Johannes Richard zur Megede
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Johannes Richard zur Megede

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Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Jahrmarkt. Der Lorscher Hof schien ausgestorben; nur der Viehfütterer, ein paar Knechte trieben sich mißmutig an den Ställen herum. Heute, wo jedermann das uralte Recht hatte, sich in der Stadt zu betrinken, und wenigstens die Chaussee breit genug schien – an solchem Tag zu Hause bleiben zu müssen, war auch hart.

Der Graf und die Comtesse gingen durch den Park. Er nur mit großer Mühe; er litt an Gicht. Von den uralten Linden sank das welke Laub schwerfällig, schwermütig, getragen von der unbewegten schwülen Luft, die mit ihrem Dunst die fahle Herbstsonne Lügen zu strafen schien. Der Alte schüttelte den Kopf: »Trau' dem Frieden nicht. Wär's Juni, ich würde Hagelschlag prophezeien. Freilich jetzt, wo nur noch der zweite Schnitt Klee draußen ist, was soll uns das groß schaden? . . . Das heißt . . .« Und er wies auf das rote Dach des Schafstalles, das sich über die Baumkronen empordrängte. »Vor dreißig Jahren stand da eine Fachwerkscheune, und die blies mir im August eine Windhose zusammen wie ein Kartenhaus. Ein Gespann, das gerade auf der Diele stand, wurde durch ein Wunder gerettet, nur die Vollblutmerinoböcke kamen um, die ich da in einem Verschlage hatte – 121 warum willst du eigentlich an einem solchen Tage partout ausreiten? . . . Weil Loja vielleicht zur Abschiedsvisite kommt? Du kannst ja auf deinem Zimmer bleiben! Aber mit diesem Todfeinde nicht einmal unter einem Dache! Gethan hat er dir jedoch positiv nichts, dir nicht und niemand . . . Ja, ihr Frauenzimmer! . . . Und gerade ihr beide habt eine hervorstechende gemeinsame Art. Dein Bestes ist's, Mieze: ihr geht jedem Gegner furchtlos an die Klinge.«

Sie schlug als Antwort einen scharfen Lufthieb mit der Reitgerte. Der Graf sah sie prüfend an; wie sehr hatte sich das Mädchen doch in der letzten Zeit verändert: so mager, so geschmeidig, eine Taille zum Zerbrechen – und so einen herben Zug um den Mund! Der Zug verschloß herrisch ein Gefühl, das sie ihm verbergen wollte . . . mußte. Vielleicht that der Mangel an Vertrauen dem alten Edelmann weh, doch er liebte den Zwang der Geister nicht und schwieg.

Da erschien im Allee-Eingang das zierliche Damenpferd, und ein Stallbursche machte seine linkische Verbeugung.

»Läßt du deinen alten Vater wirklich allein? Friedrich ist in der Stadt. Und ich bin unbehilflich wie ein Kind,« spöttelte der Graf, und kleine Fältchen spielten um seine stahlgrauen Augen, halb ironisch, halb wehmütig.

Darauf lachte sie kurz auf. »Ach, red doch nicht, Papa!« Doch beim Abreiten grüßte sie nur ganz flüchtig zurück.

Ihn ärgerte das, und er machte kurz Kehrt. »Ich verstehe das Mädel nicht mehr! Sie hat jetzt so etwas Gezwungenes, auch beim Reiten. Und wo 122 ist das schöne Organ geblieben, das ich immer so gern hatte? Sie spricht wie eine Fremde, wie ein seelenloser Automat.« Als er aber auf der harten Kiesschüttung nach der Chaussee zu den Huf des Fuchses klappen hörte, wandte er sich doch verstohlen um und freute sich, daß sie so sicher ritt und so graziös im Sattel saß. »Ich bin ein alter Egoist,« moralisterte er, »natürlich denkt sie Tag und Nacht an ihren Arthur! Sie sollen auch so bald als möglich heiraten . . . Ja, wenn so ein Mann ahnte, wie entsetzlich viel von seinem Selbst man ihm in seinem einzigen Kinde giebt.«

Nein, an den Bräutigam dachte Comtesse Marie nicht, indem sie das Pferd zu immer schärferem Trabe antrieb. Sie floh vor »ihm«, wie man seinem Schicksal entflieht. Arme Thörin! Sie trug ihn ja im Herzen, den gehaßten Mann, und allem entflieht man, nur sich selbst nicht. Dennoch strebte sie in einer Art dumpfer Verzweiflung vorwärts. Einsamkeit – Vergessen! Und endlich war sie im Walde, in dem hohen, schweigenden Fichtenwalde jenseits der Chaussee. Hier war sie vor seiner furchtbaren Nähe sicher, ganz sicher. Unten rauschte der Fluß; sie eilte, ihn zu erreichen. An unwegsamem Abhange klomm der Fuchs hinab, scheute vor dem gurgelnden, blinkenden Wasser, das die Herrin hier durchreiten wollte, während die Brücke keine tausend Schritte weiter lag. Aber mit Peitsche und Sporn zwang sie den widerwillig Schnaubenden vorwärts, so daß die Vorhand im Sprung ins Wasser klatschte und weiße Tropfen wie darauf genähte Perlen das schwarze Reitkleid netzten.

Sie war drüben. Und jetzt ward sie ruhiger – als wenn das kleine Rinnsal die unüberschreitbare 123 Grenze wäre zwischen ihr und »ihm«. Ein Birschweg zog sich hier in geheimnisvollen Schlangenlinien durch den Hochwald. Unter den moosigen Stämmen brütete die dumpfe Stille eines schwülen Sommernachmittags. Und doch waren die riesigen Farnen schon verwelkt, das schilfige Waldgras braun, geknickt. Sie sah nichts, sie empfand nicht die Gewitterstimmung, welche die letzten Vogellaute verstummen machte und von den anmutigen Stimmen des Waldes nichts übrig ließ als den melancholisch in der Tiefe rauschenden Fluß, das verschlafene Insektengezirp auf dem Boden und das aufdringliche Summen der Mücken. Aber es lag in dieser harzduftenden Stille etwas Drohendes, Dämonisches, als wenn sich bereits die Wettergeister zu einem wüsten Hexensabbat ordneten, der jeden Augenblick losbrechen mußte. Der Fuchs war unruhig, obgleich er nur mühsam auf dem glatten Grunde vorwärts stolperte und das Sommerhaar klebrig an Hals und Hinterhand zusammenbackte. Die Bremsen lagen heute wie festgesogen auf seinem glänzenden Fell, und er wehrte sich verzweifelt mit Kopf und Schwanz. Jetzt führte der Weg durch eine Deckung hinaus zu den Hünengräbern. Die uralten Steine lagen grau, mißmutig.

