Johannes Richard zur Megede
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Johannes Richard zur Megede

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Siebzehntes Kapitel.

Seitdem war eine Woche vergangen, und der Fuchs trabte wieder flüchtig unter dem Damensattel. Die Comtesse kehrte gegen elf Uhr von einem Frühritt zurück, frisch, etwas hungrig. Auf dem gelben Sande der Auffahrt lief eine schmale Wagenspur. Als der Diener im Flur Marie Hut und Reitgerte abnahm, berichtete er gleichzeitig geschwätzig: »Typhus im Dorf, der Geheimrat aus Orschau ist da, auch der Herr Rittmeister sind eben gekommen.« Ein angenehmer Geruch von Rührei und scharf gebratenem Filet drang durch die Thürspalte.

»Guten Morgen, Herr Geheimrat! . . . Grüß Gott, Arthur!«

Der alte Arzt unterbrach sich bei ihrem Anblick jäh in seinem Gespräch. Sie kannte seine Spezialität: scheußliche Krankheitsgeschichten – und sehnte sich nicht nach der Fortsetzung. Ein riesiges Stück Elbinger Käse wurde eben noch mit dem Messer zwischen die häßlichen Kiefern des Geheimrats geschoben, dann ein unangenehmes Schmatzen der brutalen Lippen mit dem stoppeligen Graubart, das Gampeschs Schicklichkeitsgefühl Folterqualen verursachte. – Ein sehnsüchtiger Blick nach den Havannazigarren auf dem Mahagonibüffett. Der Graf kannte 43 den unverbesserlichen Raucher und winkte dem Diener. Ein Wachslicht wurde gebracht . . . paff . . . paff – der alte Herr lehnte sich mit dem behaglichen Gefühl der Sättigung in dem steifen Stuhl zurück. »Noch etwas Portwein?« Die Antwort war ein gemütliches Grunzen, ein paar tiefe Züge aus der Importe und ein kräftiger Schluck des rötlich blinkenden Getränkes. – Die Freundschaft zwischen dem Geheimrat und der Comtesse datierte erst seit der Aera Loja und war nur auf Widerruf geschlossen, wie Marie jetzt bei dem Anblick des harten, häßlichen Mannes mit der Hand in der Hosentasche wohl fühlte.

»Ja, sehen Sie, Herr Graf!« begann er jetzt im breiten Ermländisch, »das ist ein Kardinalfehler heutzutage, alte Leute und Familien mit vielen Kindern auf dem Hof zu haben. Da giebt's immer Krankheit und Tod, und das Deputat Getreide langt nie. Abhalftern! sag' ich, abhalftern! Und wenn einer von der Gesellschaft in der Wirtschaft alt geworden ist – 'raus damit, solange es noch geht! Manchmal braucht man auch einen alten Kerl, aber den darf man nicht einen Tag über anderthalb Jahre behalten, sonst kommt er Ihnen noch immer als Ortsarmer zurück, und Sie müssen ihn weiter füttern.«

Marie sah voll Widerwillen den Sprecher an. Der Bräutigam machte ein nachdenkliches Gesicht: »Es ist was Wahres dran. Die Leute verdienen thatsächlich kein Mitleid. Immer fort mit Schaden!«

»Arthur!« rief die Comtesse empört. Dann sah sie auf den Vater, dem die Adern an den Schläfen blau vorsprangen. Die feine, alte Hand zitterte und vermochte das Portweinglas, das sie soeben 44 zum Munde führen wollte, kaum wieder ruhig hinzusetzen; um den Mund lag ein schmerzlicher Zug: »Und das raten Sie gerade mir, Herr Geheimrat?! Meinen Sie, ich würde auch den vertrunkensten alten Kerl deswegen auf die Straße setzen, weil er alt ist? Ich gebe meinen Arbeitspferden das Gnadenbrot, weil ich nicht sehen will, daß die in meinem Dienst abgebrauchten Tiere sich vor der Chausseewalze oder dem Steinwagen zu Tode quälen – und meinen Leuten sollte ich das versagen? . . . nein . . . nein und abermals nein! Wissen Sie, ich glaube noch an den alten Gott, und glaube, daß wir vor ihm alle gleich sind. Der wird da oben Rechenschaft von mir verlangen! Soll ich ihm sagen: ›Ich war reich, ich war vornehm ohne mein Verdienst, aber ich habe mit dem Anvertrauten gewuchert wie ein richtiger Wucherer, der mit dem Fleisch und Blut des Nächsten schachert.‹« Zu Gampesch gewendet, fuhr er fort: »Und Sie, lieber Arthur? . . . ist das der Grundbesitzer und Edelmann von morgen? Ist das der neue Kurs? . . . Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Sie sind jung, noch nicht übermäßig lang auf dem Lande – sprechen wir uns übers Jahr, und Sie werden mir recht geben.«

