Johannes Richard zur Megede
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Johannes Richard zur Megede

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Siebentes Kapitel.

Als die Comtesse am andern Morgen erwachte, einem eisigen, lichtsprühenden Feiertagsmorgen, war es ihr so leicht, so froh ums Herz. Sie stand sehr früh auf, nach alter Kindergewohnheit, und schlüpfte im Morgenrock, der sonst in Lorschen verpönt war, hinab in ihr Boudoir, um den Weihnachtstisch zu besehen. Und in dem von den Dienstboten noch unbetretenen Raum, der sich von der Weihnachtswärme und dem Weihnachtsduft, jener wunderbaren, aus Tannen- und Wachsgeruch gemischten Atmosphäre, ohne die für uns Deutsche das Fest nun einmal nicht denkbar ist, noch viel erhalten hatte, empfand sie eine übersprudelnde, geradezu kindische Freudigkeit. Sie probierte schnell noch einmal, ein rechtes Kind, vor dem Spiegel das Pelzjackett an, das sich gar weich um ihre jugendschlanke Hüfte schmiegte, labte sich ordentlich an dem starken Lederduft des unter ihrer tastenden Hand knirschenden Sattelzeuges und schlug mit dem Knopf der Reitpeitsche an den blitzenden Steigbügel, daß es hell und festlich klang.

Auch der Vater freute sich heute ihrer frischen, frohen Art, die ihren hellen Schimmer auf das ganze Haus warf. »Gott sei Dank, daß du noch so jung geblieben bist, mein Kind! Sieh, das kommt von 169 dem gesunden, einfachen Leben hier auf dem Lande. Wenn ich mir so die Mädels in der Stadt ansehe, blasiert, affig – oder noch etwas Schlimmeres!« Auch die Tante sah es ihr heute gern nach, daß sie nach Tisch in überströmendem Dankesgefühl dem Vater um den Hals fiel.

»Ich bin so glücklich, Papa, so glücklich!«

»Hast auch allen Grund dazu,« antwortete er, ihr liebevoll das dunkle Haar streichelnd. »Und zu Nachmittag möchtest du die Füchse? . . . Tante und ich werden uns für heute abend durch einen kleinen Nachmittagsnicker stärken. Doerstedts kommen wahrscheinlich. Thu nicht, als wenn du auch bleiben möchtest, kleine Eitelkeit! Der neue Pelz muß doch auf der Chaussee Parade gefahren werden. Das ist nun einmal nicht anders bei euch Mädels.«

Um drei Uhr kam der Viererzug vor, ohne Glocken, denn sie beabsichtigte, den Bräutigam zu überraschen und mitzunehmen. Der alte Kutscher zog ehrfurchtsvoll seine riesige Pelzmütze. Die Comtesse stieg in den mit grünem Plüsch ausgeschlagenen russischen Schlitten und wickelte sich in die Bärendecke. Die Orloffs griffen wacker aus. Der Schnee stiebte wie feiner Staub, und die Krähen krächzten überlaut durch die klare Winterluft. »Nach rechts oder links?« fragte, die Hand an der Mütze, der alte Kutscher, als sie zur Chaussee kamen.

»Rechts bis Schwolmen. Dann werde ich schon weiter sagen.« Es kam ihr plötzlich in den Sinn, wie wohlthuend es sein müsse, bei dem Doktor mit gebührender Nichtachtung vorüberzufahren. Die Chaussee war belebt, Bauernschlitten jagten vorüber; die Frauen und Mädchen im Staatskleide, mit bunten Kopftüchern, eingemummt bis an die Augen, die 170 Männer mit blauroten, stieren Gesichtern, und nur unsicher hob sich die grüßende Hand nach dem vom Fusel wackelig gewordenen Kopfe. Auch Orschauer kamen, wohlhabende Bürger, die der herrliche Wintertag hinausgelockt hatte. Welches Vergnügen, in diesen vorweltlichen, mit ganzen Familien vollgepackten Gefährten so meilenweit zu fahren! Ein kleines Mädchen hatte weiter nichts zu thun, als höchst ernst auf seinen neuen Kaninchenmuff hinabzustarren, während der Bruder neben ihr seiner Weihnachtstrompete die seltsamsten Töne entlockte. Die alten Mietsklepper wurden nicht scheu. Mit ihrem müden Trab und ihren herabhängenden Köpfen boten sie einen traurigen Gegensatz zu den festlich-frohen Gesichtern der Menschen.

