Johannes Richard zur Megede
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Johannes Richard zur Megede

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Neunzehntes Kapitel.

Es schien, als wenn der Besuch heute nicht aufhören wollte. Gampesch und Natzfeld waren gekommen und saßen beim Thee, der Bräutigam ein wenig beleidigt, reserviert auch der Braut gegenüber. Natzfeld drehte sich gleichgültig eine Zigarette, als Marie mit zuckender Lippe von dem schweren Fall sprach. »So seid Ihr also wieder mal Lorschens rettender Engel, Loja! Und die schöne Cousine heilige Elisabeth Numero zwei? Uebrigens höchst ehrenwert, Mieze. Nun kann ich mir wenigstens vorstellen, wie wässerig 's bei meinem Leichenbegängnis erst hergehen wird.«

»Nicht zu frivol, Natzfeld!« mahnte Loja ernst. »Ich begreife die Comtesse vollkommen.«

Mit querem Blick schielte Gampesch zum Sprecher herüber. Zum erstenmal im Leben gefiel Loja der Comtesse beinahe besser wie der Bräutigam. Natzfeld lehnte sich im Schaukelstuhl zurück. »Ja, der Tod ist doch ein merkwürdiger Bursche. Zu den gewöhnlichen Leuten kommt er unangemeldet, brutal; bei uns hat er immer Angst vor dem Diener, der ihn an die Luft setzen könnte, und klopft zuerst bescheiden an. ›Verzeihen Sie, hier ist ein kleiner Wechsel!‹ Zahlen kann man natürlich nicht, denn 68 da ist eine haarsträubende Summe von Liederlichkeit, Schloßabzüge und importierte Zigarren gar nicht gerechnet. Darauf schiebt der Mann mit der Hippe kleinlaut wieder ab, wie ein anständiger Wucherer, der sich genau orientiert hat, wie viel Prolongationszinsen noch herauszuschlagen sind. Aber Angst hat man vor dem alten Kerl! Denn er kommt pünktlich wieder mit seinem Papierchen, und zu guter Letzt holt einen doch der Teufel.«

Niemand antwortete. Nur Gampesch zog ein sauersüßes Gesicht und bat Marie auf einen Augenblick ins Boudoir.

Wieder standen die beiden auf dem weißen Felle vor dem Kamin. Die Rollen waren getauscht. Er machte ihr liebenswürdige Vorstellungen, streichelte, küßte sie, und sie war von fast abstoßender Kälte. Vorwürfe? Liebkosungen? Sie konnte nur bei seinem Bemühen bitter lächeln. Wenn die großen Fragen des Lebens sie schieden, war der Kuß dann die Brücke? Als er sie so kalt, so sicher sah, wähnte er, einem tauben, unwilligen Ohre zu predigen, nicht einem scharfen, feindlichen. Er wollte den letzten Trumpf ausspielen – sich selbst – und spielte den schlechtesten. Damals, damals in jener seltsamen Dämmerstunde, im schwülen Moment der Leidenschaft, wo sie alles zu geben bereit war, Herz, Sinne . . . weil sie darin allein die Rettung fühlte für sich und für ihn – hatte er gezaudert. Und das vergiebt das Glück nie!

»Lieber Schatz, wenn sich solche Gegensätze zwischen uns herausbilden . . . allerdings bin ich beleidigt, empört sogar,« fuhr er erregt fort. »Ihr verabschiedet ganz unmotiviert einen verdienten Arzt, holt diesen Stromer . . . Ja, wenn es ein Prinzip 69 ausdrücken soll – meinetwegen! Vorläufig hat noch dein Vater zu entscheiden in allen solchen Fragen, später, liebes Kind, hab' ich's. Sobald die Klugheit, die Sorge für dich zu nichts weiter führen soll als zum Gegenteil, dann, Mieze, stelle ich die Kabinettsfrage.« Er hatte einen Aufschrei erwartet oder das mimosenhafte Erschauern ihrer ganzen Natur; dafür lag ein kalt lauernder Ausdruck in ihren Augen, der eine rätselhafte Ergänzung erhielt durch den müden Zug um den Mund.