Der Geheimrat hatte beide Hände in die Hosentaschen versenkt und paffte gemächlich, wie ein Mann, den die ganze Sache nichts angeht; Gampesch krümmte sich ein wenig: »Ja . . . nein . . .« Das liebenswürdige Gesicht gelang ihm schlecht.

Eine peinliche Pause! Jeder suchte etwas in der Luft, an der Wand, auf dem Tischtuch; zuerst fand der Arzt den brutal-gemütlichen Ausgang, der zu seiner ermländischen Art so gut paßte: »Na, 45 deswegen werden wir uns nicht entzweien, Herr Graf! Ich so, Sie so, wir thun alle beide unsre Pflichten . . . ich ziehe auch keinem Menschen das Fell über die Ohren.« Schauspielerte er, oder war das seine Ueberzeugung – er, von dem die Märe ging, daß er Geld nur an kleine Leute borge, und zu sehr hohen Zinsen? . . . Dann wandte er sich vertraulich zur Comtesse: »Aber bleiben Sie vom Dorfe weg! Bei so typhösen Fiebern Vorsicht! Man kann nie wissen . . . Sie, Comtesse, haben Pflichten gegen Ihren Herrn Vater und Ihren Herrn Bräutigam, und nicht da unten bei den Leuten. Bei leichten Sachen sieht das ganz gut aus, wenn die Damen hingehen, doch so ein Typhus – Hand davon!«

Die Comtesse sah den Vater fragend an, und er nickte ihr zu, als wenn er sagen wollte: »Ja, ja, Mieze, so ist es.« Doch sie war keinen Augenblick über ihre Gefühle im Zweifel. Wenn es ihr Herz, ihre Güte galt, reagierte ihre Natur stets mit der Kraft und Sicherheit des Instinktes. »Aber gewiß werde ich gehen, Herr Geheimrat . . .«

Von draußen klang das Rollen eines Wagens auf dem Sande. Der alte Herr sah nach der Uhr: »Alle Wetter! Wird gleich zu Mittag klingeln. Wie einem doch in liebenswürdiger Gesellschaft die Zeit kurz wird!« Er erhob sich schwerfällig auf seinen krummen Beinen, that einen Griff in die Havannakiste, wobei er aus Zerstreutheit zwei Stück erwischte: »Für die Fahrt! Doch erlaubt?«

»Aber gewiß!« Das klang so steif, die Stimme des Grafen verriet so sehr den Zwang der Form, daß auch Gampesch die Situation ungemütlich wurde.

Der Arzt war abgefahren. In dem Riesenflur 46 standen noch Braut und Bräutigam in leisem Gespräch. Der Graf ging mit langen Schritten um den Mittentisch, durch die Zähne pfeifend, was er sehr selten that. Vor dem Rasenplatz an der Thür führte der Kutscher ein gesatteltes Reitpferd. Die Verliebten sprachen lange, eindringlich. Sie konnten absolut nicht einig werden, und allmählich wurden die Stimmen lauter: »Aber Schatz, nimm doch Vernunft an! Bei den kranken Kindern hast du wirklich nichts zu suchen. Wenn du nun selbst krank werden solltest . . . sterben . . . denk doch den Jammer!«

»Und wenn heute Krieg erklärt wird, wenn du ausrückst, sollte ich dasselbe zu dir sagen, Arthur?«

»Das ist ja ganz etwas andres: Befehl, Pflicht . . .«

»Nervös sprach sie dagegen: »Befehl . . . wieder dein Befehl! Den brauch' ich eben nicht. Hier im Dorf habe ich genau so meine Pflichten wie du im Felde.«

Darauf küßte er sie: »Also nicht, kleiner Widerspruchsgeist! Papa wird dir den Kopf schon zurecht setzen. Adieu!«

»Adieu!« – Ein letzter Kuß, ein Händedruck – dann ritt er ab, ein Edelmann, so hübsch und so elegant, wie man ihn sonst nur in illustrierten Journalen findet. Die Comtesse sah ihm mit halbem Blicke nach. Auch ein solches Bild schwächt sich ab, und sie hatte ihn nie anders gesehen. Als sie auf den Flur zurückkehrte, war der Vater schon im Eßzimmer. Man hörte den schweren Schritt, das leise Pfeifen.