Die Comtesse wurde viel gegrüßt. Es war ihr selbstverständlich. Sie hatte ein starkes Gefühl ihrer Stellung, und nie war es ihr in den Sinn gekommen, daß sie jemals anders als mit vieren fahren könnte. Flüchtig gingen die Füchse dahin in gleichmäßigem, mächtig förderndem Trabe. Nach wenigen Minuten senkte sich der Weg zu dem Thalkessel, wo Schwolmen und seine armseligen Hütten lagen.

Die alte Koehler stand mit einer andern Frau vor der Doktorswohnung im Schnee. Die Comtesse ließ halten. »Um Eure Weihnachtsschüssel sollt Ihr nicht kommen, Koehlersche. Der Milchfahrer wird sie Euch bringen. Seid wohl den heiligen Abend bei Eurer Tochter in Dennhöfen gewesen?«

Die alte Frau trat mit einem tiefen Knicks an den Schlitten und küßte der Comtesse die Hand. »Ich dank' auch sehr schön der gnädigen Herrschaft . . .« Dann fuhr sie mit einer von Neuigkeiten ordentlich 171 geladenen Stimme fort: »Ich gestern nach Dennhöfen? Du lieber Gott! Wo konnt' ich! . . . Wissen die gnädige Comtesse, wer gestern hier war? Der gnädige Herr aus Sassen . . . . hier in Schwolmen . . . bei dem gnädigen Herrn Baron. Nei, so was ist noch nich dagewesen! Im ganzen Dorfe hat kein Mensch die Nacht die Augen zugemacht. Um sieben Uhr sind schon der gnädige Herr gekommen. Der Herr Baron hatte sich 'ne Ente braten lassen. Ich denke, es ist für den Herrn allein. Da fährt der gnädige Herr aus Sassen vor. Mir zittern noch die Kniee. ›Unter Wind fahren, Johann! . . . Und Sie, alte Dame, ist neben Eurer Kuh noch Platz für die beiden Schinder? Sonst müßt Ihr mir 'ne Tenne freimachen, aber etwas plötzlich!‹ Ich konnt' nicht aus der Stell'. Da kommt der Herr Baron 'raus, so ganz ruhig, als wenn das gar nichts wäre. ›Nett von Ihnen, daß Sie Wort halten, Herr v. Natzfeld‹ . . . Wollen die gnädige Comtesse nicht aussteigen und selber sehen? Dort auf dem Kanapee links hat der gnädige Herr gesessen! . . . Und freundlich war er, so gemein und niederträchtig, der gnädige Herr, der unsereinen nie wiedergrüßt, beinahe ebenso leutselig wie der Baron, der oft fragt: ›Wie geht's Ihnen, Frau Koehler?‹ und den man deswegen gar nicht als was Vornehmes ästimiert. Einen Thaler Trinkgeld hab' ich bekommen. Und mit heißem Wasser war's gar nicht zu geraten! Sie hatten so 'ne große Strohflasche mit ganz was Gutem. Vom Herrn Baron weiß ich, daß er einen ›Ordentlichen‹ vertragen kann, aber auch der gnädige Herr . . . Und ausgelassen sind sie gewesen, wie man's gar nicht für möglich gehalten hätte! . . . Dann haben sie in so 'ner fremden Sprache gesprochen, wie bei die 172 Russen und die Franzosen. Der gnädige Herr hat auf unsern Baron man so eingeredet, bis der ganz damelig geworden ist und ja sagte. Denn das viele Reden verträgt er nicht, das weiß ich, wenn ich nur anfange . . . So gegen zwei haben sie zu singen angefangen. Denken Sie, der gnädige Herr zu allererst! . . . so wilde Lieder. Der Johann, der früher in Königsberg war, meint, die Herren Pfarrers und die Kantors sängen so, wenn sie auf der hochen Schule wären . . . und so laut, daß der alte Unkas, das struppige Vieh, wie närr'sch zu heulen angefangen hat. Da ist der Herr Baron zu mir in die Küche gekommen und fragt: ›Ist noch von der Leberwurst da?‹ –.Jawohl, von der guten.‹ Und wie ich nachher wieder 'reinkomm', nach dem Rechten zu sehen, da ist nichts mehr auf dem Teller, und der Herr Baron sagt, das wäre Unkas' sein Weihnachten gewesen. Der gnädige Herr hatte Thränen in den Augen vor Lachen und schreit: ›Bei Ihnen möchte man Hund sein, Loja!‹ Nei, wie der sich überhaupt mit das Vieh hat, unser Baron! Ich hab' den ollen Köter auch dafür schon ordentlich gehauen heute. Merken darf's der Herr Baron nicht, sonst schlägt er mich halbtot. Denn mit dem möcht' ich im bösen noch weniger etwas zu thun haben als mit dem gnädigen Herrn aus Sassen. Und vor dem verkriechen sich doch schon die Kinder auf zehn Meilen!«

