Johannes Richard zur Megede
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Johannes Richard zur Megede

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Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Otto Gellmann war begraben. Keines von den riesigen Landbegräbnissen, mit endlosen Wagenreihen, hohen Hüten, singenden Dorfkindern und einer Prunkrede – nein, ein armseliges Leichenbegängnis, von dem man sich beeilte hinwegzukommen: der Prediger und die Leidtragenden. Der Tote hatte sich selbst gerichtet, selbst rehabilitiert, darin lag der Zwiespalt. Die eine Moral empörte sich über den Abgang, die andre erbaute sich daran. Die vier dekorativen Leidtragenden sahen dementsprechend aus – Loja finster, der Dandy gedrückt, Herr v. Lette ehrlich gerührt, Prinz Lack gelangweilt. Als der letzte verließ der Oberst den Dorfkirchhof.

Die schöne Frau hatte den Wagen vorausgeschickt. Sie dachte an keine leichtsinnigen Begegnungen mit Doerstedt, sie war aber auch nicht todestraurig. Sie empfand nur das natürliche Grauen der Jugend und Gesundheit vor dem erkaltenden Hauche des Todes. Sie wählte zum Rückweg den schmalen Pfad den Fluß entlang. Die gelben Wasser flossen träge vorüber. Der herbe Geruch von welkendem Kartoffelkraut mischte sich mit dem feuchten Dunst. Es war ein müder Herbstnachmittag, kühl, stumm – die Natur ein schwermütiger Traum. Als sie 175 weit genug vom Dorfe war, zog sie einen Brief heraus, einen herzlichen Brief von Marie Wilnein: Sie fühle sich nicht wohl, könne darum nicht kommen, würde es aber noch in dieser Woche nachholen. ›Seien Sie versichert, gnädige Frau, daß ich vieles bereue, und daß Sie mir von Herzen leid thun.‹

Die schöne Frau lächelte trübe: »Ihr habt leicht gut sein, wenn's nicht mehr nötig! Warum schriebst du den Brief nicht ein Jahr früher? . . . Und doch möchte ich das Jahr nicht mehr zurückgehen!« Dann zerknitterte sie gedankenlos das Papier und wollte es in den Fluß werfen. Es fing sich in den Zweigen des Ufergestrüpps. »Bleib, wo du bist!« sagte sie gleichgültig. Nach zwei Schritten blieb sie vor einer riesigen Kopfweide stehen, die sich über das Wasser neigte. Hier an dieser Stelle, vor diesem Baume hatte sie die letzte großherzige Regung für den Toten empfunden. Die blaue Winternacht stand wieder vor ihrer Seele, das namenlose Angstgefühl. Ob sie jemals später ihn wieder hätte so tragen können? ›Nein, ihn nicht!‹ Sie pflückte ein dürres Weidenblatt vom Baum und steckte es in eine Seitentasche des Portemonnaies. Langsam stieg sie den Weg nach Soraunen in die Höhe. Die Füße waren ihr auf einmal schwer, obgleich's gar nicht steil und der schmale Feldweg bequem. Ihr war's, als ob es damals mit ihm auf dem Arm viel leichter gewesen wäre!

Als sie in den Hausflur kam, meldete das Stubenmädchen, daß der Freiherr v. Loja sie schon seit einer halben Stunde erwarte. Die schöne Frau zuckte leicht zusammen und wurde einen Schatten blässer. Aber sie beeilte sich nicht, ihn zu empfangen. Sie trat vor den Trumeau und nahm das 176 Kapotthütchen mit dem schwarzen Kreppschleier ab. Ihrer vollen, schlanken Gestalt stand auch die Farbe der Trauer gut. Das hübsche, regelmäßige Gesicht mit den matten, grauen Augen und dem welligen Blondhaar hob sich verführerisch aus dem stumpfen Schwarz. Ein vornehmes Bild – und sie sah's so gern! Das Mädchen räusperte sich. Martha erwachte aus einem hübschen Traum. Die goldige Braue faltete sich scharf. Ihr Entschluß war gefaßt, als sie in das gute Zimmer trat.