»Gewiß, Arthur, du oder ich! Du denkst, es reize mich, den Pantoffel zu schwingen? Ich bin viel älter geworden, und du hast es gar nicht gemerkt. Wir verstehen uns eben von Tag zu Tag weniger. Da kommt dann die ganz andre Frage: Passen wir überhaupt zu einander?!‹«

Das war so schleppend gesagt, gar nicht in ihrer Art; schmerzliche Resignation konnte vielleicht ein feines Ohr durchzittern hören.

»Mieze! Um Gottes willen, Mieze!« Und im Augenblick hatte er sie umschlungen, aufgehoben und trug sie in einen Fauteuil. Sie ließ es geschehen. Er bedeckte mit heißen Küssen das Gesicht, das duftende Haar, den Nacken, das schwarze Tuch ihres Kleides über der feinen Schulter. Als er bat, flehte, gab sie ihm endlich einen Kuß zurück – und der war kalt. »Solch häßliche Sachen sagt dieser geliebte Mund hier? . . . Ich verzeihe dir alles, verzeih du mir auch! Ich will dich nur so haben, wie du bist! Sieh mal, wir werden uns verstehen. Wenn wir erst zusammen älter geworden sind, dann findet sich das alles ganz von selbst.«

Die leichte Last hatte fast bewegungslos wie ein beruhigtes Kind in seinen Armen gelegen; bei dem 70 letzten Worte machte sie sich los und sprang auf. Eine Haarsträhne war ihr aufgegangen. Instinktiv tastete sie nach der Schildpattnadel. Ein brennendes Rot lag auf dem nervösen Gesichtchen, die Augen waren weit geöffnet, heiß. Sie sah aus, als hätte sie an seinem Herzen einen glühenden Liebestraum geträumt. Doch der kleine Fuß stampfte jetzt zornig den Smyrnateppich, so daß der Sporn klirrte.

»Ich will morgen nicht das vergessen, was ich heute gedacht – ich will nicht alt werden! Mir graut vor dem Alter, wo man das Beste seiner Jugend treulos verleugnet, weil man's nicht mehr begreift . . . Nenne deinen Loja einen Stromer, Schurken, Bösewicht! Er ist's auch. Aber den Mut möchte ich von ihm haben, den Mut, der nicht alt wird.«

Der Antwort ward Arthur überhoben. Die Thür zum großen Salon nebenan knarrte – leichter Männertritt auf dem Stabeichenboden und Prinz Lacks Stimme, die sich an den Javaner wandte: »Dort drüben im Boudoir finden wir die Ausreißer sicher, sie wird sich eben über den Sterbenden durch den Lebenden zu trösten suchen.«

Marie hatte noch gerade Zeit, vor dem Spiegel hastig das Haar in Ordnung zu bringen; Gampesch half mit verliebt zitternden Händen und flüsterte. »Bist du wieder gut?«

»Ja, ja, ja!« kam es sehr beschäftigt zurück. Eine wunderbar schnelle Versöhnung! Es war auch hohe Zeit, denn Hasso pochte eben bescheidentlich an der Wand neben der Portiere und lugte dann mit scheinheiliger Miene an der Plüschdraperie vorbei. Das Brautpaar nahm wie auf Kommando eine steife, gemachte Stellung an, wie's merkwürdigerweise immer 71 Menschen zu thun pflegen, die das Entgegengesetzte darstellen wollen. Nun schlich der Vetter herbei, gebeugt wie ein alter, ränkesüchtiger Mönch in der Kutte: »Meine sündigen Augen haben nichts geschaut, Herzogin Hadwig.« Darauf sprang er schnell in die Tonart seines Lieblingspoems »Die fromme Helene« über und sagte warnend: »Ach Gott, wenn das die Tante wüßte!« Wider Willen mußte alles lachen – die etiketteliebende Tante war ja schon seit Wochen wieder in ihrem geliebten Kaiserberg.

»Wie sagt Busch?« fragte jetzt Prinz Lack träumerisch. »Es ist ein Spruch von alters her, wer Sorgen hat, hat auch Liqueur! Wo ist der Schlüssel zu deinem Schnapsschrank, hochgeborene, hochzuverehrende Frau Reichsgräfin? Der Reichsfreiherr nebenan zieht eine sorgenvolle Stirne und behandelt mich wie einen Aussätzigen; beides ist mir schmerzlich. Einen Cognac in Ehren kann niemand verwehren. Und der, denke ich, wird dem Manne helfen.« Damit war Hassos poetisches Können völlig erschöpft, aber er führte die Getrennten doch wieder geschickt in dem altmodischen Kaminzimmer zusammen zu einem gemütlichen Vesperstündchen, bei dem er alle Kosten der Unterhaltung trug und Gampesch über die Maßen fröhlich war, während Loja kaum ein Wort sprach und die Comtesse ihn verstohlen, mit angstvoll fragendem Blicke zuweilen ansah.