Die Comtesse hatte ruhig zugehört. Aber mit jedem Worte des alten Weibes verfinsterte sich ihr Gesicht mehr. »Daß Ihr den Hund so ungerecht geschlagen habt, finde ich sehr häßlich von Euch, Koehlersche. Ich möchte Euch am liebsten die Weihnachtsschüssel nicht geben . . . Wo ist der Herr Doktor heute?«

173 »In Sassen,« erwiderte die alte Frau kleinlaut. »Heute, wo ich aus der Kirche kam, war auch schon der Schlitten da, der hellblaue Staatsschlitten, und auch der Diener mit. So hab' ich damals den gnädigen Herrn vorbeifahren sehen, voriges Jahr, als die gnädige Comtesse brautete.«

»Ueber die Brücke und dann den Weg links in den Wald nach Dennhöfen,« befahl die Comtesse kurz. Noch ein hochmütiges Kopfnicken; der Viererzug trabte weiter.

Die alte Koehler blieb noch eine Weile kopfschüttelnd auf der Chaussee stehen. »Ja, ja, die vornehme Herrschaft, da weiß man nie, wie man mit sie dran ist.«

Die Comtesse versank in tiefes Nachdenken. Also Hasso hatte ihnen allen doch den Fehdehandschuh hingeworfen, frech, cynisch, wie es seine Art. ›Nun wohl, ich hebe ihn auf!‹ Und dennoch zögerte sie bei dem Gedanken. War diese Sache denn auch des Kampfes wert, die ihr bewährtester Kämpe in dem Augenblick verließ, als ein machtloser Fremder Bresche in sie zu legen suchte? Sie hatte den Vetter nie geliebt, nicht einmal gern gehabt. Denn wo seit ihrer frühesten Jugend diese kalte, spottsüchtige Natur mit ihrer warmen, begeisterungsfrohen zusammengekommen war, hatten sie ineinander gezischt wie zwei feindliche Elemente – Feuer und Wasser. Aber ihre Achtung hatte er gehabt, ihre Bewunderung zuweilen. Denn was sie nur mit dem Herzen aus der Tradition des Blutes herausfühlte, hatte er stets meisterhaft mit dem Verstand zu begründen gewußt. Jetzt verschwand diese starrste Verkörperung des aristokratischen Kastengeistes – wo blieb dann die Sache selbst?

