlich der Held des Tages. Wie warm ihm seine Corpsbrüder die Hand drückten! Der Unterlegene stoppte eine Nasenlänge vor der Himmelspforte. Das Stirnbein war ihm an der Schläfe durchgeschlagen. – Weißt du übrigens, daß er später bei uns aktiv werden wollte? Nicht felddienstfähig! Du hast ihn zum Armeekrüppel gemacht, Hans . . . Offen gesagt, meine Herrschaften, seit jenem Tage habe ich eine gewisse Angst vor Loja! Er kann so heimtückisch lang bis zum Hieb warten!«

»Du entwirfst ein nettes Bild: Raufbold und Bravo! . . . Das alles liegt jetzt so weit hinter mir, daß ich nicht einmal beschwören kann, du habest heute keine Räubergeschichte aufgetischt.«

Der Alte hatte sich an der Erzählung ordentlich gelabt. »Da sieht man die Vollblutzüchtung! Schütteln Sie nicht den Kopf, Baron! So habe ich Sie beim ersten Blick taxiert.«

41 Sah er falkenscharf, oder war er stockblind, der alte Junker, der so auffallende Sympathien für den »Freund« an den Tag legte? Politik, soziale Fragen kamen im Laufe des Abends noch auf das Tapet. Loja beobachtete eine einsilbige Höflichkeit, die nach der grollenden Ueberzeugung der Tochter im schlechten Verhältnis zu der heute so warmen, weit über das Ziel hinausschießenden Offenheit des Vaters stand, vor allem aber zu jener achtungsvollen Vertraulichkeit, mit der er sonst auch völlig Ebenbürtigen gegenüber so sparsam war. Die Comtesse war dagegen unliebenswürdig, gereizt – auch gegen den Bräutigam. Ihre hochmütige Lippe zuckte. ›Er ist ein Feind!‹ wiederholte sie in eigensinnigem Monologe.

Gampesch fragte, ob nicht dem »Freunde« das Herrenhaus gezeigt werden könne: »Er war vorhin ein wenig mißtrauisch.« Der Graf führte. Die Kronleuchter und Kandelaber waren angezündet wie bei einem Feste. Und eigentlich konnte diese Reihe mächtiger Zimmer für den Vielgereisten doch kaum von Interesse sein. Altmodische Einrichtungen, dürftig, die vielfach fadenscheinig und blaß gewordenen Stoffe im vollen Einklang mit der peinlichen Ordnung und dem gewissen leicht dumpfigen Geruche des Alters. Hie und da zwar ein wertvolles Stück – ein mit kostbaren Hölzern eingelegter Tisch, ein altersschwarzer Riesenschrank, reichgeschnitzt, mit Hunderten vom Wurm angenagter Figuren, eine herrliche Vase aus Sèvresporzellan – alles Dinge, die offenbar gar nicht hierher gehörten und so mißvergnügt-hochmütig dreinschauten wie vornehme Verbannte.

»Das stammt hier meist aus einer eisernen, bedürfnislosen Zeit,« sagte der Graf feierlich. Sein 42 Gesichtsausdruck war ein andrer geworden. Die buschigen Brauen zogen sich zusammen, um den Mund lag ein eigner Zug, und in den alten Augen wetterte es. »Sie haben gekämpft, gesiegt, die Ahnen. Mag ihnen manchmal schwer geworden sein! Schwerer als dem Nachkommen? – Ich sage Ihnen, Baron, wenn er sie nicht gehabt hätte, ihr Beispiel – er wäre elend zu Grunde gegangen!« Die alten Stahlstiche in ihren schwarzen Rahmen sahen düster wie zur Bestätigung hernieder.

»Was hast du, Papa?« fragte die Comtesse mit liebevoller Angst und schmiegte sich an ihn.