Es dämmerte leicht. Die fremden Wagen kamen langsam vorgefahren. Der Bräutigam verabschiedete sich zuerst, und Natzfeld hielt sich schämig die Augen zu, als das Paar sich küßte. Darauf kämpfte er mit der Comtesse einen erbitterten Kampf, weil er Loja durchaus mitnehmen wollte, unter dem nichtigen 72 Vorwande, daß die Lorscher Pferde nicht unnötig zum zweitenmal den bösen Weg bis Schwolmen machen dürften.

»Nicht wahr, Sie bleiben noch einen Augenblick, Herr v. Loja?« fragte die Comtesse, und als der Freiherr bejahte, stieg Natzfeld ein unter verleumderischen Bemerkungen gegen die bräutliche Treue der Cousine und die Freundschaftsgefühle des Freiherrn. Beim Abfahren lehnte er sich noch einmal heraus: »Ich mache Quartier bei Euch, Loja, und halte bei Eurer Rumflasche höchstens aus, bis der Hahn kräht – so lange wird's doch dauern? – Treue Husarenseele, soll ich dich nicht warnen? Ich höre die losen Speichen deines Jagdwagens noch auf dem Grandweg klappern.« Darauf fuhren die Schimmel im berüchtigten Natzfeldschen Hetztempo ab, und bald verklang in der Ferne das Rollen beider Wagen.

Der Diener war in den Flur zurückgetreten. Die Comtesse und der Freiherr blieben noch draußen. Ein köstlicher Abend dämmerte hernieder, hoch oben am blauen Himmel zog zierliches Cirrusgewölk der aufsteigenden Mondsichel zu; Sterne begannen schläfrig zu flimmern, die großen Kastanien vor dem Hause leuchteten im weißen Blütenschmucke wie riesige Weihnachtsbäume. Welcher Blütenduft zog durch die Landschaft, und die Büsche im Park flüsterten wie im Traume. An dem düsteren Cypressengebüsch schnupperte der Wolfshund mit seinem Holzkreuz. Dem Kutschstall gegenüber blitzte das rote Licht einer Laterne auf, ein Knecht in blauer Jacke und Soldatenmütze klapperte mit Wassereimern, pfiff einen Marsch. Die Stallthür knarrte. Man hörte deutlich, wie die Pferde gemächlich den Hafer 73 zermalmten und Heu aus den Raufen rissen. Das Klirren von Halfterketten, stampfende Pferdehufe . . . »Ho, Brauner, ho!« . . . Die Thür schloß sich wieder. Es war still. Nur vom Dorfe her drangen zuweilen verschwommene Harmonikatöne herüber, bald schwermütig, bald lustig; dann wieder verliebtes Kichern, lustiges Kreischen – die Dorfmädchen amüsierten sich da mit ihren Burschen. Loja stand unbeweglich, im Traum versunken. Dann wandte er sich plötzlich zur Comtesse:

»Hier muß man träumen! Genau so war's bei uns zu Hause auch, vielleicht ein wenig verfallener, ein wenig größer alles . . . ein uralter Herrensitz, den mein Vater eigentlich von meiner Mutter zur Hochzeit bekam, und den aufzumöbeln sein höchster Ehrgeiz war. Lange Zeit hat er's nicht können. 's ist auch nur ein halbes Glück, alles zu besitzen, was man sich wünschen kann, eine gute, geliebte Frau, einen Sohn, der damals auch nicht schlechter war als andre, viel Geld, ein fürstliches Vermögen noch in Aussicht – und sich ausgerechnet dann hinlegen und sterben! . . . Der Sohn?« fuhr er träumend fort. Dann lachte er kurz auf: »Wo seid ihr hingeraten, ihr güldenen Dukaten . . . bah! Wenn man krank ist, ist man noch nicht tot; wenn man tot ist, noch nicht im Fegefeuer; im Fegefeuer – noch nicht in der definitiven Hölle. Ha! Im Schlechten giebt's eine unendliche Skala, im Besseren hat die himmlische Gutmütigkeit sehr bald ein Ende . . . Wenn einer nur noch einen Gedanken hat, für den er existiert, – mag's auch ein scheußlicher sein!« Plötzlich sah er gespannt nach dem Stall der Arbeitspferde rechts. Da reckte eben ein Storch aufstehend die Flügel. »Warum mir auch der gerade 74 in den Weg kommen muß! Auf einer Scheune bei uns klapperte auch so ein kinderfreundliches Paar, und ich liebte die Vögel so, daß ich jedesmal weinte, wenn sie im Herbst wegzogen, und ihnen im kindischen Unverstand dankte, wenn sie im Frühjahr wieder kamen. Es ist eine lächerliche Erinnerung! Und trotzdem – wenn ich nicht ich wäre – könnte ich heulen vor Heimweh nach dem Gewesenen.« Der Storch hatte sich wieder in seinem Neste niedersinken lassen, Loja fuhr sich über die Stirn: »Wir vergessen unsern Patienten,« sagte er mit völlig verändertem Tone. »Hat der dreigestirnte Hennessy seine Samariterpflicht gethan, dürfen Sie ein weniger sorgenvolles Gesicht machen, Comtesse. Nicht wahr, der Geruch von armen Leuten und Arbeit – es ist doch nicht das Wahre!«

Marie blieb auch dieser Anspielung gegenüber ruhig. Als sie ins Dorf gingen, brannten bereits die Lichter überall hinter den angelaufenen Scheiben der Leutewohnungen. Man hörte Kinder quarren und das Klappen von Blechlöffeln an irdenen Eßschüsseln.

Sie standen vor dem alten Haus. Neblige Helle brach aus den niedrigen Fenstern. Die Comtesse sah in begreiflicher Neugier hinein: die Leute aßen. Auf dem braunen Tische dampfte Roggenmus in der Schüssel. Der Vater, ein langer, sehniger Mann mit starken Kinnbacken und spärlichem Maurerbart, langte mit der behäbigen Langsamkeit des Bauern ins Essen, kaute bedächtig, schnitt mit einem Taschenmesser ein dickes Stück Brot herunter und glättete die Klinge am Aermel. Die Mutter aß etwas nervös, wie alle diese gehetzten Frauen, denen das flüchtige Geschwätz mit der Nachbarin die 75 einzige Erholung ist; neben ihr zerpflückte ein neunjähriges Mädchen schwatzend in fettigen Fingern einen Bückling. Niemand sprach ein Wort, doch ein unverkennbarer Ausdruck des Behagens war allen Gesichtern eigentümlich. Dazu tickte die alte Wanduhr mit den Steingewichten träge, und die graue Katze schmiegte sich schnurrend an den Schemelbeinen.

Marie faßte Mut. »Es wird wohl besser sein, Herr v. Loja.«

»Warten wir ab! Warum sollen die Leute nicht mit Appetit essen? Der Hunger verschlingt glücklicherweise jedes andre Gefühl.«

Im Zimmer schlug ihnen der Brodem entgegen, nur dicker, zäher. Das Petroleum war schlecht, und die Lampe blakte. Nun kam das gewöhnliche Frage- und Antwortspiel zwischen der Frau und dem Doktor.

»Na, wie geht's?«

»Ach, schlecht, gnädiger Herr!« Dazu ihre schluchzenden Laute, das verdrießliche Leichenbittergesicht des Mannes, dem die Mahlzeit gestört war. Der Kranke in seiner dunkeln Ecke hatte die schweren Decken weit zurückgeschoben; das Gesicht war blaurot, die Lippen braun und rissig. Der Comtesse dauerte die Untersuchung auffallend lange. Zweimal wurde das Thermometer unter die Achselhöhle geschoben, Loja fühlte dann den Puls, hielt das Ohr dem Kranken auf die Brust und horchte. Gut stand's nicht; das erriet die Comtesse sofort. Auch den Leuten ward's allmählich angst bei der schwülen Stille in dem stillen Raume. Die groben Gesichter blickten gespannter, schärfer, hie und da zuckte eine Backenmuskel – der sichere Vorbote des Weinens – 76 und der Mann legte den Löffel, den er noch immer in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch zurück. Der Hunger war ihm vergangen.