174 So saß sie, den Blick nach innen gewendet. Ohne daß sie es merkte, hatten sie die Brücke passiert, waren auf den schlägigen, tief ausgefahrenen Geleisen des Landweges an den letzten, strohgedeckten Bauernhütten auf dieser Seite vorübergetrabt, wo die Schwolmer Jugend eben unter wilden Gejohle eine Schneeballenschlacht schlug. Jetzt kam noch die Mühle aus roten Backsteinen, das Wehr mit seinen blaublitzenden Eiszapfen. Eine kümmernde Kiefernschonung schloß sich daran mit einigen geordneten Feldstücken auf der einen und ein paar zerstreuten, knorrigen Baumriesen auf der andern Seite – der arg verwüstete Dorfwald. Ein uralter, moosiger Grenzstein. Hoher, dunkler Fichtenwald nahm sie auf. Es war Lorscher Gebiet. Die Comtesse erwachte. Düstere Einsamkeit schufen die mächtigen Stämme dem wenig befahrenen Wege, der Franzosenweg genannt, weil durch ihn ein Corps des Napoleonischen Heeres sich zur Heilsberger Schlacht entwickelt hatte, um ihn erst wieder auf der großen Retirade zu betreten, ein vertierter, hohläugiger Haufen markloser Hungergestalten, ihre treueste Nachhut der Wolf, der aus den Schneefeldern Rußlands den flüchtenden Heerestrümmern gefolgt war – ihr Quartierwirt der ausfouragierte, von einem dumpfen Fremdenhaß erfüllte Bauer. Noch zeigte man graue Gedenksteine, düstere Zeugen bestialischer Rache, die der Schwolmer Bauer oder der Lorscher Knecht an dem unglücklichen Nachzügler genommen. Ein leichtes Grauen überlief die Comtesse immer auf diesem Wege, dessen geheimnisvolle Stille nur das Schnauben der Pferde unterbrach. An den bemoosten, weitstehenden Stämmen mochte noch der lungernde Wolf sein struppiges Fell gerieben haben. Jetzt stand ganz vertraut ein Sprung 175 Rehe, hundert Schritt entfernt, und hob kaum das Geäse, während der starke Bock mit klugen, klaren Augen Wache hielt. Da knallte der Kutscher leicht mit der Peitsche, und die Orloffs legten sich zum scharfen Trabe aus. Der Rehbock schreckte, in langen Sätzen mit wippendem Spiegel entschwand die braunröckige Schar zwischen den Fichten.

Der Weg wurde lichter, weitgedehntes Schneefeld schimmerte durch; dahinter, noch fern, auf waldigem Hügel ein Schloß, dessen Fenster im Sonnengolde purpurn flammten. Es war Dennhöfen.

Ursprünglich gehörte es einem Natzfeld, einem Vetter der Gräfin Wilnein. Aber ein halbes Jahr vor der Geburt der Comtesse war der noch junge, lebenslustige Mann urplötzlich verschwunden. Ermordet, ertrunken, entflohen, wer konnte das sagen? Dieser spurlos Verschwundene war das grauenvolle Rätsel der Gegend. Schon streckte der Vormund des jungen Hasso, als des nächsten Erbberechtigten, die Hand nach dem schönen Besitze für sein Mündel aus. Da wurde ein Testament gefunden und der Graf Wilnein zur Verwunderung aller mit dem Sequester betraut, der seinerseits den alten Kauffmann nach Dennhöfen setzte und, die notwendigsten Inspektionen ausgeschlossen, das Gut nicht betrat. Doch je weniger Dennhöfen den Grafen interessierte, um so mehr die Comtesse. Für sie hatte es einen starken, fast magischen Reiz. Das noch von Natzfeld erbaute Schloß verfiel innen und außen, dank einer merkwürdigen Sparsamkeit ihres Vaters, der sich zu keiner Reparatur bewegen ließ, niemand den Eintritt gestattete, auch der Tochter nicht. ›Er könnte wiederkommen!‹ Und so erhöhte sich schon für das Kind der Zauber des rätselhaften Falles. Auf ihren 176 weiten Spazierritten zog es sie wie mit unsichtbaren Armen nach Dennhöfen, sobald sie den weithin sichtbaren Wetterhahn des Schloßturmes erblickte. Mit dem Frösteln eines wundervollen Grauens durchritt sie den vernachlässigten Park, stieg vor der alten Familiengruft ab und klemmte die Finger zwischen die rostige Eisenthür des in düstere Fichtendickung eingeschlossenen Mausoleums. Da schien ihr die kalte Hand des Todes nach ihrem lebenswarmen Körper sich auszustrecken. Rasch war sie wieder im Sattel und galoppierte davon, nicht ohne einen neugierig-ängstlichen Blick auf die verhangenen Fenster des Schlosses zu werfen.