Ich weiß nicht, was Sie gerade heute von mir wünschen können, Herr v. Loja.« Sie wollte aufs Ziel, und ihre einladende Handbewegung nach dem Fauteuil war frostig genug.

»Was ich vielleicht an jedem andern Tage vergeblich wünschen würde . . .«

»Das wäre?«

»Sie selbst.«

»Vielleicht soll das geistreich sein. Mir erscheint's deplaziert. Ich komme von einem Begräbnis . . .«

»Ich auch.«

Sie maßen sich mit den Blicken wie zwei Ringer vor dem Kampfe. Sie ruhig, er aufgeregt. Aber sie bemerkte einen fremden, kranken Zug in dem energischen Gesichte. War's die Nachwirkung der schrecklichen Brandscene, von der er sich noch nicht erholt? War's lähmende Erinnerung?

Freilich, als er begann – das klang hart, entschlossen – »Sie werden die Sache mit Doerstedt aufgeben! . . . Ich weiß alles . . . ich kenne Ihr erstes, Ihr letztes Rendezvous – ich könnte Ihnen die Worte wiederholen, die Sie dort gesprochen.«

»Sie?« fragte sie ironisch, »Sie sollten uns 177 belauscht haben? O nein, Herr v. Loja, den Todfeind hätte ich gewittert!«

»Ob Todfeind oder nicht – lassen wir die Phrasen! – ich appelliere an Ihre gesunden fünf Sinne, die Ihnen sagen müssen: Treibe ich's so weiter, verkomme ich; ich appelliere auch an den Funken von Moral, der, wenn überhaupt, doch am Todestage Ihres Mannes zum Durchbruch kommen muß, ich appelliere an Sie im . . .«

»Im Namen meiner Schwester! Das mußte kommen! Und das ist Ihr bester Trumpf, Herr v. Loja? . . . Sie . . . Sie . . . ich muß Sie mir immer wieder ansehen . . . Der Mensch, der meine Schwester unsagbar elend gemacht hat, wagt es, mir Moral zu predigen? . . . Von Ihnen elend gemacht zu werden! . . . Seitdem ich Sie kenne, begreife ich meine Schwester nicht mehr! Sie, der Sie weder hübsch, noch klug, noch gut, noch reich sind . . . Sie, der Sie's nie gewesen sein können! . . . Vielleicht reich . . . Das sollte meine schöne, stolze Schwester bethört haben? O nein! Daß Sie kälter, berechnender, schlechter gewesen sind als alles, daran ist sie zu Grunde gegangen. Vielleicht haben Sie sie hypnotisiert, langsam vergiftet – ich traue Ihnen alles zu – aber Ihretwegen sündig, unglücklich, am gebrochenen Herzen sterben? Ja, es giebt seltsame Neigungen! . . . Und nun zu meiner Angelegenheit! Was ich jedem verheimlichen würde, kann ich Ihrer Moral ganz ruhig anvertrauen: Ja, ich liebe Fritz v. Doerstedt, ich habe Beziehungen zu ihm – und ich werde sie nicht lösen!« Sie war aufgestanden. Nur ein rosiger Schimmer an den Schläfen verriet die innere Bewegung.

Auch Loja hatte sich erhoben. »Lassen Sie das 178 meine Sorge sein. Die Beziehungen werden gelöst

In dem Ton seiner Worte mußte etwas Grausiges durchzittern, etwas Lähmendes, Tötendes. Die schöne Frau hatte zwei Schritte vorwärts gemacht, als wenn sie dem entschwindenden Tone nacheilen wollte. Die matten Augen glänzten, die Nasenflügel zitterten.

»Sie wollen ihn morden!«

Er schwieg.