»Warum liege ich nicht da unten?« murmelte die Comtesse mit dem sehnsüchtigen Verlangen nach Grabesruhe, das allen eigen, denen das Herz schwer. Und plötzlich war der Wunsch nach Tod, Vergessen in ihr so heftig, daß sie den Fuchs durch das Dickicht bis an den Fluß herantrieb. Dort stand mitten im Tannengestrüpp eine einsame Fichte wie ein finsterer Bergfried; davor zog sich ein schmaler Streifen blühenden Heidekrautes. Darunter gähnte der Abgrund. Zögernd, mit tastendem Hufe ging 124 das Pferd vorwärts. Als es in der Tiefe das tückisch blitzende Wasser zwischen wuchernden Erlenschößlingen erblickte, scheute es zurück. Die Comtesse drängte es wieder zur Stelle. Ein Harras-Sprung . . . Sie empfand ein süßes Grauen. Da unten lag das Vergessen . . . Die Augen zu – ein Sporndruck, ein Peitschenhieb . . . und die zuckende Gliedermasse, die sich da überstürzend hinunterwälzte bis zum Wasser, hatte nichts mehr zu fürchten im Guten wie im Schlimmen. Ein Steinchen löste sich von dem kiesigen Abhang und rollte hinunter. Da rann eisiger Schauder durch ihre Glieder. Dennoch drückte sie in unklarem Gefühl das schnaubende Tier Zoll für Zoll vorwärts. Noch ein Zoll – noch einer . . . Sie wußte es wohl, die trügerische Humusnarbe da vorn war unterwühlt, das duftende Heidekraut hing schon über dem Abgrunde. Wenn sie nun den Fuchs ganz langsam so weit vorbrachte, bis er durchtrat, sich überschlug – da war's auch vorüber. – Doch der Fuchs stemmte sich mit klugem Instinkt gegen die Gefahr – dies beharrliche, leise tß, tß machte ihn argwöhnisch. Plötzlich wendete er sich, nahm seine widerstrebende Reiterin ohne viel Federlesens mit und ruhte nicht eher, bis sich beide atemlos auf dem Dennhöfer Kirchenwege befanden. Hier wollte sie den Ungehorsamen züchtigen. Aber mochte ihm diese bleierne Ruhe, diese Sommerschwüle im Herbst unheimlich vorkommen, er benutzte die kurze Rast nur zur Orientierung, legte sich zu einem regelrechten Jagdgalopp aus und machte, Zügel und Zuruf verachtend, daß er aus dem Walde kam. Dort ließ er das Unvermeidliche über sich ergehen und war mit seiner gestrengen Herrin durchaus zufrieden, daß sie nach einem Blick auf den grauen, 125 tief herniederhängenden Himmel sich für Schloß Dennhöfen entschied, wo zwar weniger auf Hafer zu rechnen, jedenfalls aber eine regensichere Unterkunft war. Seit einiger Zeit ritt die Comtesse oft hinüber, nicht weil sie sich als Herrin dieses verwahrlosten Schlosses fühlte, sondern weil es hier so köstlich einsam, weltfern, verlassen. Der rote Ziegelbau war noch gar nicht alt, eine Schöpfung des letzten Dennhöfer Herrn, der seine bizarren Geschmacksideen in diesem seltsamen Bauwerke niedergelegt hatte, das in der Front wie ein französisches Lustschloß, auf den Seiten wie eine zinnengekrönte Burg aussah. Das Inspektorhaus und die Wirtschaftsgebäude lagen weit ab. Ungesehen konnte die Comtesse durch den Park reiten und den Fuchs in einem kleinen Borkenhäuschen einstellen. Sie trug immer den Schlüssel zu einem Seiteneingange des Schlosses bei sich und verstand nicht, daß die Dorfleute sich vor den alten Zimmern grauten. Der verschollene Natzfeld sollte da umgehen – an zwei Tagen im Jahr erstrahlten die Fenster von zwölf bis ein Uhr nachts in blendendem Kerzenlicht, man höre Stimmen, leise Musik, und Schatten bewegten sich drinnen. Wenn die Comtesse die knarrenden, verstaubten Stiegen zum ersten Stock emporstieg, dachte sie halb lächelnd an diese Ausgeburt dörfischen Gespensterglaubens . . . Georg Leberecht v. Natzfeld war eines Tages verschwunden: das war die ganze Wahrheit. Ob es aus Lebensüberdruß geschehen? Noch aus dem verblaßten Golde der Rokokostühle, den mottenzerfressenen, herausquellenden Atlaspolstern wehte sie der Geist seinen, raffinierten Genusses an, der das Leben und die Gesellschaft geliebt. Freilich ein seltsamer Mensch, dieser Verschollene, der ein 126 Gewirr von Stilen um sich versammelt: neben dem leichtfertigen Rokoko das steife Empire der Revolution . . . uralte Renaissanceschränke, schwerfällige Truhen – im Ahnensaal die Natzfelds mit ihren klugen, scharfen, fremden Gesichtern, zuletzt Georg Leberecht selbst, ein Epikureerkopf mit hübschem, sinnlichem Munde, aber den tiefen, dunkeln Natzfeldschen Augen – den Augen der Comtesse.

Warum war er verschollen? Warum hatte er gerade ihr das Gut vermacht?

Und wie sie so die schwere, abgestandene Luft des Ahnensaales einatmete, diese alte Luft, die mit ihren Staubatomen vielleicht ein düsteres Familiengeheimnis einhüllte, legte sich auf ihre Seele ein Alp, die namenlose Angst vor etwas Wesenlosem, Unentrinnbarem, das uns mit Polypenarmen umklammert, lähmt, tötet.

Sie öffnete das Fenster, aber der Alp wich nur langsam. Vom Park her duftete das Harz der Tannen fast betäubend stark herauf, mit dem leisen Modergeruch welkender Lindenblätter gemischt. Noch immer diese unheimliche Stille, dieses bange Schweigen. Der Himmel grau, lastend, ein stagnierender Dunstsumpf, durch den die Sonne wie ein mattes Licht schimmerte, die kahlen Stoppelfelder darunter von einem fahlen, trostlosen Gelb, das nach Schwolmen hin in das düstere Schwarz des Waldes überging, an dessen Rande mißfarbenes Gewölk wie dicker Rauch dahinkroch, so tief, so schwer, daß es die Kämme der Fichten zu zerzausen schien. Links, über armselige Insthäuser, einsame Birken hinweg sah man neben einem schmalen Eichenwaldfetzen den roten Senkenhager Ringofen in verschwimmendem Grau, aber rechts, wo der Lorscher Hochwald den 127 Horizont in scharfen, kühnen Linien abgrenzt, stand das Wetter, ein schwarzes, unbewegliches Wolkenungetüm.

Und jetzt begann die Natur zu atmen, erst ganz leise, es klang fern und schien aus der Tiefe zu kommen . . . ein Lindenblatt raschelte hernieder; dann stärker, länger, wie das verhaltene, angstvolle Stöhnen eines gefangenen Tieres. Das Stöhnen ward wilder, qualvoller . . . eine Fichtenkrone nickte . . . Das Tier begann zu heulen, rüttelte an seinen Kerkergittern, wollte frei sein . . . Die Fenster klirrten. Ein unbeschreiblicher Laut ging durch die Luft, der erste rasende Aufschrei des Gequälten, der die Aeste bog und das dürre Laub herunterriß. Dann wurde es wieder stille, ganz stille. Ein paar schwere Tropfen klatschten auf die Scheiben. Die Comtesse sah auf die Ebene, über der ein heißer Blitz zuckte.