Endlich richtete Loja sich auf. »Ja . . . Ja . . . regt euch nicht auf! Er wird schon durchkommen. Freilich, wenn's nicht so 'n kräftiger Junge wäre . . .«

Darauf lächelten die Eltern doch in ihrem dumpfen Schmerze etwas stolz. Nur die Comtesse durchschaute mit einem Blick auf den mageren, wenig widerstandsfähigen Körper die gutmütige Lüge und verstand sehr richtig, als Loja sagte: »Aber wenn Sie Betten in der Kammer nebenan haben, so ist's doch besser, Sie lassen ihn hier ungestört. Ich will noch eine Weile dableiben – es ist nur zu Ihrer Beruhigung, Frauchen – daß Sie nicht in der Nacht immer aufstehen müssen wegen der Medizin.« Dann schickte er auch Marie weg. »Falls Sie wiederkommen wollen . . . vielleicht in einer Stunde – aber es ist gar nicht nötig.« Leise fügte er hinzu: »Die Herrschaft derangiert die Leute, der Arzt weniger; ich bleibe auch nur, weil Ihnen die Todesangst aus den Augen bricht.«

Als die Comtesse zurückkam aus ihrem nach Sauberkeit und Wohlleben duftenden Boudoir, war der Doktor allein mit dem Kranken. In der Kammer schnarchte der Mann, die Frau hustete. Marie zog einen Schemel leis ans Bett und setzte sich geräuschlos. Zu fragen wagte sie nicht, sie fürchtete das ängstlich lauschende Mutterohr nebenan, mehr noch die Antwort. So sprachen sie gleichgültige Sachen. Dinge, die in den Salon gehörten, nicht in diese Dorfstube. Es war eine Posse, die sie sich vorspielten, und doch eine Posse mit tiefem Kern, wenigstens für Marie. Denn der hier saß, neben 77 dem ächzenden Kind, war nicht mehr der alte Loja, der Mann mit dem undurchdringlichen Auge und der brutalen Energie des Augenblicks – das war der andre, der bessere, den sie im Heimwehkranken nur geahnt. Und als fühle das irre redende Kind diese barmherzige Nähe, schlangen sich jetzt seine braunen Kinderhände angstvoll um Lojas weiße, schlanke Hand. Die Comtesse erkannte dieses Männergesicht kaum wieder. Konnte dieser verschlossene Mund wirklich so gutherzig lächeln, gehörte der warme, milde Schimmer wirklich diesem energischen Auge? Und es war das rein Tierische, der Instinkt bei diesem Kranken, der den suchte, der ihm auch menschlich am nächsten stand. Jetzt begriff sie. Der Mann war unfreiwillig oder nicht wirklich zu diesen Leuten herabgestiegen, hatte mit ihnen gelebt, gehungert, gedürstet; er hatte ihr Leid ermessen und ihre Freude, bis er durch die häßliche Hülle hindurch denselben rein menschlichen Kern erkannt hatte. Er verstand auch diese Leute hier, und obgleich er ein Fremder war, vertraute das arme Volk sich ihm doch lieber an als ihr, die sie immer neben ihm, aber nie mit ihm gelebt hatte. Seltsamer Mensch! Er mochte viel gelebt, viel gesündigt haben, der Sumpf, der Kampf hatten die scharfen Linien des Gesichtes gezogen – und gerade er vermochte sich das rein menschliche Gute herüberzuretten. Ihre Gedanken flogen weiter. Der Schleier des undurchdringlichen Auges war zerrissen. Sie sah plötzlich den dunkeln Punkt, die Katastrophe, die ihn von seinesgleichen schied . . . ein erbitterter Kampf, ein verzweifeltes Ringen, in dem sich wieder die wunderbare Kraft des alten Geschlechtes bewährte, das aus Lastern und Sünden sich doch den rassigen Willen 78 zum Leben und zur That bewahrt hatte. Ihm, dem Versinkenden, hatte vielleicht schon das Wasser am Halse gegurgelt – ihn zu verschlingen vermochte es nicht. Dann schied er sich von allem, was ihm früher heilig und lieb gewesen, freiwillig, doch verbissen, wie's seine Art. Und drüben, in der andern, feindlichen Hemisphäre der Gesellschaft, fand er das rein Menschliche erst auch in seiner eignen Brust. Aber warum er gerade Arzt geworden war? . . . Nein, er war kein guter Arzt, konnte es nie werden, weil ihm die eisige Klarheit der Diagnose immer der edle Schatten des Mitleids trüben würde. Der ungebändigte Trotz, der Haß, das war das Erbteil seines Geschlechts; – das Mitleid, die Liebe waren jüngeren Datums – sie waren von ihm.

