Johannes Richard zur Megede
Quitt!
Johannes Richard zur Megede

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel.

Die erwartungsvolle Stille der Weihnacht lag über Lorschen. Ein klarer, kalter Sternenhimmel funkelte auf die weißen Schneefelder hernieder. Die Knechte lungerten, die Hände in den Hosentaschen, müßig am Pferdestall herum und blickten mit stumpfem Interesse bald auf die Insthäuser unten im Dorfe, wo es hie und da wie der kümmerliche Schein eines winzigen Christbaumes heraufblinkte, bald auf die Fenster des Herrenhauses, dessen hell erleuchtete Front nur so blitzte.

Dort in dem mächtigen, wohlig vom braunen Kachelofen in der Ecke durchwärmten Flur stand heute eine lange Tafel. Auf dem groben, glänzenden Tischtuche prangte ein riesiger Weihnachtsbaum, schier überladen mit rotwangigen Aepfeln, Schaumgoldnüssen und großen, schreiend bunten Pfefferkuchenherzen. Diener und Jäger in großer Livree mit Gamaschen und Wappenknöpfen waren beschäftigt, die Wachslichter im harzduftenden Geäst festzumachen, während der Graf auf weiße Zettel die Namen der Leute schrieb in seiner altväterischen, zittrigen Handschrift. Comtesse Marie hatte das Amt, in die aufgereihten blitzblanken Milchsatten diese Berge von selbstgebackenen Pfefferkuchen, Paranüssen, Bonbons, 155 hinter denen ihre zierliche Gestalt fast verschwand, peinlich gerecht zu verteilen. Denn darüber wachte der Alte mit Argusaugen; er hatte schon mit unzufriedenem Brummen die Tante vertrieben, deren oberflächlicher Art dies Abzählen von Pfefferkuchen und Aepfeln lächerlich und langweilig vorkam, und beobachtete auch jetzt mit argwöhnischem Blick die Tochter. Aber Marie war das Hausmütterliche heute gerade nach ihrem Geschmack, schon um sich recht würdig vor Arthur zu zeigen, der jeden Augenblick kommen mußte. Und da vernahm sie auch schon durch die hellhörige Winterluft das Geläute von zwei Schlitten, die sie sofort herauskannte: eins fein, melodisch, wie um nur ja keinen Mißklang in die weihevolle Stille des Abends zu bringen – das war Arthur; und ein andres, viel weiter zurück, aber schrill, rücksichtslos, dem man den jagenden Trab sehr scharf gefahrener Pferde ordentlich anhörte – es war Vetter Hasso, dem es nach langen Jahren einmal einfiel, das Fest in der Heimat und bei den Verwandten zu verbringen.

»Du hast dich bei den Bonbons verzählt, Mieze,« mahnte der Alte, als die Begrüßungsscene vorüber war. Gehorsam begann die Comtesse noch einmal, und mit innigem Vergnügen sah sie im großen Flurtrumeau, wie verliebt Arthur ihren graziösen, jetzt wohl etwas koketten Bewegungen folgte. Hasso v. Natzfeld amüsierte sich damit, den Wolfshund, der unter dem Schutze der nachsichtigen Feststimmung sich eingeschlichen hatte und, vor den Ofen hingestreckt, behaglich stöhnte, mit der Spitze seines Lackstiefels zu warnendem Geknurr zu reizen. Die Weihnachtstafel interessierte ihn gar nicht. Wie sollte er auch solche Kindereien dieses altfränkischen Onkels 156 verstehen, der jetzt geschäftig die Leutegeschenke prüfte, hier von der roten Stalljacke eines Knechtes die Tannennadeln wegblies, dort die braunen Kalmuckkittel der Dorfjugend skeptisch befühlte: »Ist das auch von demselben guten Zeuge wie beim vorigen Fest, Mieze?«

Neffe und Onkel hatten sich nie verstanden. ›Er verbauert immer mehr‹, dachte Hasso. Denn daß man an den schrecklichen karierten Halstüchern für Schmidts Karline oder den dicken Socken der Knechte irgend welches Interesse haben könnte, war ihm unerfindlich. Und als der Alte sogar liebevoll auf die Eigenart einiger Scharwerksmädchen einging: »Den blauen Unterrock werde ich lieber der Anna hinlegen, sie ist nun einmal etwas eitel; den grauen aber der von Maurauns, sie ist mehr ein praktisches Mädel,« – meinte Hasso, gähnend vor Langeweile: »Weißt du, was die hochherzige Frau Sondeck nach deiner Brandrede neulich gesagt hat? ›Den alten Krautjunker kenne ich. Der möchte, daß ganz Ostpreußen so wie Anno Tobak drei oder vier Grafen allein gehörte. Uns Bürgerliche ästimiert er höchstens als Pächter.‹« Er hatte ganz unbekümmert um die Anwesenheit der Dienstboten gesprochen – eine Menschenklasse, die für ihn nicht existierte.