Da erblickte sie ganz hinten am Walde einen Reiter, der wohl unter dem schützenden Dache der Bäume das Wetter unterschätzt haben mochte, einen Augenblick stutzte, dann aber weitertrabte. ›Er will Dennhöfen erreichen,‹ dachte sie. ›Aber warum nimmt er gerade den Weg am Walde? Das Pferd wird ihm toll, wenn ihn hier das Gewitter faßt, denn da ist er wie eingekeilt zwischen Wald und Graben.‹ Und sie sah ganz deutlich das grünlich blinkende Wasser des breiten Abzugskanals, der den Weg getreulich bis an das Gut begleitete. Indessen strebte der Reiter vorwärts im schlanken, ruhigen Trabe. Ihr schien, als wenn er seinem Braunen ein wenig mehr zusetzen könnte. Das Pferd ging scharf und gut und würde auch in der Carriere nicht versagen. »Den Braunen habe ich schon gesehen . . . aber den Reiter?« Und sie spähte scharf nach dem 128 Manne, der, nach vorn geneigt, leicht im Sattel saß, von der hohen Halsung des Pferdes gedeckt. »Er muß ein sehr ruhiges Pferd haben, wenn . . .«

Sie hatte den Satz noch nicht beendet, da riß ihr ein Windstoß den Fensterflügel aus der Hand. Und als wenn das Tier in der Pause der Ruhe sich nur Kraft gesammelt hätte, brach es mit heiserem Gebrüll los, riß an seinen Ketten, tobte, raste. Der Park stöhnte, Aeste krachten, der Sturm wirbelte die welken Blätter umher im tollen Tanze. Von der Gewitterwand zuckte es auf, der Donner krachte. Marie achtete kaum auf das Toben der Natur, sie interessierte nur der Reiter, der vor eine verzweifelte Probe seiner Kunst gestellt schien. Er jagte jetzt im langen Galopp dahin, Schenkel fest und der Herr seines Renners. Halb neugierig, halb ängstlich schaute sie zu. ›Ob er es wohl durchhält?‹ . . . Aber bis jetzt hatte das Wetter nur gespielt. Ein langer, düsterroter Blitz, der die schwarze Wolkenwand wie Zunder von oben bis unten durchriß, ein Schlag, scharf, hart, vernichtend, ein Schlag, der nur die Könige des Waldes fällt . . . Das Pferd gehorchte dem Zügel nicht mehr, es war in rasendem Sprung auf die Seite geprallt, um wieder von den Blitzreflexen im grünen Grabenwasser nach dem Walde hin zu scheuen. ›Wenn er nur lebendig vom Pferde kommt!‹ Sie sorgte sich unnötig. Der Braune nahm seinen langen, federnden Galopp wieder auf. Es mußte ein eiserner Schenkel sein, der ihn vorwärts drückte. Doch noch erkannte sie den Reiter nicht.

Der Sturm war auf der Höhe. Das gefangene Tier hatte seine Ketten gesprengt, die Kerkermauern gebrochen. Das war die freigewordene Bestie, die in 129 irrsinnigem Zerstörungsdrange daherfuhr, wimmernd, heulend, stöhnend; das waren die rasenden, unnatürlichen Kräfte des Tobsüchtigen, der die Parkfichten schüttelte, bog, zerschmetterte, der die Ziegel vom Schloß riß, die Waldriesen knickte. Seine wahnsinnglänzenden Augen schossen die Blitze, seine Stimme war der Donner, der die Grundmauern des Schlosses zittern, die Balken beben ließ. Aber mitten im Wahnsinn der Verwüstung, der sich durch die krachenden, zusammenstürzenden Stämme des Waldes da drüben seine Gassen hieb, inmitten der satanischen Freude der Vernichtung, die als Grundmotiv durch alle die wilden Sturmesstimmen klang, in dem staubgesättigten Dunstmeer der Atmosphäre, die das Licht der Blitze fahl, violett, blutrot durchzuckte, empfand die Comtesse nur Bangen für den tollkühnen Reiter, der den Kampf mit Sturm und Wetter noch immer durchhielt. Wer war er? Wer konnte es sein? Sie sah ihn auf flüchtige Momente, im flimmernden Lichte der starken Blitze, unklar, verwischt, wie ein verstaubtes Bild. Aber ob er wieder im langen Galopp dahinjagte, ob er mit dem bäumenden Renner rang, immer erkannte sie diese verbissene Energie, die ihr bekannt schien.

Eine Minute versagte dem Sturme der Atem, und jetzt sah sie Pferd und Reiter deutlich. Das Erkennen blitzte in ihr auf. Das Pferd war Hassos Cisber, und der Reiter war – Loja.

Jede Fiber erbebte ihr, und das Herz schlug bis zum Halse.

Liebte sie ihn? . . .

Eine grausame Regung stieg ihr jetzt bis in die Haarwurzeln. Wenn ihn der Vollbluthengst nun aus dem Sattel schleuderte, den Betäubten am Bügel 130 über die Stoppeln schleifte in unaufhaltsamem Galopp der Todesangst – bis zum Schloß, bis zu ihren Füßen hier . . . Würde sie sich auf seinen zuckenden Leichnam stürzen, ihn zu küssen, wenigstens im Tode? Nein! Sie würde lächeln, grausam . . . glücklich.

Und wie bei ihrer tollen Fahrt wollten sich die grauen Schleier der Ohnmacht auf ihr fieberndes Haupt herniedersenken, indes ihre eiskalten Lippen murmelten: »Ja, laß ihn sterben . . . laß ihn sterben . . . und mich auch.«

Sie wankte nach einem verstaubten Rokokostuhle, der an einem eingelegten Empiretisch stand. »Wie wird das enden?« . . . Da hörte sie eine Stiege knarren, einen schnellen Männerschritt, eine Hand, die die Thür zum Ahnensaal behutsam aufklinkte. Comtesse Marie nahm ihre ganze Energie zusammen und stand auf. Der Ankömmling war Loja.

»Verzeihen Sie, Comtesse, daß ich hier eindringe. Aber Not kennt kein Gebot. Draußen regnet's Bindfaden. Ich habe Natzfelds Cisber neben Ihrem Fuchs im Rehhäuschen unten installiert . . . Hoffentlich keilen sie sich nicht . . . Uebrigens hätte ich Ihre beschützende Nähe ahnen können, Gräfin. Denn in Ihrem Park legte mir vor fünf Minuten der Sturm eine Tanne zu Füßen, die nur zwei Meter weiter zu fallen brauchte, um Ihnen das Vergnügen jeder ferneren Begegnung mit mir zu ersparen.« Er sagte das alles in einer spöttelnden leichten Manier, die doch etwas Erzwungenes hatte.