Das Schicksal des Gutes interessierte sie weniger. Darum war sie erstaunt, als man sie an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag vor Gericht citierte, um ihr feierlich zu eröffnen, daß auf Grund eines alten Erbvertrags und eines Testamentes des für verschollen erklärten Majoratsherrn und Fideikommißbesitzers Hans Georg Leberecht v. Natzfeld das adlige Gut Dennhöfen im Falle des kinderlosen Ablebens des &c. v. Natzfeld als freies Eigentum in die Hand der Gräfin Anna v. Wilnein, geborenen v. Natzfeld, überginge, und nach dem Tode derselben in die Hand ihrer einzigen Tochter, der unverehelichten Gräfin Marie v. Wilnein.

Für die Comtesse, die nur das Wohlleben kannte, bedeutete dieser Besitz wenig mehr, als wenn man einem verwöhnten Kinde eine neue Puppe schenkt. Der Graf meinte kühl, beinahe feindlich: »Du hättest dir das wohl denken können. Gratulieren kann ich dir nicht. Es ist Natzfeldsches Fideikommiß. An Lorschen hättest du über und über genug gehabt. Glaubst du vielleicht, daß die hundert Hufen mehr 177 dich glücklicher machen werden?« Damals erwiderte sie überzeugt: »Gewiß nicht, Papa. Ich hab' mir's auch gar nicht gewünscht.«

Aber heute, wo sie durch Hassos Fahnenflucht eine so empfindliche Niederlage erlitten, empfand sie zum erstenmal den wohligen Machtkitzel dieses Besitzes. Freilich, Lorschen galt als das bessere Gut, dafür war Dennhöfen größer. Auch so war sie eine Macht, keine kleine Macht, mit der zu wuchern sie sich gelobte, weder Loja noch Natzfeld zum Heile. Schon war sie entschlossen, zum alten Kauffmann heranzufahren, als eine schmale Schlittenspur, die aufs Feld abbog. ihren kriegerischen Geist erregte.

»Wer erlaubt sich, über meine Felder zu fahren?«

Der Kutscher zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich so 'n ermländischer Bauer, der nach der Landstraße drüben abschneiden wollte.«

»Fahren Sie nach! Vielleicht bekommen wir ihn noch. Lassen Sie die Orloffs mal ordentlich austraben!«

Und kaum bekamen die edlen Tiere den Kopf frei, als sie so flüchtig den neuen Weg aufnahmen, daß die stille, eisige Luft der Comtesse jetzt wie Sturmwind um die Ohren pfiff.

»Der dort kann's gewesen sein,« meinte der Kutscher, auf einen schwarzen Punkt in der Ferne zeigend, »aber das ist wohl Herrschaftsfuhrwerk.«

»Schneller!« befahl die Comtesse.

Der Kutscher, der die Füße gegen den Schlittenboden stemmen mußte, um nicht von den warmgewordenen Tieren herabgezogen zu werden, preßte durch die zusammengebissenen Zähne: »Dann gehen sie mir durch, gnädige Comtesse. Ich kann sie so kaum noch halten.«

»Sie werden alt.« Indigniert legte sich die 178 Comtesse im Schlitten zurück. In dem Eifer der Verfolgung hatte sie kaum gemerkt, daß sie längst die Dennhöfer Feldmark hinter sich hatten und auf breiter Landstraße dahinjagten.