»Mieze, bist du da? Komm herein, Kind!« Nie hatte ihr die Stimme so weich und so feierlich geklungen. Der Alte kam auf sie zu und streichelte 47 ihre Wangen. Auf einmal preßte er den schwarzen Kopf zwischen die bebenden Hände, beugte seine hohe Gestalt herab und küßte der Tochter Haar und Stirn. Die Lippen zitterten ihm dabei, und sie fühlte deutlich die Aufregung in den unsicher tastenden Händen. Die Rührung stieg ihr empor, die ganze gläubige Kindesliebe zu diesem Vater, der sie verstand wie eine Mutter. »Recht so, mein Kind,« sagte er weich, »so mußte meine Tochter sprechen. Du fühlst ganz richtig. Du bist nach einem großen Maße gemessen, nichts mehr wert, als eines dieser kranken Kinder. Wenn Gott dich mir nehmen will, du geliebtes, einziges Kind, so würde er dich mir doch nehmen – und wenn er dich mir in seiner Güte erhalten will, so wird er dich auch in der Typhusluft gnädig erhalten . . . Ja,« fuhr er fort, »ich gehe noch weiter für uns beide. Wenn wir beide wüßten, daß du dir da unten den Todeskeim holtest, so würdest du doch gehen, weil es dir die Pflicht und dein Herz befiehlt – und denke, handle nie anders wie heute! Wir haben im Leben nichts Besseres als unsre Pflicht. Und wer sie thun will, der steht immer allein. Aber gerade deshalb muß er sie thun!« Dann wandte er sich rasch und ging in sein Zimmer.

Dort kramte er bei angelehnter Thür in seinem Rollbureau; eine widerspenstige Stahlfeder kreischte gelegentlich auf – aufflackerndes Kerzenlicht – brenzliger Siegellackgeruch und ein befriedigtes Aufstampfen des gräflichen Petschaftes. Der Graf siegelte selten und nur Briefe von besonderer Wichtigkeit. Nun schrillte die elektrische Klingel durchs Haus. Der Diener trat ins Nebenzimmer.

»Also diesen Brief hier noch heute bei 48 Geheimrat Füllenius abgeben, und für mich in einer halben Stunde den Jagdwagen. Kutscher: hoher Hut und beste Livree . . .«

Der Diener wagte eine leise Gegenbemerkung.

»Mittagbrot? Nee, für mich nicht. Der Appetit ist mir vollkommen zum Teufel. Aber fragen Sie, ob die Gräfin vielleicht später befiehlt. Sie ist nebenan.«

Die Comtesse hatte kaum mehr ans Essen gedacht. Jetzt schoß ihr ein Gedanke durch den Kopf, und sie ging in des Vaters Arbeitszimmer. »Weißt du, Papa, ich möchte noch schnell zu Domats hinüberreiten. Die Frau hat schon alle solche Krankheiten bei ihren Leuten durchgemacht; sie wird mir manchen guten Rat geben können.«

»Na, reit nur, Cirkusmariell!« antwortete er zärtlich. »Die Domat ist eine gute, nette Frau; doch wenn solche Leute à tout prix die heilige Elisabeth spielen, wittere ich Schauspielerei. Ich kann mich irren, sogar höchst wahrscheinlich. Aber hole sie doch mal aus, was sie an deiner Stelle gethan hätte. Ich bin neugierig. Adieu, Wildfang. Wenn du zurückkommst, giebt's eine unliebsame Ueberraschung!«