»Mich stören Sie nicht,« antwortete sie kühl . . . »Wo wollten Sie hinreiten?«

Er faltete die Braue und sah auf das Oelbild des letzten Dennhöfer Natzfeld, das über dem Stuhl 131 der Comtesse hing. »Merkwürdig ähnlich!« . . . Dann fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich wollte nach Soraunen. Gellmann ist tot – auf der Hühnerjagd verunglückt. Er wollte mit seinem Gewehr über einen Graben springen, und da entluden sich beide Schrotläufe: auf deutsch – er hat sich erschossen! Auch eins von den geplagten Tieren dieser Erde weniger! Nun wird wohl das Ehrgefühl der Gegend befriedigt sein. Daß sie alle miteinander das Ihrige dazu beigetragen haben, ihn zu morden, das gesteht sich keiner von den Moralfatzken.«

»Und die Frau?« fragte sie, um doch etwas zu sagen. Zugleich fühlte sie den Kopf klarer werden und das Herz kühler.

»Die bemitleiden Sie wohl sehr, Comtesse! Verzeihen Sie,« fuhr er in sarkastischem Tone herabmindernd fort, »meine Nerven sind 'runter . . . Wozu lebt man eigentlich? Das einzige Gute, was ich vielleicht in meinem Leben gewollt, schlägt zum Bösen aus.«

»Ist sie noch immer so hübsch, Ihre Schutzbefohlene, Herr v. Loja?«

»O ja, und liebt noch immer die Narren . . . Dabei fällt mir ein, daß es zum Abschiednehmen just das rechte Wetter ist.« Er hielt inne und horchte auf die schwer herniederrauschenden Regenmassen und das dumpfe Grollen des fernen Donners. »Mein Urlaub ist zu Ende . . . Wir sind ehrliche Feinde gewesen, Gräfin – die Aristokratin Sie, der Plebejer ich – wie sich's gehört. Aber einmal sind Sie doch zu meiner gemeinen Menschlichkeit herabgestiegen. Sie wissen's auch noch ganz genau! . . . War's wirklich der wertloseste Moment in unserm Leben?«

132 Sie hob langsam den Kopf und sah an ihm vorüber auf die Wand. »Wertlos? Gewiß nicht, aber vorüber!« Woher nahm sie die unnatürliche Ruhe in dieser Stunde! Bezwang sie ihr fieberndes Natzfeldsches Herz mit dem ungemessenen Wilneinschen Hochmute? Gab ihr der lange Blick, den sie über den düsteren Ahnensaal warf – diese stolze Geschlechtsgeschichte in Prunkharnisch, Halskrause, ordenblitzender Uniform, die doch nicht an die eigne, vornehmere heranreichte, – die unzerstörbare, aristokratische Sicherheit, das Gefühl der Schloßherrin, die einen Lehensmann verabschiedet? »Und gestehen Sie doch jetzt ruhig, daß Sie uns hier eine gelungene Komödie der Entbehrung vorgespielt haben, die zur Wirklichkeit so gut paßt, wie Ihr Schwolmer Bauernhaus zu Ihren Millionen, Herr v. Loja!«

Er zuckte zusammen. »Wer sagt das?« fragte er langsam.

»Einer, der's wohl wissen muß – mein Bräutigam.«

»So log er.«

»Herr v. Loja!«

»Pardon, Gräfin . . .«

In diesem Augenblicke fühlte sie, daß die Entscheidung nahe war. Die Wahrheit lag in der Luft. »Warum sollten Sie sich auch den Scherz nicht gestatten? Wir sind ja alle hier etwas kurz« – sie tippte mit dem Finger an die Stirn. »Ein einziger durchschaute Sie sofort und poussierte Sie dementsprechend: das war mein kluger Vetter Hasso.«

»Der hat nichts gesagt!«

»O nein! Aber dessenungeachtet haben Sie den reichsten Mann Hamburgs allein beerbt . . . sind zehn Jahre fast verschollen gewesen . . . Und 133 wollen Sie's Ihren früheren Freunden verdenken, daß sie peinlich berührt sind über die Wandlung, die Sie in der Zeit durchgemacht? Arthur hat's freundschaftlich mit Ihnen gemeint bis zu dem Punkte, wo der Kavalier, der Offizier beim besten Willen nicht mehr mit kann . . . Sie müssen eben etwas erlebt haben . . .«

»Nein, ich erlebe es erst jetzt,« unterbrach er sie in sonderbar ruhigem Tone, »ich frage Sie aufs Gewissen, Gräfin, hat Ihnen das Arthur wirklich gesagt? Er, der die Wahrheit besser kennt als jeder!«

»Wer sonst?«

Loja griff in die Brusttasche und holte ein Portefeuille hervor, ein altes, von Damenhand gesticktes Portefeuille, welches wohl seine galante Geschichte haben mochte. Seine Hände zitterten wie die eines alten Mannes, sein Gesicht war bleich. Und während er zwischen den Papieren mit der Ungeschicklichkeit einer großen Aufregung herumsuchte, fragte sich die Comtesse: Warum erzähle ich da eigentlich Dinge, an die ich längst nicht mehr glaube?

Endlich hatte er gefunden, was er suchte, und schob ihr über den Tisch ein Papier zu . . . »Lesen Sie . . . es ist keinen Monat alt – die letzte Quittung eines Wucherers . . . dem ich die Hälfte meines Gehalts verpfändete, um Rate für Rate, Jahr für Jahr die Schulden des verstorbenen Kurt v. Gampesch zu bezahlen – das thut ein Millionenerbe . . . hm?«

Sie schob das Papier mit den Fingerspitzen zurück. »Das beweist eben nur, daß Sie mit meinem verstorbenen Schwager sehr intim gewesen sein müssen. Ob ich das für eine Empfehlung halten soll nach allem, was der gethan hat . . .«

134 »Nein, bei Gott, das soll's nicht sein!« lachte Loja höhnisch auf . . . »Hören Sie, Comtesse,« fuhr er erregt fort, »erinnern Sie sich unsrer tollen Wettfahrt? Erinnern Sie sich, daß ich von einem Manne sprach, dessen Herzblut ich wollte – langsam, Tropfen für Tropfen? Und kennen Sie den Mann?«

»Arthur!«

»Nun, ich habe sein Herzblut doch nicht gewollt. Warum? – das fragen Sie sich vielleicht am besten, Gräfin! . . . Ich habe geschwiegen, wo ich sprechen konnte – ich habe höflich gelächelt, wo mir die Grimasse des Ekels besser gestanden hätte – ich wollte weggehen, ohne daß wir miteinander abgerechnet haben . . . ich mit ihm . . . er nicht mit mir! Der Mann, der mir alles verdankt, bricht hinter meinem Rücken den Stab über mich!«

»Wahrscheinlich, weil er ein Recht hat!« Plötzlich trat sie rasch so nahe auf ihn zu, daß sie sich fast berührten und er ihren heißen Atem fühlte: »Sie lügen! Er hat nie etwas gethan, was das Licht scheut. Vielleicht Sie . . .«

»Setzen Sie sich, Gräfin,« sagte er finster. »Es ist eine lange Geschichte.