Doch der Graf winkte den Leuten, hinauszugehen. Dann lachte er in seinen grauen Bart. »Und meinst du, die Leute würden es schlechter haben?«

»Im Gegenteil!« antwortete Hasso bissig mit einem Blick auf die vollgepackten Blechschüsseln, »die Bande würde sich noch mehr befressen.«

Gampesch nickte nachdenklich. »Was so ein Weihnachten kosten muß! Viel Geld, viel Geld!«

Der Alte, der die unteren Lichter des 157 Weihnachtsbaumes angezündet hatte, wandte sich um und tippte den Schwiegersohn auf die Brust. »Und die Zeiten sind schlecht? Sehr richtig! Aber sehen Sie mal, zwanzig Jahre lang habe ich meinem alten Hofmann dies Pfund Tabak hier selbst eingekauft. Soll ich dem gebrechlichen, in meinem Dienst verbrauchten Kerl sagen: ›Das hört auf; wir müssen sparen, und zwar bei euch wollen wir anfangen?‹ Das wäre praktisch, aber es wäre herzlos! Steckt nicht ihr Schweiß und ihre Arbeit zu allererst in unsern Gütern? Das hier sind Kleinigkeiten, die mich nicht arm und sie nicht reich machen. Aber an einem solchen Tage sollen meine Leute die Zusammengehörigkeit mit mir fühlen. Und wenn die roten Stalljacken meiner Knechte dicker und die selbstgebackenen Pfefferkuchen besser sind wie auf andern Gütern, so sagt sich auch der undankbarste Bursche: ›Der Alte denkt doch an uns; er hat alles selbst bestimmt!‹ Das stärkt ihr Vertrauen. Und die Lorscher wenigstens sollen nicht argwöhnen, daß sie für mich nur Werkzeuge sind, die ich aufbrauche und dann gedankenlos wegwerfe.« Darauf stieg der Graf auf den Tritt und zündete selbst die obersten Lichter an. »Es ist für meine alten Beine kein Vergnügen!« meinte er lachend. »Und nun, Mieze, klingle! Die Dorfkinder werden schon ungeduldig sein.«

Die hohe Hausthür öffnete sich. Die Gutsleute kamen herein, ungelenk, schüchtern, mit klappernden Holzpantoffeln, den scharfen Geruch des Stalles und der Arbeit um sich verbreitend die einen, auf dicken Strümpfen, verlegen die Nase am Aermel wischend, die andern; die Dandies unter den Knechten mit fetttriefender Tolle, in hohen Schmierstiefeln. Die Comtesse trat an den Weihnachtstisch. Der Diener 158 reichte ihr die Bibel. Sie las das Weihnachtsevangelium – es war alte Sitte des Hauses – ein wenig verlegen, leise, ergriffen von jenem eigenartigen Weiheschauer, der seit den Tagen ihrer frühesten Jugend sie an diesem heiligsten Tage durchzittert hatte.

Mit breiten, roten Gesichtern, die Mäuler offen, standen die Dorfjungens da; die Mädchen lugten verstohlen an den Schultern der Erwachsenen vorbei auf die Festtafel. Nachdem die Comtesse vollendet hatte und, den feuchten Schimmer der Rührung in ihren schönen Augen, in den Kreis der Ihrigen zurückgetreten war, stimmte das älteste Schulmädchen »Stille Nacht, heilige Nacht« an, etwas bänglich, viel zu hoch. Aber die Jungens halfen wacker mit, besonders am Versschluß, wo sie im breitesten Ostpreußisch die Melodie wie an einem Strick in die Höhe zogen. Es war ein zweifelhafter Kunstgenuß. Doch, Hasso ausgenommen, fühlten alle etwas dabei, so daß die kurze Ansprache, welche der Graf an seine Leute zu richten pflegte, auf einen empfänglichen Boden fiel. Von wässrigem Gefühl war nicht viel darin zu finden. »Ich bin der Herr, und ihr seid die Knechte. Aber ich meine es von Herzen gut mit euch. Unsre Freunde und Feinde sollen die gleichen sein.« Das war's ungefähr. Doch daß der Mann hier seiner Lebtag so gethan hatte, wie er sprach, gab seiner Rede eine besondere Würze. Dann gingen die Leute, die Schüssel unter dem Arm, von dannen. Der Dank war der stumme Handkuß für den Grafen und die Comtesse, der hier keine leere Sitte war. Die Comtesse hätte ihn gern gemißt. Ihrem aristokratischen Händchen war der struppige Bart des Hofmannes nicht angenehm, so 159 wenig wie ihrer Nase der warme Fuselduft, der zur Tagesfeier aus manchem Munde emporstieg.