»Ja, Sie wollen ihn morden! Ich seh's an Ihren Augen, Ihrem Munde . . .« Sie hatte sich auf ihn gestürzt, ihre Hände umklammerten seine Hände: »Nein, das nicht – nur das nicht! . . . Denken Sie an meine Schwester!« Sie fühlte, wie seine Nerven fieberten, bis endlich der finstere Zug einem gütigen wich.

»Lassen Sie uns vernünftig sprechen, Kind,« sagte er leise. Bei den Worten ließ sie ihn los und sah ihm angstvoll ins Gesicht.

Trog ihn täuschender Traum? Oder war wirklich die andre hier wieder lebendig geworden mit ihrem großen, guten Herzen? Er sah dieselben schönen, bebenden Lippen, dieselben in selbstvergessener Angst fiebernden Augen und fühlte, daß ein kleines, egoistisches Herz doch frei und groß werden konnte in einer vielleicht verbrecherischen Liebe. Der Schatten der Gestorbenen trat zwischen ihn und die Lebende – und rettete den Dandy. Er sprach jetzt ganz anders zu ihr: »Ich will ja nur Ihr Bestes. Denken Sie, ein Bruder spräche zu Ihnen . . . meinetwegen ein verlorenes, schlechtes Subjekt, das sich in einem Winkel seines verödeten Herzens doch die Zärtlichkeit und den Glauben an seine kleine Schwester bewahrt 179 hat. Und sehen Sie, wenn der zu Ihnen kommt und sagt: ›Martha, du stehst vor einem Sumpf, deine andre Schwester ist schon darin zu Grunde gegangen‹ – eine stärkere, selbstlosere, auch bessere Schwester –, ›kehr um!‹ – würden Sie ihm auch antworten: ›Du bist selbst schlecht. Wie kannst du mich warnen?‹«

Sie schüttelte den Kopf, und Thränen traten in ihre Augen: »Es ist ja mein Bruder.«

»Und wollen Sie denn nicht begreifen, daß ich dieser Bruder bin?« Sie machte eine Geste des Abscheus. »Sie sollen mich gar nicht lieben! Sie verbieten mir Ihr Haus, Sie danken mir nicht mehr – das versteh' ich. Warum hatte Ihre Schwester das Unglück, gerade in meine erbarmungslosen Hände zu fallen! Vielleicht war's Schicksal, wie's Schicksal war, daß ich Sie traf. Als ich Sie damals im Walde zuerst sah und sofort erkannte, da hätte ich doch fliehen sollen vor der Erinnerung, der Vergangenheit. Eine Stunde lang war mir's auch so zu Mute. Und dann war mir wieder, als wenn ich endlich das Kind gefunden, das ich lange gesucht. Ja, das Kind! Wie ich Sie aus ihren Erzählungen kenne, schlank, zierlich – ein empfindliches Gewächs, das man sorgfältig hüten muß – so erscheinen Sie mir auch heute noch – ein Kind, dessen Sorge sie mir anvertraut hat. Es ist eine grausige Ironie, ich weiß es! . . . Wenn ich Sie glücklich gesehen, auf der Höhe, hätte ich mich zu Ihnen gedrängt? Aber auch Sie warf das Schicksal in wurmstichige Verhältnisse. Ohne Ihre Schuld? Sie brauchten einen Mann nicht zu heiraten, den Sie nicht liebten – und wenn Sie ihn nicht liebten, so konnten Sie ihm doch eine bessere Frau sein. Er 180 ist tot. Sein Drama ist zu Ende. Requiescat! . . . Ihr Drama beginnt. Ich will Ihnen die konventionelle Thräne für den Toten schenken. Uns Lojas lag der Dolch stets näher als das Gesangbuch. Aber ich komme doch gerade an diesem Tage zu Ihnen. Heute stehen Sie vor dem Kreuzwege. Gut oder böse? . . . Sie haben zu leben. Sie sind frei. Sie können nach Ihrem Kaiserberg gehen, nach Berlin.« Ein herber Zug legte sich um seinen Mund. »Vielleicht finden Sie auf der Jagd nach einem glänzenden Glück dieses Glück.«