Diese Vorstellungen, diese Schlüsse nahmen Maries Geist so gefangen, daß sie den Kranken, den Grund ihres Hierseins fast vergaß. Da wälzte sich das fiebernde Kind unruhig hin und her, die glasigen Augen öffneten sich, schweiften verwundert umher und blieben endlich mit einem stumm flehenden Ausdruck auf der Comtesse haften.

»Ruhig, ruhig, mein Sohn,« besänftigte der Doktor. »Wir meinen's alle gut mit dir.« Dann flößte er ihm Cognac ein, der Knabe nahm ihn bereitwillig, um sich dann, Abscheu in dem gedunsenen Gesicht, zu schütteln.

»Modd'r, Modd'r!« klagte er ängstlich. »Sie soll weggehen . . . ich habe Angst, so Angst . . .«

»Ist's schlimm?« fragte die Comtesse, der die Reden des Fiebernden unheimlich wurden. Wieder wurde das Thermometer unter die Achselhöhle geschoben, wieder die schwüle Pause.

»Il mourra.«

79 Das gute deutsche ›Sterben‹ hätte ihr nicht so furchtbar geklungen als das leise geflüsterte französische »mourra«. Wie lähmend Gift schlich es ihr durch die Adern, daß die Stimme nicht mehr das menschliche Wort fand, sondern nur einen dumpfen, tierischen Laut hervorpressen konnte. Das Blut erstarrte, das Herz that den langen, bleiernen Schlag, aber das Hirn arbeitete in fieberhafter Haft. Jetzt brach die namenlose Angst aus dem brennenden Auge, während die matte Haut leichenhaft ward wie bei Erstarrten. Loja sah an ihr vorüber auf die langsam tickende Wanduhr, die ohne Eile, ohne Erbarmen seelenlos der Todesstunde entgegentickte. Die Comtesse war aufgestanden, ruhig, mit den automatenhaften Bewegungen einer Gelähmten, deren Willen die Glieder nur noch in Pausen folgen; sie breitete die Arme aus, faltete sie dann langsam vor der Stirn.

Loja sah sie verwundert an, das war das Gebaren einer Mondsüchtigen – doch ehe er weiter denken konnte, war sie vor ihm auf die Kniee geglitten. Ein qualvolles, thränenloses Schluchzen schüttelte den jungen Körper: »Gnade, Gnade! . . . Retten Sie ihn, retten Sie ihn . . . und wenn ich dafür sterben soll. Warum kann ich nicht für dieses Kind sterben? warum nicht? . . . O, das habe ich nicht gewollt! . . . Ich habe ihn nicht getötet, nicht wahr? O sagen Sie doch, o sprechen Sie doch!« Jedes Wort, jeder Ton mußte sich losreißen, hastig und doch so qualvoll. Aller Hochmut war mit einem Schlage von ihrer Seele gewichen, nur das schlackenlos Menschliche war geblieben, das Weh des Weibes, das mütterliche Fühlen, das mit jeder Fiber, jedem Nerv sich gegen den Tod an einem Kinderbett 80 aufbäumen möchte, weil auch schon in der Knospe der Mutterinstinkt, der Wille zum Leben für das eigne Kind sich geheimnisvoll regt. »O, Sie können ihn retten,« fuhr sie flehend fort. »Es muß ein Mittel geben, Herr v. Loja, es muß!« Vielleicht durchzitterte das gequälte Hirn in diesem Augenblick der Gedanke an die tolle Fahrt, wo die Energie des Mannes den Tod zurücktrieb, den das Weib schon eisig fühlte. Er wollte aufstehen. »Nein, bleiben Sie sitzen! Ich will mich vor Ihnen erniedrigen, ich will zu Ihren Füßen bitten. Ja, Sie haben recht: ich bin hochmütig, schlecht, aber ich will das nicht mehr sein, gewiß nicht! . . . Sie sollen mich lehren, wie man mit diesen Menschen lebt, wie man sie versteht . . . Retten Sie ihn doch – retten Sie ihn doch!« bat sie weich wie ein Kind. Plötzlich sprang sie auf mit glühenden Augen: »Nein, Tod, ich geb' ihn dir nicht!« und warf sich über den Kranken, der aufgeregter wurde und das Gesicht in die Kissen drückte.