»Sie beginnt wie alle Geschichten: Es war einmal . . . Vor zehn Jahren gab's einen Loja, einen ganz andern Loja, der zu den verlorensten Lebemännern gehörte, die je Berliner Giftluft genossen haben. Er glaubte, sehr hinreichend das zu haben, was zur Verdorbenheit gehört: das Geld, den eisernen Körper und die Herzenskälte. Er hatte überall Glück – bei den Frauen, beim Spiele. Auch ein guter Kamerad soll er gewesen sein – und war mit zwei Leutnants v. Gampesch vom 135 Rhein her eng befreundet. Der eine, der ältere, war ein toller Leichtfuß, der prädestinierte Kandidat für die Morgue oder die Galeere, wie mir nachträglich klar geworden! Der andre war das nicht. Und wer sagt, er habe jemals eine große Thorheit begangen, der lügt.« Loja war langsam, mit gesenktem Haupte auf und ab gegangen, jetzt blieb er stehen und fuhr wie in gedämpftem Selbstgespräch fort: »Nein, das wäre brutal . . . Ich will Sie ja nicht treffen. Es sind auch Dinge, die Ihr Ohr nicht verträgt, Ihr Herz nicht versteht. Es ist der Sumpf . . .« Seine Lippen zuckten. War's Ekel, war's Empörung?

»Weiter . . . ich will's!« mahnte sie.

»Ja, weiter,« wiederholte er wie geistesabwesend. »Soll ich Ihnen beichten? . . . Beichten . . . ich? . . . Lächerlich! Soll ich Ihnen von einem Mädchen erzählen, das einen Mann sehr lieb hatte? Es war keine Ehe – sie dachten nicht einmal daran. Und da war ein andrer Mann, ein häßlicher Kerl, der auch was vom Handwerk verstand . . . Den reizte nicht das süße Gesicht des jungen Geschöpfes, nicht der Schleier, der ihre Vergangenheit undurchdringlich umgab. Aber er wollte sie haben, weil es schwer schien, unerreichbar, weil sie den andern, hübschen ehrlich liebte. Der ungleiche Kampf reizte ihn. Und der andre war leichtsinnig, toll vor Liebe und Glauben und proponierte eine unsinnige Wette. Der Häßliche nahm sofort an. Die Sache war reinlicher so . . . Niemals ist ein Roué kaltblütiger ans Werk gegangen. Und er kam schnell ans Ziel. War's der Satan selbst, der ihn diese seltene Kunst lehrte, zu lächeln, zu schmeicheln, sterbensverliebt zu scheinen und doch mit eisernem Griff im einzigen 136 unwiederbringlichen Augenblick der Schwäche das Weib zu fassen, an sich zu reißen, zu halten – und mit dem Fuße wegzustoßen, wenn sie ganz sein ist! . . . Denn sie war sein, so ganz sein, daß sie, betrogen, verhöhnt, verlassen, nicht einmal die Kraft zur Empörung, zum Grolle fand, daß sie auch das wie etwas Selbstverständliches von ihm hinnahm. Hatte sie ihn doch einmal besessen!

»Der Schurke war ich.

»Und ich empfand nicht einen Schatten von Reue, nur ein köstlich prickelndes Gefühl, eine Schlechtigkeit gethan zu haben, die mir keiner meiner Geistesbrüder nachmachte. Festes Ziel, kaltes Herz, und jede Frau gehört uns: mein alter Satz – vielleicht ist er richtig in einer Welt, wo die Lüge mehr Lebenskraft zu haben scheint als die Wahrheit. Ich vergaß den Triumph schnell.« . . . Loja ließ sich schwer auf einen Stuhl sinken – ein müder Mann . . . »Aber das Glück mied mich von Stund an. Ich verlor viel Geld in Papieren, im Spiel; mein väterliches Gut brannte mir nieder. – Was bedeuteten diese kleinen Unglücksfälle für mich? Wenn der Bruder meiner Mutter starb – bei dem herzkranken Manne war das eine sehr bald zu erledigende Angelegenheit –, bekam ich ein fürstliches Vermögen. Freilich mit unsrer gegenseitigen Liebe war das so eine Sache. Er bis in die Fingerspitzen Kaufmann, Geldmensch, self-made man- – und ich der hochmütigste Thunichtgut, der je das Burschenband des adeligsten Corps getragen.«

Er schwieg. Plötzlich stand er auf. »Entlassen Sie mich, Comtesse! . . . Wozu das Vergangene? Ich bin ja auch Partei . . . weiß, daß die Wut, die Empörung mich übermannen würde. Leben Sie 137 wohl, Comtesse, leben Sie wohl . . . und seien Sie glücklich . . .« Er hielt ihr die Hand hin. Sie aber hob das Auge nicht. Ein Zittern ging durch ihren jungen Körper . . . »Comtesse! . . .«

Dann fuhren sie beide zusammen. Ein betäubender Schlag war herniedergefahren. Und wie teuflisches Grinsen zuckte der breite Blitzreflex über die alten Bilder. Die Comtesse war an das Fenster gestürzt: »Um Gottes willen, das hat eingeschlagen!«

»Leben Sie wohl, Comtesse!« wiederholte er leise und wandte sich zum Gehen.

Mit zwei Schritten war sie neben ihm, ergriff seine Hand und sagte leidenschaftlich: »Sie dürfen nicht gehen, Freiherr v. Loja! Ich will weiterhören . . . ich muß. Lebt die Unselige noch? . . . Lieben Sie sie noch?«

»Ich habe sie nie geliebt,« antwortete er tonlos.

Sie atmete auf. Dann brach eine heiße Flamme aus ihren Augen. »Gleichviel, ich will die Wahrheit, will alles wissen . . . Sagen Sie doch, was Sie nicht sagen wollen, daß Arthur meineidig ward, sein Wort brach . . . nein, daß er Sie hinterging, bestahl, feige, mutlos.«