Der Reitfuchs war anfangs unangenehm berührt, daß man sein Haferdiner störte, warf sehnsüchtige Blicke nach dem Stall und bewegte die schlanken Beine nur im verdrossenen Trabe. Es ging durch den Wirtschaftshof, am Dorfe vorüber, links ab, wo die Roßgärten lagen. Die zweijährigen Fohlen waren heut zum erstenmal auf den Wiesen. Einige jagten wie Kinder umher, bockten und schlugen, stiegen aneinander in die Höhe; die blanke Halsung glänzte, mutiges Wiehern erklang. Um sie, in kleinem 49 Kreise, trabte unermüdlich ein prachtvoller Rappwallach, der lange Schweif hob sich stolz, die Nüstern waren gebläht, das rassige Auge funkelte. Als die junge Schar der Wilden den gezähmten Bruder mit der schlanken Reiterin erblickte, stob sie neugierig heran. Helles Wiehern und mutiges Schnauben – schlanke Hälse streckten sich über den Stacheldrahtzaun hart am Wege. Da überkam das blasierte Herrenpferd die Erinnerung der eignen ungebundenen Jugend, es vergaß seine edle Last, feuerte aus, scheute wiehernd im Sprung zur Seite. Im gestreckten Galopp jagte es davon, dem mahnenden Zügel der Comtesse zum Trotz. Die Fohlen im Garten jagten mit, dicht aneinander gedrängt; dumpf hallten die flüchtigen Hufe auf dem weichen Wiesenboden. Der Weg bog jetzt im spitzen Winkel auf eine Kieschaussee. Die Comtesse mußte sich auf die Seite legen, um nicht aus dem Sattel geschleudert zu werden. Die Fohlen blieben zurück und stießen sehnsüchtige Laute durch die Nüstern. Es ging bergan auf rissigem, ausgespültem Lehmgrund. Der Wegrand ausschlagende Kopfweiden und verkrüppelte Kiefern, darüber hinaus, zur Rechten und Linken, breite, wogende Saatfelder, vom Sonnenlicht übergossen; vorne hoher, geschwätziger Birkenwald mit Vogelstimmen und Frühlingsduft.

Der Fuchs hatte sich hier zum Trabe bequemt; doch der Huf hob sich hoch und flüchtig, auf dem Sprungzügel lagen weiße Flocken, und zuweilen tönte ein herausforderndes Gewieher durch den Wald. Bald war er durchritten. Auf glatter Kieschaussee ging's wieder vorwärts. Gelbe Rapsfelder tauchten auf wie riesige Sonnenblumen in dem umgebenden Saatgrün. Ganz in der Ferne winkte der 50 Gampeschkeimer Kirchturm, doch die alte Windmühle war jetzt ganz nahe; die Mühlsteine klapperten geschäftig, und die schadhaften Flügel drehten sich lustig. Der Fuchs verspürte sentimentale Regungen. Er kürzte das Tempo und sah auf die silberblitzende Fläche des Renkeimer Sees, der in jungem Grün von Wald und Wiesen gebettet tief unten lag; wo kleine Landzungen vorsprangen, schimmerten rote Dächer und weißes Mauerwerk, das sich in dem blinkenden Wasser zu spiegeln schien. Dann senkte sich der Weg allmählich, das Bild schwand. Ein leiser Peitschenhieb erinnerte den Fuchs an seine Rennpflicht. Er trabte achtlos an einem Erbbegräbnis auf düsterem Fichtenhügel vorüber und rührte die Beine auf schlecht gehaltenem Bauernwege kräftig, bis der weite Park der Domatschen Besitzung als dunkle Wand am Horizont aufstieg.

Ein schmutziges Dorf mit unergründlichem Lehm, ein strohbedecktes Schulhaus mit gaffenden Flachsköpfen, gegenüber dem vernachlässigten Hofgebäude eines Vorwerkes, und sehnsüchtig blickende Fohlen in dem Laufgarten. Dem Fuchs war auf schlüpfrigem Weg die Kinderei vergangen. Er schnob und stutzte vor jedem Wasserloch. Als Marie endlich in die Domatschen Grenzen einritt, waren Reiter und Pferd der Plackerei müde. Hier gab's wieder gute Kieswege, geräumte Gräben, und zwischen den dunkeln Fichten blickte ein kleines, weißes Wohnhaus hervor. Der Fuchs dachte an Stall und Futter, die Comtesse an ihren Auftrag. Leicht dröhnte der Huf auf zierlicher Holzbrücke, Hofhunde tobten an ihren Ketten, ein langhaariger Hühnerhund sprang wedelnd daher. Das Haus erschien wie ausgestorben, auch der kleine, exemplarisch saubere Hof lag still. Doch auf der 51 Parkseite blinkte weiße Wäsche auf grüner Bleiche, Stimmen wurden vernehmbar, besonders eine kreischende, herrische: sie gehörte Frau Domat, die hier wie weiland Nausikaa unter den Mägden schaltete.

Marie war vom Pferde geglitten und führte den Fuchs. Die heilige Elisabeth tobte indes gewaltig, fuchtelte mit einer alten Reitpeitsche ihres Gemahls, und zu ihrer Verwunderung vernahm die Comtesse das fließende Platt und die gewöhnlichen Ausdrücke.