Als der letzte Dorfjunge sich linkisch hinausgeschoben hatte, sagte Vetter Hasso mit zugehaltener Nase: »Wenn ein Gigerlparfümeur dies Parfüm hier erfassen könnte, welche Geschäfte würde er machen!« Auch die Tante steckte den Kopf aus einer Thür. »Fi donc! Was für Gerüche die Leute mitbringen!«

Der Alte lachte in sich hinein. »Sollen sie sich mit Moschus salben? Vielleicht kommt das auch noch. Aber dann steht's verdammt schlecht um unsre Herrlichkeit!«

Aus Miezes Boudoir klang ein silbernes Glöckchen. »En avant, meine Herrschaften! Meine Schwester hat's gerade so abgepaßt. Und du, Mieze, zier dich nicht! Du vergehst ja vor Erwartung, Kind!« Rasch schob sie der Graf in die geöffnete Thür. Die Tante machte mit vieler Liebenswürdigkeit die Honneurs. »Hier bist du, Hasso, etwas mager . . . eine Tulaspitze . . . von Mieze diese Schachtel Zigaretten; es war das Aeußerste, was wir dem starrsinnigen Kinde abringen konnten. Was habt ihr nur vorgehabt? Ueber Papa kann ich hinweggehen. Die üblichen Taschentücher und Mandelseife. Aber nun, Marie! Bist du nicht überrascht, Mädchen?«

Die Comtesse trat an ihren reichbesetzten Tisch. »Ein Biberpelz? Wie gut, Papa! Die Briefbogen mit dem Alliancewappen – natürlich von dir, Tante!«

»Aber die Hauptsache! Siehst du nicht, Wildfang?«

»Schon lange. Aber das Schönste zuletzt!« Ein komplettes Reitzeug war es aus hellgelbem Leder mit silbernen Beschlägen. Sie fiel dem Bräutigam um den Hals. »Vielen, vielen Dank, du Lieber! Das hast du doch nicht vergessen, als ich im Herbst 160 auf meinen abgeblätterten Sprungzügel schalt! . . . Auch eine Reitpeitsche . . . ein wahres Bijou!« Sie hob das seine Fischbein auf und schlug einen leichten Lufthieb. Dann sah sie auf den Knopf; er war von Gold mit seltsam verschlungenen Arabesken. »Le traître à sa belle traîtresse« war fein auf dem Schilde eingraviert.

Vetter Hasso trat vor und sagte leise mit tiefer Verbeugung: »Ein reumütiger Sünder . . . verstehst du?«

»Gewiß. Und es freut mich von Herzen, dir erwidern zu können, daß ich innerlich an dir nie gezweifelt habe.«

»Was ist das wieder?« fragte der Graf. »Aber das Ding ist sehr hübsch, Hasso!« fuhr er fort, die Gerte in der Hand wiegend. »Man verwöhnt dich, Mieze. Der Fuchs hat sie eigentlich nicht nötig. Ueber eine Hecke bringst du ihn auch mit ihrer Hilfe nicht.«

»Lachst du nicht über mein kindisches Geschenk, Arthur?« fragte Marie den Bräutigam. »Ich habe so lange nach etwas Apartem gesucht, bis ich ganz dumm wurde und diese häßliche Brieftasche herausgriff. Der Eichenkranz soll eine zarte Anspielung auf dein Wappen sein . . . und mein Bild? Das ist wenigstens gut getroffen. Du fandest mich ja immer am nettesten mit Sporn und Reitcylinder!«

Gampesch drückte galant die Photographie an seine Lippen. »Ich wüßte nichts, was mir lieber wäre, ausgenommen das Original.«

Lange stand man um den Tisch, und der Comtesse laute Freude bewies, wie sehr sie noch Kind war. »Wenn der Schnee nur nicht so hoch wäre, ich würde den Fuchs noch heute satteln lassen und reiten,« meinte sie zuletzt bedauernd.