»Nichts, Kind,« – der Blick wurde weich – »nur daß ich alt werde und ganz vergessen habe, daß die Jugend ohne Glimmstengel nicht mehr auskommen kann. Ich werde gleich welche holen . . .«

Als er fort war, fragte Frau Domat halblaut: »Knüpft sich eine unangenehme Erinnerung an dies Zimmer?« fuhr aber, ohne die Antwort abzuwarten, in Bewunderung eines Kupferstiches über dem Sofa fort: »Belagerung von Wolgast . . . wie unvergleichlich die Schanzkörbe, die Geschütze, der Große Kurfürst selbst! . . . Welch ein Monarch! . . . Sehen Sie, Herr v. Gampesch, die Stadttürme im Pulverrauch, die wunderbare Abtönung dieser drohenden Wolkenwand daneben! . . .« Sie war im Fahrwasser. Die Comtesse kannte trotz ihrer Verehrung für die Freundin gerade diese Abhandlung zu gut, um recht zuzuhören. Wo war aber der Fremde? Sie trat einige Schritte vor. Da stand er in ihrem Zimmer. Es war das letzte der Flucht und das einzig moderne – mit seinen weichen Eseltaschenpolstern, den golddurchwirkten Portieren, dem Smyrnateppich und den großen Makartbouquets ihr ganzer Stolz. Der 43 Fremde wühlte in der Kartenschale und nahm aufs Geratewohl eine heraus – sie wußte welche, und die Röte des Unwillens färbte ihre Wange dunkel.

Marie Reichsgräfin von Wilnein
Stiftsdame des adligen Fräuleinstiftes Daruth
als solche mit dem Range der Räte erster Klasse
und dem Prädikat: gnädige Frau.

Daß er auch gerade diesen Beweis einer kindischen Eitelkeit finden mußte! Ihre unverheiratete Tante war an diesen Visitenkarten schuld. Und wie er so dastand mit seinem häßlichen Profil, seinem infamen Lächeln – die Karte in der Hand wiegend und dann mit einer lässigen Fingerbewegung in die Schale zurückschnellend! Hatte er ihren bitterbösen Blick gefühlt? Er drehte sich langsam um und sah der Comtesse ins Gesicht, ohne auch nur einen Versuch zu machen, das hämische Lächeln zu unterdrücken.

»Gnädigste Gräfin sind ja auch Großwürdenträgerin!«

Sie wollte auffahren: die Dame des Hauses verlangt einen andern Ton! Aber die Scham der Erwachsenen, sich als eiteln Backfisch entlarvt zu sehen, lähmte ihr die Zunge. ›Ich wills ihm gedenken!‹ Heißblütig, wie sie war, erwog sie nicht viel, ob er recht hatte oder nicht.

*

Die Gäste waren fort. Der Graf und Marie im Kaminzimmer allein.

»Na, wie gefällt er dir, Töchterchen?«

»Ich hätte Arthur solche Freundschaften nicht zugetraut.«

»Du bist kapriziös wie alle Frauen! Dir gefällt seine Figur nicht und sein Gesicht – folglich taugt der ganze Kerl nichts. Ihr klebt immer an 44 Aeußerlichkeiten, so oder so! Wenn er gesagt hätte: ›Comtesse, welch wunderschönes Organ!‹ du hättest ihn scharmant gefunden. – Solche Burschen habe ich gerade gern: stiernackig, verbissen – da ist Rasse drin!«

»Ich bin müde, Papa!« schmollte die Comtesse.

Der Graf wurde ärgerlich. »Gewöhne dir, bitte, die Kindereien ab, Mieze! Freiherr v. Loja wird hoffentlich länger hier bleiben und bei uns verkehren. Hast du auch etwas gegen ihn, so erwarte ich doch von der Comtesse Wilnein, daß ihm dies kein einziges Mal bewußt wird.«

»Soll ich lügen?«

»Gewiß nicht!« Seine Stimme wandelte sich zu liebevollem Ernst. »Aber du sollst dich auch nicht von deinem heißen Blut belügen lassen. Du ahnst nicht, was solch heißes Blut alles anrichten kann! Ist für dich ein wirklicher Grund vorhanden, gegen diesen Loja feindlich zu sein, dein Vater wäre der letzte, dich zum Lügen zu zwingen . . . Und nun, du kleine Langschläferin, werde ich mich zuerst zu Bett machen, du wirst trotz deiner Müdigkeit wohl noch einige Stunden Romane lesen,« spöttelte er gutmütig.