»Wart', ihr Bande! . . . Du, Rike, infames Frauenzimmer – da – da –« und die »Heilige« übte ihr Herrenrecht mit Wort und Peitsche.

»Gnädige Frau –«

»Comtesse Marie! Ist das reizend!«

Im Augenblick waren die häßlich verzerrten Züge weich, liebenswürdig.

»Kommen Sie herein, Comtesse! Mein Mann schläft etwas. Der Arme hat eine schwere Schwurgerichtsperiode hinter sich.« Daß er arg verkatert und reuevoll erst heute morgen um fünf Uhr in ihre weißen Arme zurückgekehrt war, verschwieg sie weislich. Sie wollte vorangehen, Marie hielt sie zurück.

»Nein, ich muß gleich wieder aufsitzen, sonst hätte ich Sie nicht um Mittag gestört.« Und die Trensenzügel des Fuchses im Arm, ging sie langsam auf und ab, während der Verwöhnte ihre Taschen nach Zucker beschnupperte. »Artig, artig!« mahnte sie.

Die Angelegenheit war schnell erzählt. Frau Domat faltete gottergeben ihre Hände über der Wirtschaftsschürze. »Also Typhus, richtiger Typhus! Da muß man sehr vorsichtig sein, sehr vorsichtig! Mein Mann erlaubte im vorigen Jahr unter keiner Bedingung . . .«

»Nur typhöses Fieber,« verbesserte rasch die 52 Comtesse. »Aber das ist ja Nebensache. Nehmen Sie etwas Schlimmeres an: Cholera, Pest, etwas, wo beinahe die Berührung schon Tod ist.«

»Um Gottes willen, Comtesse!« Der Abscheu, die Angst waren so natürlich, daß Marie an allen Heiligkeitsqualitäten der klugen Frau zu zweifeln begann. »Selbstverständlich dürfen Sie nicht hingehen!«

»Das riet mir mein Bräutigam auch,« bestätigte die Comtesse leise.

»Ja, sehen Sie, sehen Sie,« fuhr Frau Domat lächelnd fort. »Herr v. Gampesch denkt ganz so wie ich. Da ist das Ende der Samariterpflichten!« Sie unterbrach sich selbst begeistert: »Ich, ich würde natürlich hingehen, ohne Besinnen – aber ich habe meinen Mann . . . Herbert. Wenn denen die Mutter, die Gattin stürbe! Nein, es wäre ganz falsch, zu generalisieren. Hier beginnt die Pflicht gegen sich selbst. Darf die einzige Tochter des Grafen Wilnein sich in solche Gefahr stürzen? Gott würde es nicht zulassen.« Die Comtesse faltete die Stirn und ließ die ganze Flut guter Ratschläge und lächerlicher Vergleiche über sich ergehen. Der Kaiser, Moltke mußten herhalten. – »Die mußten sich schonen, weil sie zu Höherem bestimmt« – zuletzt auch Bismarck. Doch das war nur ein kleiner Lapsus im Eifer des Gesprächs, denn das Mißgeschick mit Herbert hatte sie vorsichtig gemacht, und namentlich in letzter Zeit war sie sehr lau geworden im Ruhm des großen Kanzlers.

»Ich wußte bis jetzt nicht, daß mein Name mit denen solcher Menschen je in einem Atem genannt werden könne,« antwortete die Comtesse mit leichtem Spott. »Und doch hat derselbe Bismarck als 53 Deichhauptmann keinen Augenblick gezögert, seinen Knecht mit eigner Lebensgefahr zu retten. Vielleicht hatte er schon damals ein Vorgefühl seiner für Deutschland nie zu ersetzenden Größe.«

Sie war stehen geblieben, zog langsam den Arm aus dem Zügel und ordnete die Riemen über dem Hals des Tieres.

»Was würde erst Ihr Vater, der Herr Graf, sagen! Nicht wahr,« – der schmeichelnde Ton hatte die Comtesse schon oft bethört – »Sie denken auch gar nicht an eine so übertriebene, sinnwidrige Pflichtauffassung? Sie wollten nur von einer älteren Freundin bestätigt hören, was Ihnen das eigne Herz schon vorgeschrieben?«

»Allerdings wollte ich das! Aber sehen Sie, wie die Auffassungen verschieden sind: gerade mein Vater sagte, ich müßte unbedingt gehen. Und ich selbst war mir über meine Pflicht keinen Augenblick im unklaren.«