*

161 Unterdes hatten sich der Graf und Arthur in ein landwirtschaftliches Gespräch verwickelt. Man sollte, auf Gampeschs Rat, im nächsten Jahr Zuckerrüben bauen. Die Herren engagierten sich bei der Sache. Das Für und Wider wurde erwogen – von Gampesch nüchtern, sachgemäß, er kämpfte geschickt mit Zahlen. Es sei dies heute die einzige Möglichkeit, nicht zusetzen zu müssen, während der Graf eine versteckte, kaum überwindliche Abneigung hatte. Es lag in seiner konservativen Bauernnatur, daß er dieser Kultur vor allem deswegen mißtraute, weil sie neu war.

Vetter Hasso, der heute sehr nachdenklich war, erging sich derweil leise pfeifend in den daneben liegenden Räumen. Tante Friederike ging, lebhaft auf ihn einsprechend, mit. Dieser kaltherzige Reaktionär war ihr ausgesprochener Liebling. Auch die Comtesse trollte hinterher, weil sie sich in ihrem Boudoir überflüssig fühlte. »Und das sage ich dir, Hasso,« fuhr die Tante in der leise geführten Unterhaltung fort, »du hast dir schon Mieze wegschnappen lassen, wo es doch goldklar war, daß ihr von Rechts wegen zu einander gehörtet durch Geburt und soziale Stellung. Nun mach wenigstens Ernst mit Anna! Sie ist eine Schönheit und die Familie tadellos. Für dich als Majoratsherrn ist es höchste Zeit. Wenn ihr Natzfelds unverheiratet die Dreißig passiert, verwildert ihr regelmäßig ganz unglaublich!«

»Sehr schmeichelhaft, Tante! Aber das verspreche ich dir heilig: die andre Linie bekommt das Majorat nicht, und wenn ich zu diesem Zwecke mein eignes Stubenmädchen ehelichen sollte! Für einen Erben wird gesorgt werden, so oder so.«

162 »Du bist schon verwildert, mein Lieber. Gott sei Dank, handelst du anders, als du red'st.«

»Zuweilen wenigstens.«

»Ich muß noch mal ins Eßzimmer. Und du, Mieze, behandle ihn gut,« sagte sie, sich umdrehend. »Er hat sich für deine Zigaretten gerächt wie ein echter Edelmann.«

*

»Die gute Dame hat vorzügliche Anlagen zum Kuppelweibe!« sagte Vetter Hasso anerkennend, als die Tante weg war.

»Und beim Prinzen Lack kein Glück damit!«

»Ich bedaure das selbst. Aber seitdem du mir entgangen, Mieze . . .«

»Um die du dich so eifrig bemüht hast!«

»Als du mir noch mit nackten Füßen entgegenliefst, wagte ich beim Onkel einen kecken Vorstoß. ›Einem Natzfeld nie!‹ war die prompte Antwort. Und ich bin ein viel zu loyaler Mann, um widerwilligen Vätern ihre Töchter zu entreißen, selbst wenn diese wollten.«

»Sie wollte auch nie. Beruhige dich, Hasso. Aber mit der Heirat hat die Tante recht. Nur nicht Anna v. Doerstedt! Sie ist kalt, herzlos, gewöhnlich durch und durch. Außerdem verkehrst du mit ihr in einer Weise, die sich keine Frau gefallen lassen darf, die in der Ehe geachtet sein will.«

»Des kann sich von mir manche junge Dame aus der Gegend rühmen. Uebrigens hat sie nicht halb so weiche Haut wie Nana, alias Martha Gellmann.«

»Und die interessiert dich?«

»Sie nicht und keine andre! Wir sind jetzt mitten in der Hasenjagd, da können mir die Weiber gestohlen bleiben.«

163 »Dafür verkehrst du desto eifriger mit dem Doktor. Man spricht wenig davon, aber man wundert sich.«

»Zufall, reiner Zufall. War er nicht auch bei euch zum Fest eingeladen?«

»Auf Papas direkten Befehl. Ich mußte ihm die Aufforderung dazu selbst überbringen. Es sollte so eine Buße sein – für neulich, weißt du . . . Meine Art machte ihm die Ablehnung sehr leicht.«

»Handelt so eine Comtesse von Geblüt?«

»Weil sie nicht lügen will, und wenn es sie den Kopf kostete!«

Hasso warf sich, die Hände in den Hosentaschen, auf einen Fauteuil im Salon und blies stoßweise den Rauch seiner Zigarette von sich.