Loja faßte sie um die Taille und zog sie zurück. »Wir wecken die Leute,« mahnte er flüsternd. Und die Hand noch immer um ihre schlanke Taille, fuhr er fort: »Seien Sie mutig, Comtesse Marie! Meinen Sie, ich weiß nicht, daß Sie ein sehr gutes, warmes Herz haben? Sie sind ja die Tochter Ihres Vaters, und das wäre schon allein Beweis genug. Doch jetzt nehmen Sie einmal all Ihren Hochmut zusammen, denken Sie, hier steht der Feind, der nach jeder Blöße späht, jeden Vorteil rücksichtslos ausnutzt! Ich sag's Ihnen noch einmal – vielleicht ist's thöricht – er ist immer Ihr Feind. Denn was Sie am meisten lieben, haßt er am meisten!«

Nur ein dumpfes Stöhnen war die Antwort. 81 Er führte sie fort vom Bett, Schritt für Schritt, bis vor die Thür. »Gehen Sie nach Haus, Comtesse,« sagte er ernst, »ich bleibe selbst nur noch einen Augenblick.«

*

Und sie ging, obgleich sie nicht wollte; es war eben der fremde, starke Wille, gegen den sich ihr ganzes Selbst empörte – und der sie doch mühelos zwang.

Im Flur empfing sie respektvoll der alte Diener. »Der Herr Graf läßt der gnädigen Comtesse gute Nacht wünschen; der Herr Graf waren etwas müde heute!«

Sie winkte ihm nur ein hastiges »Gut, gut!« zu und ging sofort in ihr Boudoir, das sie hinter sich verschloß. Es war finster, und sie mußte sich bis zum Sofa tasten, doch sie wünschte kein Licht – ihrer verdüsterten Seele war gerade die Dunkelheit recht. In einer Ecke hatte sie sich zusammengekauert. Die Zähne klapperten ihr, das Blut jagte durch die pochenden Schläfen. So saß sie lange. Die Stunde verrann. Gedanken, wirre, häßliche, kamen, Phantasien zogen vorüber, düstere, auch lustige im tollen Faschingszug. Sie versuchte eine Idee festzuhalten, und sie entglitt ihr; sie wollte beten und wußte nicht für wen. Dabei lag über dem flutenden Chaos eine erdrückende, tötende Leere. Kein erleichternder Seufzer, keine Thräne! Sie nahm das Taschentuch und preßte es auf die Augen. Aus dem feinen Linnen stieg der Duft des weißen Flieders, den sie so liebte; sie zog den Geruch mit bebenden Nasenflügeln ein in wollüstiger Grausamkeit gegen sich selbst, denn aus diesem Duft, aus diesem Linon-Linnen kroch ja die ganze empörende Verachtung der Aristokratin 82 gegen den Armeleutegeruch, gegen diese Halbmenschen selbst, die im Dunst, im groben »Leutshemd« leben und sterben. Jetzt quälte sie dieser Hauch von Vornehmheit, sie haßte ihn, sie verabscheute ihn, sie wollte ihn wieder haben, den dicken Brodem des Sterbezimmers!

Jetzt versagten ihr die Glieder nicht. Leise schlich sie in den Flur, nahm ein seidenes Kopftuch vom Kleiderständer und schloß die Hausthür auf. Draußen flimmerten die Sterne am tiefblauen Nachthimmel, die Natur schlief, durch die Baumkronen zog es wie der schwere Atemzug eines Träumenden. Im Dorf waren die Lichter erloschen, Totenstille überall, aber vom Teich klang es dazwischen in langgezogenen, beinahe singenden Tönen; in der schwarzen, unheimlichen Teichflut träumten die Frösche vom Sommer. Auf den Fußspitzen schlich sie zu dem Insthause. Die Lampe brannte noch, der Doktor saß am Bett. Er hatte den nackten Körper, der sich im Fieber wand, auf dem Schoß und wickelte ihn in nasse Laken. Als die Comtesse die Thür öffnete, drehte sich Loja ohne Erstaunen um und schob den wie ein glühender Bolzen im eisigen Wasser dampfenden Knaben ins Bett.