Eine Sekunde war die gute Frau perplex; dann versuchte sie, so gut es ging, die plötzlich gefährdete Flanke zu decken: »O, ja . . . eine so durch und durch vornehme Natur wie der Graf Wilnein . . . die Vorsehung würde Sie ja auch schützen, Comtesse – gewiß! . . . Gerade diese Seite der Sache . . .«

Die Comtesse hörte das Geschwätz kaum. Es kam ihr vor wie die hergeleierten Phrasen eines Papageien. Die heilige Elisabeth täuschte sie nicht mehr! Mit jeder Sekunde fühlte sie sich selbständiger und einsamer. Sie wollte nur fort von hier, nach Hause, und sah sich nach einem Menschen um, der sie auf den Fuchs heben könne.

Als sie sich verabschiedete, war sie vollkommen die große Dame, die kühl lächelnd hört, was man 54 rät, und thut, was sie will. »Ein Prinzipienstreit, gnädige Frau . . . vielen Dank! Wann sieht man Sie mal wieder in der Stadt?« Sie wartete die Antwort nicht ab. Der Gärtner half ihr vor dem Hause in den Sattel. Herr Domat steckte vorsichtig seinen verkaterten Kopf aus dem Fenster, die kluge Frau knickste – aber für die Comtesse Wilnein gab es von Stund an keine heilige Elisabeth mehr.

Auf einem weiten Umweg ritt sie nach Hause. Der Fuchs trabte munter auf tadellosem Wege . . . darauf ein Stück Chaussee, ein vorüberfahrender Sektreisender, der sich sehr über die nachlässige Haltung der zierlichen Comtesse wunderte. Sie sah eben weder den knospenden Frühling noch die Menschen. Das Pferd machte sich die träumerischen Gefühle der Herrin zu nutze, wechselte launisch Galopp und Trab. Als es die Fläche des Sees jetzt dicht am Wege liegen sah, machte es argwöhnisch Halt, dann geruhte es wieder, vor einem aufschwirrenden Spatz davonzulaufen. Die Seewasser murmelten leise, die Seeblumen blühten, und ein Junge angelte eifrig mit einer Weidenrute ohne Schnur. Die Comtesse zog entschlossen das Resumé des Tages: zwei schwere Enttäuschungen.

An Frau Domat, die Freundin, dachte sie nur mit flüchtigem Bedauern. Aber an Gampesch? Das verliebte Spiel war vorüber, die blanken Waffen sollten sich messen, und der Kopf trug nicht mehr die täuschende Maske oder das schützende Visier. Der Kampf war da. Sie wußte es, und sie war dessen fast froh. Jetzt fühlte der Fuchs die wieder erwachende Energie und Kampfeslust der Herrin schmerzlich in der Weiche und streckte sich zum Galopp; unbarmherzig mit Peitsche und Sporn, wie bei einer 55 Hetze, ging's heimwärts. Vor dem Kutschstall wurden gerade Pferde abgeschirrt. Die Comtesse sah nicht hin. »Natürlich Arthur,« murmelte sie, dann schlug sie einen scharfen Lufthieb und sagte finster: »Nein, die Uniform macht nicht den Mann!«

Wieder trat sie in das altmodische Wohnzimmer mit dem energischen Schritte, der ihr in der Stunde des Entschlusses eigen. Zigarrendampf wallte durch das Gemach, ein Fremder erhob sich mit Haltung aus dem Fauteuil: es war der Freiherr v. Loja.

Ohne die Begrüßung abzuwarten, fragte der Graf interessiert: »Na, Mieze, was hat sie gesagt?«

»Mich ins Bett legen und hermetisch abschließen,« antwortete sie geringschätzig.

Da zauste er, ingrimmig lächelnd, seinen grauen Bart: »Wußt' ich!« Darauf wandte er sich zu Loja, um ein früher begonnenes Gespräch weiterzuführen. »Und wie immer habe ich mir auch hier gesagt: im Ernstfall soll sich der Edelmann an den Edelmann wenden. Es war sehr gütig von Ihnen, meiner unbescheidenen Bitte so schnell zu entsprechen. Der Freiherr v. Loja, Mieze, wird nämlich so liebenswürdig sein, in dieser Krankheitsepoche den Geheimrat Füllenius zu vertreten. Ich habe dem heute noch den Laufpaß gegeben. Mit solch einem herzlosen Burschen sollen meine Leute nichts mehr zu thun haben.«