»Glück, ohne ihn?« Sie sah wirklich gut aus mit dem wehmütigen Lächeln. Dann besann sie sich und wurde ernst. »Zwischen uns giebt's kein Verstehen – mir ist's sehr recht. Herr v. Loja, Sie sagen: Sie hätten mich gern gehabt, lange, ehe Sie mich gekannt. Nun, ich habe Sie gehaßt, lange, ehe ich Sie gekannt! . . . Meine Schwester war verschollen, vergessen – auch damals witterte schon das Kind feindselig den Mann! Endlich fand sie doch den Weg ins Elternhaus zurück zum Sterben. Und da wußte ich's! . . . Sie war gar nicht mehr hübsch, welk, schon vom Tod gezeichnet. Wir verbargen sie, wie man einen Flüchtling verbirgt. Die Mutter weinte immerfort. Ich halbwüchsiges Ding strich neugierig um ihr Bett. Warum kam sie, und warum kam sie erst jetzt? Und daß sie mich so rührend ansah und streichelte – das war ja gut, aber ich ahnte doch dahinter die Sünde. Eines Abends war die Mutter nach der Apotheke gegangen. Sie schlief. Ich besah mir den feinen Spitzenbesatz ihres Hemdes, ihre blauweiße Haut am Halse . . . und da sah ich etwas Weißes vorgucken, ein Papier . . . einen Brief. 181 Ich zog ihn mit unendlicher Vorsicht heraus. Es war ein scheußlicher Brief – Ihr Brief –, worin Sie cynisch schreiben, daß das Ganze ein Scherz, eine Wette, auf die sie 'reingefallen:

›Nimm's nicht tragisch, Schatz!

Einst Dein Hans.‹

»Ich begriff's nicht halb, nicht den zehnten Teil, aber daß ihn ein Schurke geschrieben, das begriff ich! Und den Brief trug das arme, sterbende Wurm an seinem Herzen! Es war wohl die einzige Zeile von Ihnen, die sie besaß und die sie auch im Tode nicht lassen wollte. So grenzenlos, so hündisch geliebt zu werden! Und als sie im letzten Delirium lag und niemand mehr von uns erkannte, da sah sie immer nur noch nach der Thür, gespannt, so qualvoll gespannt: nur ein Laut von Ihnen . . . Ihr Schritt . . . Sie selbst – Aber Sie waren grausam, kamen nicht – bis sich das Delirium endlich ihrer Qual erbarmte . . . ›Da bist du ja, Hans – Hans!‹ So ist sie gestorben.

»Und Sie sollte ich nicht hassen? . . . Backfische vergessen schnell, den Brief aber habe ich nie vergessen. Sein Eindruck vertiefte sich sogar von Jahr zu Jahr. ›So sind die Männer, so die Frauen!‹ dachte ich. Sie haben mich wissend gemacht, Herr v. Loja. Da wird man kalt, berechnend; da wägt man vor dem Spiegel jede Schönheitschance ab, kokettiert, verliebt sich auch wohl mal, aber bei dem Keime jeder ernsteren Neigung sagt man sich kühl: ›Belüge ihn doch lieber, als daß er es thut!‹«

Loja hatte sich in einen Fauteuil gesetzt. »Ich war ein Schurke,« sagte er dumpf . . . »aber auch er wird heucheln, lügen, verführen, verlassen, wie ich geheuchelt, gelogen, verführt, verlassen habe.«

182 »Und was thut's, Herr v. Loja! Ich bin leichtsinnig, oberflächlich – ich habe auch wohl anfangs seine Uniform, seinen Namen mehr geliebt als ihn selbst. Was wollen Sie? . . . Da ist er wie ich. Was soll ich denn mit einem anfangen, zu dem ich aufsehen muß wie zu einem Heiligen – die Anbetung würde mir langweilig werden! Man liebt sich, das andre ist ja ganz gleichgültig. Mag ihn auch Prinz Lack mit seinem höhnischen Lächeln ›Dandy‹, ›Panzerreiter‹, Schlimmeres nennen, ich liebe ihn doch. Für mich ist er nun einmal schön, geistreich, gut. Und wenn Sie ihn mir töten wollen,« fuhr sie mit einem zärtlichen Leuchten ihrer grauen Augen fort, »dann töten Sie eben den einzigen Menschen, den ich liebe.