Die wellige, wenig bewaldete Gegend hatte ein andres Gesicht. Es war das katholische Ermland, das hier als schmale Zunge sich in den protestantischen Großgrundbesitz hineinschiebt. »Das Land der Heiligenbilder und des Leinöls,« nannte es pietätlos Vetter Hasso. Die feinfühlige Comtesse hatte es von je frappiert, wie völlig der Katholizismus Land und Leute jenseits des letzten Dennhöfer Grenzsteins umgemodelt hatte. Wenn sie die schöne Anna oder der Vetter geärgert hatten, ritt sie gern hinaus in diese fremde Welt, die sie eigentümlich anmutete – auch heute. Fast hinter jeder Bodenwelle lugte ein Ordenskirchlein hervor. Zerstreut lagen die Gehöfte inmitten ihrer Feldmark. Lustig wirbelte der Rauch in den klaren Winterhimmel empor. Und wo sich Dörfer zusammengeballt hatten um das alte Gotteshaus herum, da lebte auf eignem Grunde ein steifnackiger Bauernschlag, nicht wohlhabend, aber zäh im Besitz – den die milde Herrschaft des fürstbischöflichen Krummstabes vor den kleinen Feudalherren bewahrt hatte, die begehrlich die Tatze nach ihm ausstreckten. Heiligenbilder, auf roh aufgemauertem Postamente hinter Fensterglas die Muttergottes oder auf verwitterter Stange ein morscher Holzheiland, standen an der Landstraße. Und die Comtesse, die manchmal ein altes Weib oder einen jungen Burschen im Staube knieend inbrünstig beten gesehen hatte und dabei protestantische Abneigung gegen diese Bilderverehrung empfand, fragte sich, ob daher allein dieser eigentümliche, starre Ausdruck der Männergesichter 179 und der nach innen gekehrte, mattgleißende Blick der Weiber käme. Wie alle gläubigen Frauen hatte sie trotzdem zuweilen eine starke Hinneigung zu dieser Religion, die auch den Sinnen genug thut. Ein leichter Schauder gesellte sich dazu, der in dem brütenden Ernst dieser Menschen etwas Unwahres, rein Aeußerliches witterte. Darum war sie auch jedesmal herzlich froh, wenn sie den schmalen Landstreifen durchritten hatte und ihr vertrautes Gebiet begann, das des feudalen Besitzes.

Wieder begann der Wald, freilich nicht so alter Hochwald wie der ängstlich gepflegte Lorscher – kaum fünfzigjähriges Stangenholz. Er gehörte zum Doerstedtschen Gute. Dahinter lag das Sassen Hassos. Aber sie war dem Wald von Herzen dankbar, der ihrem Blick die weiten Roßgärten und das in einer Bodensenke gelegene Herrenhaus dieses größten Remontenzüchters Natangens entzog. Auch das Doerstedtsche Wohnhaus sah sie nur einen flüchtigen Augenblick, als die Füchse über eine Lichtung trabten. Die Comtesse hätte die schöne Anna zu heut abend abholen können, aber sie mochte sich von jener schmalen Schlittenspur nicht trennen, die hier wieder ganz deutlich sichtbar war. Gerade und wie zielbewußt zog sie sich durchs Holz, ohne nach Sassen oder zu Doerstedts abzuirren, auf das Gellmannsche Gut Soraunen zu, das hier in den breiten Kranz altadligen Besitzes wie ein schlechter Kiesel zwischen wertvollem Gestein eingesprengt war. Noch jedesmal, sobald sie hier vorübergekommen war, hatte sie das geärgert. Warum hatten es nicht Hasso oder Doerstedts erworben, denen es doch so bequem gelegen war, als der Vorbesitzer darauf zu Grunde gegangen? Aber der nüchtern rechnende Vetter lachte damals über ihren 180 Vorschlag. »Um mich zu arrondieren? – Danke. Im Grunde der unverfälschte gelbe Sand, auf der Höhe strenger, blauer Lehm – ich bin weder genug Schriftsteller noch Ziegelbrenner, um mich daran aufzuregen. Ein Dummer wird sich schon finden!«

Und der fand sich denn auch bald in der Person Gellmanns, den seine Kassierung später aus der Reihe der »Menschen« strich. Drei Jahre saß er schon da. Kein schlechterer Landwirt als die umwohnenden Edelleute, hatte er dem armseligen Boden entrungen, was ihm zu entringen war. Sonst wußte man wenig von ihm. Nach seiner Verheiratung wich die eisige Verachtung einem gewissen Interesse für den Gatten einer so hübschen Frau. Vielleicht war es derselbe neidische Zug, der im geheimen das Ziel der Comtesse heute bestimmte.