Gegenüber Lojas Herzensqualitäten hatte die Comtesse ein gelindes Mißtrauen. Sie dachte, daß er in den niederländischen Kolonien wohl andre Humanitätsbegriffe gelernt habe, als sie in Deutschland üblich. Dennoch bezwang sie, der guten Sache zuliebe, die alte Abneigung. »Waren Sie schon im Dorf, Herr Doktor?«

56 Der Graf fühlte sich überflüssig bei der Wiederholung der Krankheitsgeschichte. »Also, ich überlasse dir den Herrn Baron und hoffe, daß du als Tochter vom Haus, wie als Malteserin dich ausgezeichnet benehmen wirst!« scherzte er. »Verzeihen Sie, Herr v. Loja, ich bin heute noch gar nicht in der Wirtschaft gewesen; die Kerls da unten an der Chaussee bummelten mir beim Pflügen mal wieder ganz unglaublich, als ich vorbeifuhr.«

Sie waren allein. Marie fühlte sich als Hausfrau, der Doktor berichtete trocken über die Krankheit: »Typhoid . . . vereinzelte Fälle . . . scheinbar gutartig auftretend.« Dem Thatendrang der Comtesse war der Mangel an ernster Lebensgefahr beinahe unangenehm. Darum schrumpfte, ganz ungewollt, ihr Heroismus etwas zur Lächerlichkeit zusammen.

»Dann sind Sie also ziemlich unnötig bemüht, Herr v. Loja?«

Er strich sich nachdenklich den Schnurrbart: »Ich hoffe, ja, ich fürchte, nein.« Lebhafter fuhr er fort: »Ein Fall ist bedenklich – sehr sogar! So 'n zwölfjähriger Junge, schlecht genährt, schlechtes Blut . . . den Bengel habe ich irgendwo schon gesehen. Und der setzt gleich mit solcher Bombentemperatur ein, daß ich dachte, mein Maximalthermometer wäre mir durchgegangen. Ich frage die Leute, wann und wie. Da geht ein erschreckliches Geschwätz und eine Weinerei los, woraus ich ungefähr so viel kapiere, daß der Junge sich vor acht Tagen erkältet haben soll . . . eine Riesengemütserregung durchgemacht hat.«

Mit starrem Auge hatte die Comtesse zugehört, dann sagte sie in einem eigentümlich zitternden Ton: »Wie heißt das Kind?«

57 »Ja, wenn ich die Namen hier oben behalten könnte! De . . . Do . . .«

»Domat vielleicht?« unterbrach sie gespannt.

»Ja, ja, nun bin ich auch au fait. Das war ja der Unselige, der unsre höchst unchristliche Kriegserklärung in einer Kirche hervorrief!«

»Und glauben Sie, Herr v. Loja, daß, angenommen, das Kind habe sich erkältet und ungewöhnlich aufgeregt – dies auf die Ursache oder Entwicklung der Krankheit Einfluß haben könne?«

Loja blies stoßweise den Zigarrendampf durch die Nase. »Sie verlangen viel von der Fakultät, Comtesse! Ursache . . . Entwicklung . . . ich bin nämlich Kolonialarzt, also Ignorant, wie alle Welt dank Ihrem verflossenen Füllenius weiß. Doch scherzen wir nicht! Es ist wohl möglich, daß plötzliche Erkältung mit gleichzeitiger Nervenaufregung den geschwächten Körper für eine Infizierung empfänglicher gemacht hat, das heißt, ich glaube das, wissen thut es auch der Weiseste unsrer Zunft nicht.«

Comtesse Marie stand auf, machte einen Schritt vorwärts, der ihr schwer zu fallen schien, und sagte leise: »So habe ich das Kind auf dem Gewissen.« Es klang wie im dumpfen Selbstgespräch. Verstand er es nicht, weidete er sich an ihrer Qual, der Mann mit dem undurchdringlichen Auge? Er blieb ganz ruhig. Auch sie besann sich. Ihm Schwäche zeigen – ihm? Die gesellschaftliche Schulung der Tante reichte noch gerade kümmerlich bis zur Grimasse des öden Lächelns. Die aufquellende Empörung über die kalte, cynische Ruhe des Arztes stärkte ihr die Selbstbeherrschung. »Wollen wir noch einmal ins Dorf gehen, Herr Doktor?«

58 »Und was soll das helfen?« fragte Loja von seinem Fauteuil.

»Ich will, ich muß!« Sie war schon an der Thür.