»Vielleicht würde ich auch darüber hinwegkommen, obgleich ich's nicht glaube. Aber Sie hätten einem leichtfertigen, vergnügungssüchtigen Geschöpf den letzten Halt mit ihm geraubt. In ein Kloster würde ich doch nicht gehen, auch nicht in den Tod! Ich würde leichtsinnig werden bis zur Verworfenheit oder kalt, so kalt, daß mir schon jetzt vor mir selber fröstelt. Sehen Sie, so bin ich! Soll ich für das schreckliche Jahr meiner Ehe büßen, immer weiter büßen für etwas, wofür ich gar nicht kann? Ich bin nun einmal zum Genuß, zum Augenblick geboren! Daran ändert kein Kasteien etwas. Warum soll der von meiner Jugend, meinem hübschen Gesichte nichts haben, den ich liebe? Wie ich bin, bin ich dazu da. Alle Liebe zwischen Mann und Weib ist zu guter Letzt sündig. Das weiß ich. Aber ich habe von der Pflicht genug, gerade genug. Es bleiben tot die Toten, und nur das Lebendige lebt – und ich will leben, leben! Vielleicht, wenn es mir schlecht gegangen, komme ich zu Ihnen und sage: Die Welt 183 ist böse. Vielleicht komme ich auch nicht. Nein, ich komme ganz gewiß nicht! Ich werde ihn lieben, auch wenn er mich verläßt, ich werde ihm nicht böse sein, wenn er eine andre heiratet. Nur die kleine, schiefe Gisela darf's nicht sein, die ist zu häßlich! Und sehen will ich sie auch niemals. Aber die Erinnerung an die Liebe wird mich vor dem Leichtsinn bewahren und vor dem Pharisäertum. Und wenn ich sterbe, so werde ich vielleicht auch sterben wie meine Schwester, mit seinem Namen auf den Lippen. Nein, das kalte, anständige Glück, wie's der hochmütigen Wilnein so selbstverständlich ist, paßt nicht für mich. Da hätte ich zu einer Grafenkrone geboren sein müssen, mit vielen Gütern und dem erschlafften blauen Blute. Früher habe ich sie um das alles beneidet. Jetzt? Doerstedts leichtsinniges Koller ist mir viel lieber als ihres Gampesch korrekter Attila.«

Loja war aufgestanden. »Leben Sie wohl, gnädige Frau. Wir sehen uns nie wieder.«

»Hoffentlich nie!« antwortete sie ehrlich.

»Werden Sie auch so glücklich,« fügte er leise hinzu. Und wieder glitt ein Ausdruck von Zärtlichkeit und Güte über sein häßliches Gesicht. Dann ging er, ohne sich umzusehen, aus dem Zimmer.