»Was hat er wieder ausgefressen? Und wenn es nur die kleinste unsaubere Stelle in seinem Leben giebt, so lasse ich ihn fallen, wie ich schon so viele fallen gelassen habe.«

Die Comtesse stellte sich wie ein Schulmeister vor Natzfeld hin. »Erstens ist er ein Renegat, ein fahnenflüchtiger Aristokrat, der den traurigen Mut besitzt, das laut und cynisch auszusprechen.«

»Kupferbergwerke von Sachalin das beste – ich verstehe,« warf Hasso mit geheucheltem Ernst ein.

»Er hat – er muß etwas gethan haben, was ihn die Achtung seiner Standesgenossen unwiderruflich kostete. Das ist nicht etwa von mir . . .«

»Gewiß nicht. Als wenn ich Gampesch selbst hörte! Ein objektiver Freund in der That!«

Sie war im Fluß. »Und weiter. Wer wird denn Arzt in den niederländischen Kolonien? Ein Edelmann von so alter Familie, nach so standesgemäß verlebter Jugend – freiwillig? Es ist wenig anders als eine Deportation. Geheimrat Füllenius 164 hat Frau Domat versichert, daß anständige deutsche Aerzte dafür gar nicht zu haben wären; nur ganz heruntergekommene Existenzen oder Dummköpfe, die es zu keinem Examen gebracht.«

»So besserer Heilgehilfe. Wenn ich das allerdings gewußt hätte!«

»Von Diagnose keine Ahnung – ein Charlatan gefährlichster Sorte.« Zungenfertig betete sie alle Verleumdungen des alten Zechbruders nach. »Füllenius, ein Gewährsmann so über allen Zweifel erhaben, den der König noch neulich mit einem hohen Orden ausgezeichnet hat!«

»Wird der Esel dadurch klüger, daß man ihm Schellen umhängt?« Natzfeld warf den Zigarettenstummel weg und sah nach der Uhr.

»Wagst du es wieder?« fragte sie, empört über den gleichmäßigen Hohn.

»Andrer Ansicht zu sein? Niemals! Nach einem freundschaftlichen Dolchstoß zwischen die zweite und dritte Rippe bin ich nicht sehr begierig. Ich glaube Wort für Wort. Noch mehr. Wahrscheinlich hat er Wechsel gefälscht, gestohlen . . . Er trägt nicht umsonst den Kopf so kurz geschoren wie ein Zuchthäusler. Ueber mich ärgere ich mich nur. Von solchem Kerl sich düpieren zu lassen!« Er holte aus der Brusttasche einen zerknitterten Brief und zeigte auf die Unterschrift. ›Mit den freundschaftlichsten Grüßen. Allezeit der Ihrige. Natzfeld.‹ »Wenn ich das nun abgeschickt hätte? Ich bin dir ewig dankbar, Cousinchen. Sofort fahre ich zu ihm. ›Ihr Doktordiplom, Ihr polizeiliches Unbescholtenheitszeugnis?‹ Natürlich nichts vorhanden. ›Dann verhafte ich Sie in meiner Eigenschaft als Königlich preußischer Amtsvorsteher auf Denunziation der 165 Reichsgräfin Wilnein hin.‹ – Ei, wie gut er es im Sasser Amtsgefängnis haben soll! Stündlich Prügel und nichts zu essen!«

Die Comtesse war fast sprachlos. »Du zu ihm? Heute abend?«

»Jawohl. Prinz Lack hat das so wie so beabsichtigt. Er hat einen superben Rum, der Verbrecher. Und den muß ich doch vor seiner Verhaftung noch auspicheln.«

»Ich meinte es gut mit dir,« murmelte sie.

Vetter Hasso erhob sich und dehnte sich träge. »Ich auch mit dir – mit euch allen. Darum führe ich euch voll Respekt an der Nase herum, weil das eurer Konstitution so gut bekommt.«

Sie erwiderte kein Wort. Mit der Hand hatte sie eine Tanagrafigur gefaßt. Am liebsten hätte sie die zerschmettert, so vibrierten ihre Nerven.