Der Weg senkte sich jäh. Zwischen krüppeliger Kiefernschonung ging es zu Thal. Prustend klommen die Pferde an der andern Seite wieder empor. Auf der Höhe ein paar lehmbeworfene Insthäuser, ein vernachlässigter Gutsgarten. Mitten über den Sorauner Gutshof an den roten Wirtschaftsgebäuden vorbei führte die Straße. Die Comtesse wandte den Kopf ein wenig nach dem kleinen Wohnhause, fest entschlossen, wenn sie die junge Frau sehen würde, nicht zu grüßen.

Aber was war das? Seit wann träumte sie denn am hellen Tage? Ein eleganter Schlitten mit zwei großen Schimmeln davor – Hassos Schlitten – hielt vor dem Hause. Der Vetter und Loja stiegen eben die Vortreppe hinauf. Oben stand Martha Gellmann und empfing.

Der alte Kutscher war nicht wenig erstaunt, als ihn plötzlich die Comtesse anherrschte: »Wenn Sie 181 noch einmal in so bummligem Trabe über einen Bauernhof fahren, werden Ihnen die Pferde genommen, und der zweite Kutscher bekommt die Orloffs.«

*

Es war Nacht, als Comtesse Marie von ihrer Paradefahrt zurückkehrte.

»Warum so spät, Kind?« fragte im Hausflur der Graf. »Ich war schon ängstlich. Doerstedts sind lange da, auch der alte Kauffmann.«

Sie erwiderte nichts und ging in den Salon. Frau v. Doerstedt lächelte ihr falschestes Lächeln: »Wie frisch du aussiehst, Marie, ordentlich Farbe! Was doch so glücklicher Brautstand verändert – fabelhaft, fabelhaft!«

»Fabelhaft, fabelhaft, Gräfin!« echote gedankenlos der Sohn.

Die Tante aber, der der Comtesse verstörtes Aussehen durchaus nicht gefiel, fragte leise: »Ist dir etwas passiert? . . . Ja, dir ist etwas passiert!«

Sie schüttelte unwillig den Kopf und engagierte sich sofort mit nervöser Lebhaftigkeit bei einem gleichgültigen Gespräche. »Kaiserhalle . . . Maskenball . . . Ich gehe auf alle Fälle hin.« Aber während sie sehr interessiert den Ausführungen der schönen Anna über ein Fischerinkostüm zu lauschen schien, zuckte sie auf einmal zusammen und sagte ganz unmotiviert: »Wenn Ihnen jemand sagen würde, Hasso v. Natzfeld ist unter die Sozialdemokraten gegangen, was würden Sie ihm antworten?«

»Daß er gelogen hat!« rief der Dandy.

»Und wenn ich Ihnen das selbst sage, Herr v. Doerstedt?«

Er besann sich. »Daß selbst eine Gräfin Wilnein 182 sich irren kann. Ich weiß wohl, worauf Sie anspielen, Gräfin. Natzfeld ist die ganze Nacht bei dem widerlichen Burschen in der Instkate gewesen. Die Spatzen pfeifen's von den Dächern. Famoser Witz! Will die Gegend Kopf stehen sehen, der gute Sasser!« Dann begann er überlegen zu lächeln. »Wer seine Seife von Houbigand aus Paris bezieht, das Stück zu sechs Mark, kann doch nicht so ohne weiteres zu den Radikalen gerechnet werden. Alter, tüchtiger Sozialist der!«

Die Comtesse ärgerte sich. »Und heut abend ist er bei Frau Gellmann, das ist noch netter. Die Gegend kommt wahrscheinlich nie wieder auf die Beine.«

»Ah!« Der Dandy behielt den Mund offen und machte ein sehr einfältiges Gesicht. »In Soraunen? Der Mann ist ja nicht zu Hause, das heißt, ich nehme an . . .« verbesserte er sich, als er einem forschenden Blicke der Comtesse begegnete. »Der Kerl! . . . Persönliche Schikane gegen mich, bin überzeugt.«

»Gegen Sie, Herr v. Doerstedt?« fragte die Comtesse mit ironischem Nachdruck. Die Gerüchte von einer Liebelei waren also doch wahr!

Der Dandy schwieg darauf beharrlich, um sich nicht ganz zu verraten. Den ganzen Abend blieb er mißgestimmt, in der Verstellung ein Stümper gegen Mutter und Schwester. 183

 


 


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