*

Die schöne Frau stand am Fenster. Sie sah auf den Hof, den kleinen, vernachlässigten Wirtschaftshof, über den die Landstraße ging. Er lag jetzt einsam, still, nur ein paar graue Hennen balgten sich vor der Pferdestallthür. Und mit der sinkenden Herbstdämmerung zog doch etwas wie Sentimentalität in ihr Herz, ein Schatten von Heimweh nach dem 184 Gestorbenen. Sie sah ihn über den Hof schreiten, hörte seine heisere Stimme – auch als er zur letzten Jagd ging, die ihn allein zur Strecke bringen sollte. Er ging so stramm und entschlossen, wie selten in den letzten Monaten. An der großen Scheune sah er sich noch einmal um und winkte. Sie aber trat schnell vom Fenster weg. Sie hatte nur nachgeschaut, um sicher zu sein, daß er wirklich ging. Keine halbe Stunde später hing sie in der Fichtenschonung am Fluß glückselig in Doerstedts Armen. Da hörten sie auch den verhängnisvollen Doppelknall. Sie lachten beide darüber – sie waren ja so weit vom Schuß. Jetzt quälte sie die Erinnerung. Ihr war, als stände er immer noch an der großen Scheune und winkte. Es war die Hand des Toten, der sie nachziehen wollte ins Grab. Durch das häßlich-moderne Zimmer schien eisige Kühle zu wehen, der Hauch des Todes . . . Das Herz krampfte sich in erkaltendem Gefühle zusammen. Es umwitterte sie etwas Furchtbares. Sie wollte aus dem Zimmer stürzen, aus dem faden Blumenduft, den die Totenkränze zurückgelassen, aus dem scharfen Geruch von Harz und Lichtern, den der Sarg durch das ganze Haus getragen. Aber die Füße wurden ihr schwer. Sie vermochte noch gerade zum grünen Plüschsofa zu wanken, dann sank sie zusammen. Und hier schluchzte sie leise, unaufhaltsam. Sie weinte, wie die Kinder weinen, mit dem wilden Wehgefühl im Herzen, an dem sie glauben sterben zu müssen, und an dem sie doch nie sterben.

Dabei mochte sie das Rollen eines Jagdwagens auf dem Hofpflaster überhört haben. Ein leises Klopfen. An einer Bewegung der Luft merkte sie, daß jemand im Zimmer war. »Wer ist da?« fragte 185 sie, langsam sich aufrichtend, und da fühlte sie sich auch schon umschlungen, aufgehoben; ein heißer Männermund küßte ihr die Thränen von den Augen. Und sie vermochte nichts, als willenlos wie ein Kind weiterzuweinen und zu stammeln: »Du . . . du . . .«

Dem Dandy waren die Thränen zwar etwas unbequem, aber er tröstete doch, so gut er konnte. »Ich wollte dich doch heute nicht allein lassen, du süßes Geschöpf! Siehst du, ich habe dich so unsinnig lieb, so unsinnig . . . Denke dir, daß ich zu Hause einen Riesenskandal gehabt habe. Meine Mutter ist vollkommen orientiert. Irgend ein Schurke muß uns gesehen, belauscht haben . . . Ich habe meine Mutter fast mißhandelt, um den Kerl herauszukriegen, aber sie schwieg wie eine Katakombe. Natzfeld muß es gewesen sein, der perfide Hund! Von einem andern würden Mutter und Schwester nicht so unbedingt geschwiegen haben! . . . Und was der ihr alles für Ideen eingeblasen hat! Da soll ich das Majorat verlieren, wenn ich eine Bürgerliche heirate . . . Das stünde klipp und klar in der Stiftungsurkunde. Dann soll ich beim Regiment angezeigt werden – Du, mit dem Regiment, das ist 'ne schlimme Sache, das kostet einen eventuell den Rock . . . aber jetzt ist mir alles egal. Da kassiert mich meinetwegen infam! . . . So dick wird's natürlich nicht kommen . . . Aber dich aufgeben – dich! Wir müssen natürlich vorsichtig sein für die Zukunft . . .« Er bedeckte mit seinen Küssen gerade den goldig schimmernden, duftenden Sammetflaum des Nackens und fühlte durch alle unklare Verliebtheit hindurch, daß er von diesem Weibe nicht lassen könne, auch um die ewige Verdammnis nicht.