Da erhob er sich ruhig. »Bleiben Sie, Gräfin! Nicht wegen der Ansteckung, die Gefahr ist gleich Null. Und wenn's der weiße Aussatz wäre, die Angst davor würde Sie nicht halb so blaß machen, wie Sie jetzt sind. O, wir haben Mut, Gräfin Wilnein, das weiß ich! Aber wozu sich selbst diese Komödie der Pflicht vorspielen?« Sie wollte aufbrausen, er machte eine abwehrende Bewegung. »Ehrlich gemeint, sans doute! Doch treten Sie vor den Pfeilerspiegel da und lächeln Sie selbst über die barocke Idee, mit Reitkleid und Sporen vor das Krankenbett eines sterbenden Betteljungen als Trösterin treten zu wollen! Gewiß, die Mutter wird Ihnen etwas vorschluchzen, der Vater wird heimlich hinter Ihrem Rücken seinen Schnaps hinuntergurgeln, der Junge wird Sie vielleicht mit blöden Deliriumsaugen anstarren. ›Ach, gnädigstes Comteßchen sind so gut, so gut‹ – Posse! Die Leute belügen sich ebenso wie Sie, wenn Sie ein menschliches Mitleid fühlen. Sie haben vielleicht nie an einem Sterbebette gestanden. Sie denken an einen großen Herrn, der nach der Schlacht durch die Lazarette schreitet, hier eine Tröstung spricht, dort ein Kreuz von Eisen in zwei vom Todeskampf verkrampfte Hände gleiten läßt. Ja, das ist der Krieg, der tragische Trotz des gewaltsamen Sterbens; da glaubt man sie noch zu erblicken, die helle Flamme von Heroismus und Todesfreudigkeit, die die fauligen Strohlager und die blutdurchdünsteten Baracken erwärmt und reinigt. Sie wollen als Lichtgestalt – im schwarzen Reitkleid mit Sporen, – ha! – an den Krankenbetten 59 vorübergleiten, und der Tod soll klein werden, sobald er Sie wittert. Und nun sind Sie wirklich da und riechen nur die schlechte Luft, sehen nur die schlecht gewaschenen Körper, das rohe, disciplinlose Gefühl stößt sie ab, die dumpfen Instinkte – der Tod ist da gar nicht mehr erhaben, nur sehr häßlich! Sie haben noch nicht den Fuß aus dem Hause gesetzt, und die Leute sehen sich schon fragend an: ›Ja, was wollte die denn eigentlich?‹ Die fühlen ganz richtig: Sie gehören nicht zu ihnen. Als Samariterin leistet mir die Gampeschkeimer barmherzige Schwester viel mehr – und als Mensch? Ja, was wollen Sie denn eigentlich bei Menschen, deren Leiden und Freuden Sie gar nicht verstehen?«

»Und verstehen Sie die besser?« fragte die Comtesse dumpf, an den Thürpfosten gelehnt. »Seltsam, daß mir das gerade einer sagen muß, dem schon als Studenten kein Genuß zu raffiniert, kein Hochmut zu hochmütig war!«

Sein Auge blitzte auf. Sie war auf ein brutales »Schweigen Sie!« aus zusammengepreßter Kehle gefaßt; doch das Feuer erlosch und wich einem finsteren Lächeln: »Hat er wieder geschwatzt? Nun, es war immer sein gutes Recht!« Dann fuhr er erregt fort: »Hat er so viel gesagt, so sagte er vielleicht mehr: – daß ich herabgestiegen bin zu diesen Menschen im Guten und Bösen, daß ich ihren Schnaps getrunken habe, weil ich den Hunger wegtäuschen mußte, daß ich die Besitzenden verwünschte, weil ich nichts mehr besaß, daß ich meine Kavaliersehre leichtsinnig gefährdet, weil ich sie nicht mehr brauchen konnte?«

Er hielt ein und atmete schwer, als litte sein hochmütiges Herz noch jetzt unsäglich unter der 60 Erniedrigung, die er sich selbst geschaffen. Und wieder stieg es ihr empor, mit einer unbegreiflichen, widerwilligen Hochachtung zugleich das Gefühl eines großherzigen Mitleids. Aber der Mann da hatte wohl das billige Mitleid nie geliebt: Hieb gegen Hieb, Blut für Blut – und da verstanden sich ihre Rassenaturen.

»Wenn Sie jetzt wollen, Comtesse, ich stehe zur Disposition.«

»Ich danke Ihnen, Herr v. Loja.«

Dann gingen sie beide schweigend ins Dorf hinunter. 61

 


 


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