»Ich wußte, daß Sie wiederkommen würden, Comtesse! . . . Nehmen Sie lieber meinen Stuhl hier, er ist bequemer als der Schemel. Unser Patient war viel aufgeregter, nachdem Sie weggegangen. Sie waren so gut zu ihm, und das merkte er wohl auch, der arme Schelm!«

Er hatte mit so ungewöhnlicher Herzlichkeit gesprochen, daß Marie ihn dankbar ansah und, dem Impulse des Augenblicks folgend, ihm die Hände entgegenstreckte: »Wollen wir beide vergessen, Herr Doktor v. Loja?«

83 Als Antwort küßte er ihr stumm beide Hände. Sie hatte immer geglaubt, daß er solche Aufmerksamkeiten verachte. Warum beugte er vor ihr, der Feind vor der Feindin, das stolze Knie zum Ritterdienst?

Sie saßen sich gegenüber. Die Wanduhr tickte; der Vater schnarchte in der Kammer, die Mutter atmete in dem vollen Zuge der Gesunden, Müden. Die schlechte Luft fiel der Comtesse nicht mehr auf die Nerven, sie that ihr so wohl, als hätte sie nie eine andre geatmet. Wieder ging die Zeit dahin mit leisem, unaufhaltsamem Schritt. Sie sprachen kein Wort. Nur wenn er Medizin gab, hielt Maries Hand den glühenden Kinderkopf; wenn sie die eiskalten Laken wechselten, half sie mit der geschickten Hand einer barmherzigen Schwester.

Das Fieber schien ausgetobt zu haben. Der Kranke hatte sich lang ausgestreckt und lag ruhig, aus den roten Wangen wich das Blut, das Gesicht bekam einen stumpfen, bleifarbenen Glanz; die kindlichen Züge wurden seltsam ernst. Es konnte die Besserung sein, die überwundene Höhe der Fieberkrise. Schon wollte ein schüchterner Freudenstrahl aus Mariens Augen brechen – aber der Doktor beugte sich so merkwürdig starr auf das Kind und horchte gespannt an den schlaff gewordenen Lippen nach dem leisen, kaum hörbaren Hauche des Lebens. Er sah mit einem halben Blicke zur Comtesse hinüber. Dabei zuckte sie zusammen, sie verstand: es war das Ende.

Und wieder schlug der Comtesse Herz den letzten bleiernen Schlag. Sie hatte sich vor dem Bette auf die Kniee geworfen, und während sie die kleine, kalte, klebrige Kinderhand mit den abgestoßenen Nägeln, die Schauer des Todes in der eignen Brust, 84 küßte, flehte sie inbrünstig um das rettende Wunder. Zuletzt war's kein Flehen mehr, das war das verbissene, leidenschaftliche Hadern mit dem Göttlichen, in dem die Jugend das Wunder heischt und verzweifelnd mit dem Abfall, dem Unglauben droht, wenn die Vorsehung der trotzigen Bitte taub bleibt.

Doch das Wunder kam nicht! Ein eisiges, erstarrendes Etwas ging durch das Zimmer, der Fittichschlag des Gewaltigen, der mit den zitternden Schatten der Dämmerung in den niederen Raum geglitten war und mit dem ersten Sonnenstrahl, der auf den trüben Schiebfenstern blinkte, sich zum erlösenden Kuß auf den sterbenden Knaben niederbeugte. Ein leises Röcheln, ein schwerer, tiefer, befreiender Atemzug, der die Seele mitnahm. Lojas Hand schob das herabfallende Kinn herauf, glitt über die Augen – dann stand er auf und sagte langsam: »Il est mort.«

Doch die Comtesse rührte sich nicht. Nur ein schmerzlösender Thränenstrom floß aus den schönen, dunkeln Augen, der Kopf war ihr aufs Bett gesunken in tiefem Weh. Da fühlte sie eine weiche, schmale Männerhand, die ihr liebkosend über das Haar strich, und fühlte auch, daß in dem leisen Beben dieser Hand nicht allein das schöne menschliche Mitleid nachzitterte, sondern noch ein ganz andres Empfinden sich mischte, das sie hätte empören sollen, weil es nicht dem Toten hier, sondern ihr, dem Weibe, galt. Und auch ihr zog ein gleiches sündiges Gefühl mitten im Weh durchs zuckende Herz, ein Gefühl so häßlich und doch so köstlich zugleich, daß sie hätte aufspringen können, nur um diese gehaßte Hand glückselig zu küssen. 85

 


 


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