»Wer?« Er drückte sie mit zitternder Hand auf den Rokokostuhl, auf dem sie eben gesessen, und über ihre Schulter gebeugt sprach er leise: »Wir beide reden im Fieber, Comtesse . . . Was Arthur v. Gampesch that, das würden viele thun – wir beide nicht . . . Er kam eines Abends spät zu mir, aschgrau, und zeigte mir starren Blickes ein ganzes Dutzend Papierwische – Wechsel über eine enorme Summe. Sein Name stand unter allen . . . er war schlecht gefälscht. Ich erriet sofort. ›Kurt?‹ – ›Kurt!‹ Wir sahen uns ratlos an. Und dann fragte 138 nach einer Minute – einer Ewigkeit – seine angstvolle Stimme: ›Kannst du?‹ – ›Wenn ich mich ruinieren will – ja.‹ Es war die Wahrheit. Aber er erklärte mir, wie er die Sache meine: Ich solle die gefälschten Wechsel einlösen mit der Inanspruchnahme meines äußersten Kredits. Er habe ja sein mütterliches Vermögen, und das wolle er flüssig machen . . . ›Nur nicht die Schande, einen Gampesch fahnenflüchtig, vielleicht als Wechselfälscher verfolgt! Ich bin auch damit entehrt. Hans, Hans, hab Erbarmen! In vierzehn Tagen hast du alles zurück. Ich bin ein Bettler, aber die Familienehre ist gerettet.‹ Ich hatte das selbstverständliche Ja des Kavaliers auf der Zunge, da stürzt Kurt herein in Zivil, maßlos aufgeregt, doch schon mit dem unsicheren Augenaufschlag eines Menschen, dem die Gendarmen auf den Fersen sind. Es war eine grauenvolle Scene. Mit einem einzigen Blicke erkannte er die Situation, und ohne sich an das herausgezischte ›Du Schuft!‹ seines Bruders zu kehren, stürzt er mir zu Füßen, weint, winselt wie ein Hund: er, der bildhübsche, leichtsinnige Filou. Und in den Pausen dieses verzweifelten Schluchzens immer diese maßlosen Selbstanklagen eines völlig Haltlosen. ›Ja, ich bin ein Schuft . . . ich gehöre ins Zuchthaus . . . ich muß mich totschießen . . . ich will's ja auch . . .‹ Wir beide schwiegen. Plötzlich sprang er auf und ging auf seinen Bruder los. ›Ja, ich weiß, warum du hier bist. Hans, dem ich schon Unsummen schuldig bin, soll auch noch das Letzte für mich opfern – nicht für mich, nein für dich, du kalte Hundenase, für den Rock, für deinen Rock!‹ Dann wandte er sich wieder zu mir: ›O, den kenn' ich! . . . Sei verständig, Hans! Gieb dein Geld 139 nicht! Du bekommst keinen Pfennig zurück . . . Wozu willst du dich denn für den da kaput machen? Ich gehe ja doch vor die Hühner, ob das nun heute geschieht oder in einem Jahr – ich bin ja nicht mehr zu retten! Verlang von einem Sieb, daß es kein Wasser mehr durchlassen soll . . .‹ Er hatte recht. Ich aber war entschlossen, zu geben, und wenn ich auch nichts behielte, als die Aussicht auf die Millionen meines Onkels. Am andern Tage wurde alles geregelt. Kurt zog den Attila noch leidlich in Ehren aus, und Arthur versprach . . . versprach . . . Dann rollte die Lawine weiter. Ich lebte toller wie je, lebte von Schulden: ›Wenn doch nur mein Onkel stürbe!‹ Dafür kam eines Tages ein Brief. Mein Onkel bat mich zu einer Unterredung nach Hamburg.«

Und ein andres Bild stieg Loja auf. Ein alter Mann mit welkem Gesicht in einem Lehnstuhl zusammengekrümmt, die Hände geschwollen, die Stimme rasselnd, aber in den Augen eine böse, unerbittliche Klarheit. Er fühlte diese Augen stechend auf sich gerichtet, und diese Stimme sagte mit Anstrengung: »Du sollst pleite sein, und zwar weil du für einen adligen Wechselfälscher eingetreten bist . . . Das würde ein Grund für mich sein, dich zu enterben . . . Die Millionen, die ich mit meinem Kopfe verdient habe, die Millionen des Kaufmanns, des Arbeiters sollen nicht durch deine Hände den Weg strafbaren Leichtsinns gehen. Wie verhält sich das?« . . . Die Augen nahmen einen lauernden Ausdruck an, und die Stimme fuhr, ohne die Antwort abzuwarten, fort: »Sag nein, mein Junge . . . ich will nicht wissen, ob's wahr ist. Ich werde auch nicht nachforschen . . . Also, du hast's nicht gethan?« Der 140 alte Mann spielte nicht. Das begriff der Junge wohl, der vor ihm stand. Und die Lüge würgte ihm die Kehle, die Lüge, vor der dies Haus des Reichtums kapitulieren wollte, so daß die Wahrheit nicht heraus konnte. Er warf einen irrenden Blick über dieses proletarisch einfache Krankenzimmer mit seiner ungesunden Stickluft und auf diesen alten, kranken, bösen Mann, der ihm wie der Versucher vorkam. Und da ermannte er sich – ein Loja lügen, pfui! Er antwortete laut und kalt: »Ja.« Die Pupillen der alten Augen zogen sich zusammen wie bei einer Katze, die ins Licht sieht: »Wenn euch das Geld des Kaufmanns so wenig wert ist, dann verdient ihr's auch nicht . . . Du hättest nein sagen sollen, lieber Neffe. Ich gebe dir auch jetzt noch Bedenkzeit . . .« Einen Monat später starb der Alte. Das Testament, welches den Neffen wegen unverantwortlichen Leichtsinns enterbte, war über ein Jahr alt. Der Adel des Geldes hatte an dem Adel der Geburt seine Rache genommen.

Leise fuhr Loja zur Comtesse fort: »Ich wurde enterbt. Also mußte ich das Geld von Arthur haben. Er war damals auf der Reitschule. Ich schrieb ihm . . . sagte alles . . . und korrekt wie immer verfaßte er sofort die Antwort: Nichts Uebertriebenes! Er habe in einem Augenblick maßloser Aufregung ein Versprechen gegeben, das er nicht halten könne – er appelliere an den Freund, an den Edelmann . . . er würde Kurt zwingen, mir einen Teil der Revenuen des Majorats zu verpfänden . . . Kurt – ha! der schon wieder halb am Galgen hing.

»Der Brief war nicht nett. Lassen wir ihn passieren. Nur den einen Passus nicht: ›Melde die Angelegenheit beim Obersten, und er wird mich zur 141 Einhaltung meines Versprechens zwingen. Freiwillig darf ich mich nicht zum Bettler machen!‹ Sehen Sie, Comtesse, das sitzt, das brennt! Nach dem allem, was ich für die Bande gethan, mir kaltlächelnd zu proponieren, was man einem Wucherer im Augenblicke der Verzweiflung proponiert! . . . Der Edelmann dem Edelmann das! . . . Von dem Augenblick habe ich auf meinen Uradel gepfiffen – den Wisch habe ich ihm zerrissen zurückgeschickt . . . Da nimm auch noch das Letzte, was dich kompromittieren könnte, du korrekter Schuft!«

Und als habe die Comtesse von diesen wilden Anklagen nichts vernommen, sagte sie tonlos:

»Und Sie . . . Sie?«

Er trat von ihrem Stuhle weg, und seine Hand stützte sich schwer auf die Tischplatte. »Es kam ein Tag, wo ich nichts mehr besaß. Aber ehe man so weit kommt! Die Bekannten, die sofort abfallen . . . die Freunde, die langsam abbröckeln . . . die versiegelten Möbel. Dann das Chambregarnie zweiter Klasse . . . das Leihhaus . . . die gemeinen Schulden bei der Wäscherin und beim Kellner. Es ging rasch, und doch nicht rasch genug! . . . Zur ausgefransten Manschette, zum blanken Ellbogen kam ich nicht. Weil sich komischerweise mein ganzes Innere dagegen auflehnte, daß man eines Tages Hans Freiherrn v. Loja aus dem Hause Dessenheim wie einen obdachlosen Stromer tot auffinden könne. Zum Sterben hatte ich durchaus einen tadellosen Anzug nötig. Und eines Donnerstagabends im Frühjahr zog ich den Anzug wirklich an. Heute wollte ich ein Ende machen. Ich empfand nicht einen Schatten von Furcht, nicht einmal das feine Frösteln, das auch die Abgebrühtesten vor der 142 Pistolenmündung überläuft. Nur anständig um die große Ecke gehen! . . .