186 Die Thränen der schönen Frau flossen spärlicher. »Komm doch in mein Zimmer, Fritz. Ein Mädchen könnte hier hereinsehen . . . Leise . . . leise.«

Der Stiefel des Dandy knarrte etwas, während er sie behutsam, den Arm fest um die Taille, in ihr Boudoir führte, das nach dem Garten hinaus lag. Sie ließen vorsichtig, wie Verbrecher, die Vorhänge herab. Der Cylinder klirrte ein wenig, als sie die Lampe anzündete, und sie fuhr zusammen.

Nun stand sie im weichen Lichte vor ihm mit ihrem verweinten Gesicht, ein verlegenes Lächeln auf den hübschen Lippen, das ihr entzückend stand.

Er blickte sie zärtlich an: »Bist du wirklich so hübsch? . . . Ich glaube manchmal, ein Kobold neckt mich – Wie entzückend du auch in Schwarz aussiehst! Früher dachte ich, dich kleide nur Hell.« Sie lächelte darauf schelmisch und nickte ihm zu. »Ja, warum bist du eigentlich so reizend?« Er ging langsam um sie herum mit glänzenden Augen. »Wenn ich die Wilnein sehe, sag' ich mir: sie ist hübsch, aber sie hat einen großen Mund . . . und meine schöne Schwester – puh, die Kälte! Alle haben etwas, das mich anzieht und abstößt zugleich. Aber um dich könnte ich stundenlang herumgehen, da würde mir immer wieder etwas Hübsches auffallen. Jetzt seh' ich gerade deinen Fuß an.« Sie zog ihn rasch unter das Kleid zurück. »Nicht, nicht, Marthachen!« bat er. »Weißt du, was ich möchte? Niederknien, den kleinen Fuß küssen.«

»Aber Fritz!«

»Und wenn es dir dabei einfiele, den hübschen Fuß auf meinen Kopf zu setzen, mich ganz regelrecht zu maltraitieren – ich glaube, ich würde auch das reizend finden.«

187 Sie biß sich mit ihren weißen Zähnen auf die roten Lippen und sah ihn mit einem eigentümlichen Blick an.

So redete er viel thörichte Sachen. Sie hörte es gern. Der Tote war längst vergessen.

Eine kleine Pause war eingetreten – die nüchterne, verlegene Pause bei jeder Liebelei. Die Neigungselektricität ist erschöpft. Jetzt gab die schöne Frau ihren Gedanken Audienz. Der Dandy putzte sein Monocle.

»Der Loja war ja vorhin auch da. Warum kroch der eigentlich in den Pferdestall? Und wenn er drin war, warum verbrannte er nicht wenigstens?«

»Ja, warum?« wiederholte sie.

»Was hast du?« fragte er verwundert.

Martha sah plötzlich so merkwürdig ernst aus, ihre Lippen zuckten. Sie saßen auf dem kleinen, modernen Puppensofa, wo gerade nur für zwei Verliebte Platz. Er wollte sie näher an sich ziehen: »Liebling, nicht wieder weinen!«

Sie aber widerstrebte, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, und krampfhaft aufschluchzend stieß sie hervor: »Ich bin so schlecht!«

»Wieso denn?« Der Dandy meinte, sie denke an den Verstorbenen, an das trostlos nüchterne Leichenbegängnis, und etwas von der empörenden Tragik dieses Schicksals und der seichten Frivolität der Stunde zog wie ein häßlicher Schatten auch über seine kleine Seele, so daß er das billige Trostwort: »Er hat's überstanden!« nur unbeholfen herausbringen konnte.

Die schöne Frau schüttelte den blonden Kopf: »Ich habe ihn ja nie geliebt! . . . Aber . . . aber . . .«

»Was quält dich denn, Schatz?«

188 Und da erzählte sie ihm die Geschichte ihrer Schwester, schluchzend, abgebrochen, und doch mit jener leichten Retouche, welche aus einem Drama ein Rührstück macht.

Es war ein gewagtes Experiment, dieses Vertrauen. Sie fühlte es an Doerstedts geniertem Blicke, der den ihren mied, an dem leisen Zittern seines blonden Schnurrbarts, das peinliche Gefühle verriet.