»Ja, ja,« sagte er, einen Schritt vorwärts machend. »Denk an das alte Sprichwort: ›Falsch wie ein Natzfeld.‹«

»Und dumm wie ein Wilnein!« grollte es zurück, »das stimmt auch heute.«

»Nun rüste dein gesellschaftliches Autodafé! Für ihn wenigstens. Für mich? Verlorene Liebesmüh'! Ich bin eine zu gute Partie. Aber selbst, wenn es dir gelänge . . .« Stimme und Gesicht wurden plötzlich von einem so konzentrierten Ernst, daß sie keinen Augenblick an seiner Echtheit zweifelte. »Was liegt mir an der Meinung von dem Gesindel? Was selbst an deiner? Du liebst ja das gerade Wort – denn du hast noch gar keine! Ich will dir das Geheimnis verraten, das mich zu dem Manne zieht. Er ist ein ganzer Kerl in Liebe und in Haß. Und ich habe euch alle mal wieder herzlich satt, die ihr euch nicht mal auf euch selbst verlassen könnt! Dir sage 166 ich das allein, weil ich dich trotz deiner Wilneinschen Vollkommenheit gern habe. Aus dir könnte das Leben noch etwas machen, das dunkle Gefühl habe ich. Im übrigen bin ich ein alter Praktikus. Und wenn ich mich zeitweilig mit einem Verfemten associiere, so mache ich es wie der Frosch, der den Orkan spürt und in sein Element hüpft. Die Leute werden goldrar sein, auf die man rechnen kann. Und der Freund, der den Freund heraushaut aus dem dichtesten Gedränge, ohne sich um das eigne, wertvollere Leben zu scheren, wird mehr wert sein als das große Los.« Aus dem sonst so kalten, spöttischen Auge blitzte es heiß auf wie ein mächtiges Gefühl. »Freilich, er ist ein Pechvogel, dem ich die unbewehrte Linke vielleicht selbst noch decken muß . . .«

Der Graf und Gampesch traten in den Salon. Und so blitzschnell hatte Hasso seine gewöhnliche Spöttermaske aufgesetzt, daß die Comtesse angesichts dieser schauspielerischen Fertigkeit zu glauben begann, es habe sich überhaupt nur um einen Maskenwechsel gehandelt.

»Muß mich verabschieden, Onkel. Königlicher Dienst! Ich bin einem entsprungenen Galeerensträfling auf der Spur.« Vor der Comtesse verbeugte er sich lächelnd und fragte leise: »Finde ich die ausgehauenen Späne der heiligen Feme noch heute an meiner Hofthür?«

»Was fällt Ihnen ein, Natzfeld? Lorschen ist doch kein Taubenschlag! Bezwingen Sie heute wenigstens Ihre Jagdpassion! Um was wird sich's denn handeln, um 'n Otter oder 'n Dachs . . .« Gampesch hielt angesichts des eisigen Schweigens von Vater und Tochter seine matte Aufforderung für Kavalierspflicht.

167 »Weit gefehlt!« rief Hasso, die Thürklinke schon in der Hand. »Fragt nur Eure edle Braut! Sie weiß, welchem Teufel ich verfallen bin.«

In scharfem Trabe fuhr Natzfeld vom Hofe.

»Wohin fährt er, Mieze? Ihr macht einen neugierig mit eurer Geheimnisthuerei,« sagte Gampesch.

Die Comtesse zuckte die Achsel. »Entweder ist er schon betrunken, oder er betrinkt sich noch!«

»O! o! Das wäre das erste Mal!«

»Jedenfalls ist es mir nicht unlieb, daß er uns von seiner Gegenwart befreit hat. Er verdirbt mir die Stimmung stets!« Aus ihrer gegenseitigen Abneigung machten Onkel und Neffe kein Geheimnis.

Auch der Comtesse war die Weihnachtsstimmung genommen. Sie grübelte über die Unterredung nach. Und während Gampesch sie mit seiner feinen Liebenswürdigkeit behandelte, fand er, sehr im Gegensatz zu sonst, oft einen abweisenden Ausdruck auf dem geliebten Gesichte. Ein vages Angstgefühl hatte sie beschlichen, die Witterung einer noch fernen Entscheidungsschlacht, die sie lieber heute wie morgen geschlagen hätte. Heute war sie noch stark, mutig, ein entschlossener Soldat. Aber morgen? Es gab jetzt manchmal für sie Augenblicke, wo sie unsicher wurde in Gedanken und Gefühl und ein giftiger Zweifel bis in die feinsten Poren ihrer Seele drang. Und wenn der Feind heimtückisch gerade einen solchen Moment erfaßte, den gefährlichsten für Naturen wie die ihre, die nur stark sind, wenn sie mit ganzem Herzen glauben! 168

 


 


 << zurück weiter >>