»Und wie ich so die Leipzigerstraße entlang ging, ganz straff, mit einer blasierten Ironie in Gesicht und Herz, da that es mir ordentlich wohl, dieses weiche, dunstige, vornehme, elektrische Licht, dieser feine Hauch von Welt, Eleganz, der über den Spiegelscheiben, den Toiletten, den Gesichtern ausgebreitet liegt. Und ich sah die Zeitungsnotiz vor mir: ›Heute abend um acht Uhr erschoß sich im Tiergarten in der Nähe des Luisen-Denkmals der Freiherr Hans v. Loja aus dem Hause Dessenheim. Der in den Kreisen der Lebewelt rühmlichst bekannte Herr litt schon lange an Melancholie . . . Ein Pferd von ihm erzielte noch unlängst im Tattersall einen außerordentlich hohen Preis.‹

»Ich begegnete manchem Bekannten. Sie grüßten teils zögernd, teils sehr tief mit dem hündischen, unsicheren Blick. Der tadellose Anzug gab ihnen zu denken. Ich mußte lachen über sie – über mich. Daß man die große Komödie selbst bis über den Moment hinaus spielt, wo sie sinnlos ist! . . . Ich bummelte weiter durch alle möglichen und unmöglichen Straßen. Es machte mir Vergnügen, mich an meiner Kaltblütigkeit zu sonnen. Und wie ich wieder an der Friedrichstraße zu den Linden und dem Tiergarten einbiegen will, streift mich ein Frauenarm, eine Stimme flüstert: ›Hans, einen Augenblick . . .‹«

Die Comtesse hob die Hände, wie um etwas Häßlichem abzuwehren.

Er fuhr auf: »Nicht dies pharisäische Lippenzucken, Reichsgräfin! . . . sie war eine Heilige! . . . Und der Anblick dieses Weibes, das ich verraten, 143 vergessen, that mir so weh, daß ich zuerst gar nicht verstand, was sie wollte. Der Anzug, dieser dressierte Sterbensmut, der meine Bekannten, beinahe mich selbst getäuscht hatte, sie täuschte er nicht. Ich höre noch immer ihre liebe Stimme, wie sie aufgeregt auf mich einsprach: ›Du hast etwas Schreckliches vor . . . ich sah's mit einem Blick . . . dir geht's schlecht . . . du willst . . . du willst dich totschießen!‹ Und als ich mich losreißen wollte, weil ich mich vor mir selbst schämte, da klammerte sie sich in wahnsinniger Angst an mich: ›Ich ruf' einen Schutzmann . . . ich sage, du hättest mich bestehlen wollen . . .‹ Und was das gute Herz noch alles Thörichte vorbrachte. ›Ich habe Geld . . . ich kann mehr haben!‹ Und dann schleppte sie mich in eine kleine Kneipe. Ich sollte essen, sollte trinken. Und ich konnte keinen Bissen über die Lippen bringen, ich mußte sie nur immer ansehen . . . Was hatte dies eine Jahr aus dem schönen Gesichte gemacht! Schön war es noch, aber . . . Und ich hätte den schmalen, süßen Mund küssen sollen, vielleicht dachte ich auch daran, aber ich vermochte nur mich auf ihre Hände zu beugen und sie mit Küssen zu bedecken. Geweint habe ich auch. Und meinen Sie, Comtesse, ich würde mich je dieser Thränen schämen? . . .

»Sie hat ihre Brillanten für mich verkauft – die Brillanten, die sie nie besessen, die großherzige Lügnerin! . . . Und als ich's endlich begriff, daß mich dieses glücklich lächelnde Gesicht betrog, daß sie die Zähne zusammenbeißen mußte, um nicht sterbenserschöpft hinzusinken, weil sie für einen Hungerlohn die Nächte durcharbeitete, um mir das Geld zur Zigarre zu verdienen – da hatte ich mich schon abgefunden mit meiner sogenannten Kavaliersehre . . . 144 Und dennoch! Ahnen Sie, Comtesse,« lachte er wild auf, »wie weit ein Mann 'runter sein muß, der ein Weib für sich arbeiten läßt, das er nicht einmal liebt? . . . Nein, nein, ich will ihr reines Bild nicht beschmutzen! Sie ist mir Mutter, Schwester gewesen, sie hat mir den Glauben wiedergegeben an das Gute, was wir alle hier drin im Herzen haben. Und in dem Elende der Niedrigkeit, die Ihr Gefühl empört, wie Ihre Nerven der Armeleutsgeruch, da besann sich der Freiherr v. Loja aus dem Hause Dessenheim auf den guten Tropfen Plebejerblut, der sich mit dem uralten blauen vielleicht nie vermischt hat. Diesem Tropfen verdankt er, daß er hier steht, daß er nicht untergegangen ist! . . . Damals habe ich arbeiten gelernt, die ehrliche, bürgerliche Arbeit selbst in einem gehaßten Berufe . . . Ein spleeniger Vorfahr von mir hat es nämlich für gut befunden, ein Universitätsstipendium für Studierende der Medizin zu gründen. Hundertundfünfzig Jahre hatten andre die Stiftungswohlthat genossen, weil jeder Loja achselzuckend ein solches Ansinnen zurückwies. Für den Letzten des Namens war die sehr bescheidene Summe die Rettung. Ein armes Subjekt war bis jetzt so glücklich gewesen, sich a conto meiner Protektion damit durchzuhungern, und jetzt nahm ich's ihm wieder brutal. C'est la guerre – für die vier Studienjahre war ich nun wenigstens vor dem Aeußersten gesichert . . . Ich wollte auch eine andre sichern – ich wollte sie heiraten – war's nicht die selbstverständliche Dankespflicht eines Menschen, der genug gelebt, um . . .« Er lachte wieder hart auf . . . »Und nun erklären Sie mir das Folgende.

»Ich sagte es ihr. Sie fiel mir glückselig um 145 den Hals. Zwei Tage sahen wir uns nicht. Am dritten bekam ich einen Brief:

»›Nein – nicht Opfer für Opfer! . . . Denn Du hast mich nie geliebt! Was kannst Du freilich dafür, daß Du mir alles gewesen? Zwei Tage habe ich gerungen, und Gott allein weiß, was mich der Entschluß kostet . . . Aber nein, Hans, nein! Vielleicht ist's Eifersucht auf die, die doch kommen würde . . . und ich will sie nicht sehen, ich ertrüg's nie . . . Vielleicht ist's Hochmut, die letzte winzige edle Regung im Leben der Verlorenen, die auch einmal großherzig geben möchte, ohne zu nehmen.