Gewiß rührte ihn die Geschichte. Seine verliebte Phantasie gaukelte sich gern hübsche Frauen vor. Und diese hier sah er ganz genau vor sich: sündhaft reizend und doch selbstlos. ›So hinterlistig ins Netz gelockt, so schnöde verlassen – traurig!‹ dachte er; es war das halbe Mitleid, wo man für die eigne weiße Wäsche fürchtet.

Als folge sie seinem Ideengang genau, fuhr sie leise fort: »Er hat mich vor dir gewarnt. Du würdest mich auch betrügen, auch verlassen, wie der Freiherr v. Loja aus dem Hause Dessenheim meine Schwester . . .«

Hatte hier wieder einmal das Weltkind an die richtige Stelle getippt? Dem Dandy krampfte sich innen etwas zusammen. Nein, der Vergleich mit Loja paßte ihm gar nicht! Er, Fritz v. Doerstedt, hatte doch keine Vergangenheit und auf seinem Gewissen höchstens ein paar hübsche Stubenmädchen seiner Mutter. Bei aller Liebelei, allem Leichtsinn – anständig war er immer geblieben. Und nun warf man ihn in einen Topf mit einem, der das seiner Auffassung nach nicht mehr war. Hatten sie ein Recht dazu? Er sah finster vor sich hin, dachte nach, und zuletzt sagte er sich ehrlich: Ja, sie haben ein Recht.

189 »Das wird kommen, muß kommen,« sagte sie mit müdem Lächeln. War's der schüchterne Appell ihres Herzens an sein Herz, was sie so sprechen ließ? Oder nahm sie die Zukunft wirklich als das Unabänderliche?

Doerstedt ließ das Monocle fallen und lehnte sich im Sofa zurück. Was die Natur diesem seichten Menschenkind an Edelmut, die Geburt an Ehre gegeben hatte, wogte empor. Die Stunde der Entscheidung war da. Es kam ihm schwer an, aber er fühlte ganz sicher, daß sich jetzt auf diesem Sofa seine Zukunft entscheiden müsse. Entweder aufstehen, weggehen, um niemals wiederzukommen – oder . . . Aber dieses »Oder« stellte sein eitles Herz vor die härteste Probe. Er sah förmlich das Achselzucken, das verlegene Lächeln, den kalten Hohn Natzfelds, die sprühende Verachtung der Wilnein. »Martha v. Doerstedt, verwitwete Gellmann.« Er sah sich, wie er das geliebte Koller auszog, las seine Verabschiedung im Militärwochenblatt. An Mutter und Schwester dachte er nicht. Aber sich losreißen von allem, von dem Standeshochmut, der ihn gefeit, von der Lebensauffassung, die ihn getragen, auch innerlich von dem Boden, auf dem sein Geschlecht seit Jahrhunderten gesessen? Sein Geist irrte ratlos umher wie sein Auge.

Auf der schönen Frau blieb es endlich haften – verstohlen, geniert. Der süße Mund . . . die schön geschwungene Braue . . . der Goldflaum des Nackens – es rieselte ihm stechend heiß durch die Adern. Dem allem entsagen für immer, für einen andern? Sein Blick glitt weiter. Bei der schwarzen Rüsche, die den weißen Hals so pikant abschloß, stutzte er. Sie war in Trauer, verwitwet, schutzlos ihm 190 preisgegeben; der Tag, der Ort waren ein unbedingter Appell an seine Ehrenhaftigkeit. Die schwarze Rüsche entschied. Er beugte sich zur schönen Frau hinüber und küßte sie auf den Nacken.

»Ich bin ein anständiger Kerl, Schatz . . . ich heirate dich unbedingt.«

Da sah sie ihn mit einem glückseligen Lächeln ihrer grauen Augen an: »Fritz . . . du guter Fritz . . .«

Sie hatte ihr Glück gefunden – ihr Glück. 191

 


 


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