»Gute Nacht, mein lieber Vater.« Sie küßten sich.

Lange noch saß die Tochter nachdenklich am Kamin. Im Hause war es still geworden. Der alte Gutsnachtwächter pfiff die zehnte Stunde; die von der Kette gelösten Wolfshunde jagten mit kurzem, drohendem Anschlag am Herrenhaus vorüber zu den Insthäusern. Dann legte sich die Totenstille der Winternacht auf das Herrenhaus von Lorschen.

Die Comtesse erhob sich und nahm eins der tief herabgebrannten Lichter vom Kaminsims. Ihre schönen Augen hatten einen angstvoll gespannten Ausdruck. Sie schritt wieder durch die alten Zimmer, 45 leichten Fußes, einer Nachtwandlerin gleich. Die flackernden Lichtreflexe hüpften wie Irrwische durch die hohen Räume; hie und da trat ein altes Bild scharf hervor, Metallbeschläge grinsten, der Wurm bohrte emsig in dem alten Holze, eine Diele knarrte. Die Spukgeister von Lorschen schienen sich zu regen – nicht für Comtesse Marie, die alles in dem väterlichen Hause zu genau kannte und zu lieb hatte, um es zu fürchten.

Vor der »Belagerung von Wolgast« blieb sie stehen – nicht um den selten schönen Stich zu bewundern – sie fesselte ein andres Bild, ein schon verblaßtes Daguerreotyp aus der Etagere darunter. Sie nahm es in die Hand. Es war das einzige Bild ihrer Mutter, noch aus der Zeit der Flitterwochen. Der Vater sah es niemals an, ja er mied sogar den Raum darum ängstlich. Zuerst hatte die Comtesse geglaubt, daß er eine alte Wunde nicht aufreißen wollte: er hatte die kurz nach Maries Geburt Verstorbene heiß geliebt! Doch älter und feinfühliger geworden, witterte sie ein Geheimnis; zuweilen deuchte es ihr, daß es ein schreckliches sein müsse.

Mit gefalteter Stirn starrte sie auf das Bild, lange, ernst, wie um es zu durchdringen. Halblaut sprach sie dabei: »Ich habe dich nie gekannt! War es ein Glück oder Unglück, ich weiß es nicht . . . Aber sage mir, was steht zwischen meinem Vater und meiner Mutter? . . . Sprich! – Nur der Tod? Hat er dich so wahnsinnig geliebt, daß er auch jetzt nach zwanzig Jahren dein Bild nicht sehen, deinen Namen nicht nennen will, weil ihm die Erinnerung an den Verlust unerträglich ist? Oder . . . hat dein Natzfeldsches Blut etwas verbrochen, was er weder 46 vergeben kann noch will? . . . Mutter, ich beschwöre dich!« – Doch wie sehnsüchtig sie auch nach einem Zeichen suchte, in dem Gesichte regte sich nichts. – Sie waren von einer wunderbaren Aehnlichkeit, die beiden, trotz Mode und Zeit – dieselben heißen Natzfeldschen Augen, derselbe hingebende Mund, selbst die kleine Falte zwischen den Wimpern.

Die Tochter stellte unbefriedigt das Daguerreotyp weg und murmelte: »Ich habe ein Wilneinsches Herz.«

Kannte sie sich so genau, die »verzogene Einzige«? Oder war es nur der dünne Lack der anerzogenen Ideen und Ueberzeugungen, der sie über ihr Inneres täuschte, das vielleicht gut Natzfeldisch war: leidenschaftlich, großherzig, skrupellos, wenn es einmal Feuer gefangen hatte? 47

 


 


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