»›Küsse noch einmal die Stelle dicht unter Deinem Namen, Hans, ich habe sie auch geküßt. Dann verbrenne den Brief.‹

*

»Ich habe noch lange vor diesem Brief gesessen, nicht betäubt, nicht verwirrt. Ich liebte sie nicht! Der ganze grausame Egoismus des Mannes, den kein Mitleid, keine Bewunderung, keine Dankespflicht ganz zu bannen vermag, da war er wieder. Ich habe auch die Stelle im Briefe nicht geküßt, wie sie mich bat. Warum eigentlich nicht? Später hab' ich's doch so oft gethan! Hatte mich der gemeine Kampf mit den gemeinen Sorgen so hart gemacht, daß ich nur das gemeine Befriedigungsgefühl empfand, wieder einmal frei zu sein? Oder schwebte etwas so Heiliges, so Unnahbares über diesen Zeilen – diesen Zeilen mit den zittrigen, kleinen, der Seele abgequälten Buchstaben, die den stolzen Entschluß so sehr Lügen straften – daß mir der Kuß sündig erschien? . . .

»Ich habe sie nie wiedergesehen . . . Wie sie unter uns aufgetaucht war, schön, gut, ohne Namen, so entschwand sie auch mir. Seltsames Geschöpf! . . . 146 Sie, die alles so leicht, so vornehm hingab – ihre Vergangenheit niemand, auch nicht mir! Die paar Brocken, die ich doch erhaschte, verdanke ich einem häßlichen Scherze: ›Deine Mutter war heute bei mir.‹ Es war eine Lüge, sie erriet's sofort. Dennoch brach sie in ein so qualvolles Schluchzen aus, daß ich, der ich Weiberthränen hasse, weich wurde. Da, unter dem Druck dieser Nervenattacke, erzählte sie mir im Halbtraum von einer alten Mutter, einer jungen Schwester . . . Sie hatte die Schwester als Kind verlassen, wollte sie nie wiedersehen und liebte sie dennoch mit einer rührenden, abgöttischen Liebe. Während sie mir damals das erzählte, schien der köstliche Hauch durch ihr abgeschliffenes Organ wie eine Kindheitserinnerung zu klingen . . . Ich hätte dieses Kind gern auf meinem Lebenswege getroffen, gern gut gemacht, was ich an der Schwester gesündigt . . . Ich habe sie auch getroffen . . . aber . . .«

Die Comtesse hob das brennende Auge und sagte aus trockener Kehle: »Jetzt versteh' ich vieles . . .« Dann stand sie plötzlich auf und sah dem Freiherrn fest ins Gesicht. »Und Martha Gellmann sollte gefeit sein gegen den Zauber, dem die stärkere Schwester so kraftlos unterlag?«

»Comtesse!«

»Keine Angst! . . . Ich kann schweigen . . . Was hier gesprochen, was hier gedacht, soll die Stickluft dieses Ahnensaals verschlingen, wie sie wohl schon Schlimmeres verschlungen hat. Und halten Sie mich nicht für so engherzig, Herr v. Loja, daß ich Ihr Gefühl des Elendseins nicht verstehe. Im Bösen immer Sieger und im Guten stets besiegt! Denn mit der Gellmann haben Sie's gut gemeint, so gut, wie's ein Bruder mit der Schwester meint. Das 147 brauchen Sie mir nicht zu beschwören! Bei der setzten Sie Ihren eisernen Willen ein zum Guten . . . Und das eitle, hohle Geschöpf paralysiert mit einem leichtfertigen Lachen die unbesiegliche Kraft – giebt einem Doerstedt Rendezvous – ich bitte Sie – einem Doerstedt! Und übers Jahr ist sie vielleicht mit einem andern Doerstedt durchgegangen! . . .«

Er ging mit schleppenden Schritten im Zimmer auf und ab. »Ich habe mich überschätzt – auch im Bösen. Glauben Sie mir das, Comtesse?«

»Ueberschätzt? Sie?« Der leidenschaftliche Ton zwang ihn, stehen zu bleiben. Sie sah ihn an. »Wenn mir jemand vor einem Jahre zu sagen gewagt hätte: ›Hier wird Marie Wilnein stehen und das alles anhören, auch nur den zehnten Teil von dem, was Sie mir jetzt gesagt – ohne aufzubrausen, ohne zu erröten,‹ ich hätte ihm lächelnd an die Stirn gefaßt und gesagt: ›Junge, du bist toll . . .‹ Wer hat mir denn den Willen gelähmt, wenn nicht Sie? . . . Ist das kein Erfolg?«

»Und wer hat mir den Willen gelähmt? . . .« Der Ton war hart, spröde. »Wir sehen uns zum letztenmal, Comtesse . . . vielleicht habe ich alles geahnt, gewußt, vielleicht habe ich mich nach dem Schlusse gesehnt wie ein Raubtier nach dem warmen Blute seiner Beute. Jetzt bin ich so weit, jetzt kann ich Arthur v. Gampesch die schwerste Wunde schlagen. Und ich gehe, ohne sie geschlagen zu haben. Ich kann nicht, ich will nicht! . . . Wo man morden wollte – stehlen? Pfui!«

Sie wollte einen Schritt nach ihm hin machen und vermochte es nicht; sie wollte in selbstvergessener Leidenschaft ihm zurufen: »Ich liebe dich ja, ich liebe dich wahnsinnig!« Und die 148 zusammengeschnürte Kehle gab nur einen rauhen Laut von sich.

Da tönten von unten aus dem Parke laute Rufe im breiten Ostpreußisch: »Feuer! Es brennt!«

»Wo denn?« fragte eine fettige Stimme etwas lallend.

»Na, wo wird's sein? Macht doch die Ooge oof, Schäfer – die Grafschaft brennt!«

»Laß ihr man brennen! . . . Wenn du so viel getrunken hättest auf dem Markt wie ich, Kardel!«

Die Comtesse war bei dem Worte »Grafschaft« zusammengezuckt. Sie wankte nach dem Fenster. Der Himmel blaute wieder, und die Sonne lächelte mit schüchterner Bescheidenheit. Doch über dem Walde nach Lorschen hin lag eine dicke Brandwolke, in der schwefliges Licht zuckte. »Herrgott!« stammelte sie in Absätzen . . . »wenn's ins Wohnhaus eingeschlagen hätte . . . der Vater . . . Gicht . . . warum bin ich fortgeritten . . . hierher . . . um das zu hören . . . ich pflichtvergessenes, ehrloses Geschöpf ich . . .« Halb willenlos lehnte sie am Fensterkreuz.

»Aber Comtesse, fassen Sie sich doch! Es ist sicher nicht Lorschen; es brennt weiter drüben im Katholischen.«

Und da berührte seine Hand ihre Hand. Lag in dem Tone, der Berührung für sie irgend etwas Empörendes, Scheußliches? Sie fuhr wie von einem giftigen Insekt gestochen zurück. »Was wagen Sie?« Und ehe er selbst, sprachlos über den Ausdruck des Hasses in ihren blitzenden Augen, etwas erwidern konnte, stürzte sie an ihm vorüber und hinaus.

Er folgte ihr langsam. 149

 


 


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