Johannes Richard zur Megede
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Johannes Richard zur Megede

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Viertes Kapitel.

Und die Spitzenhaube?«

»Ja . . . sollte ich denn . . .« Der alte Kutscher lächelte verlegen.

»Allerdings, Sie . . . Sie . . .« Die Tante schnaubte vor Entrüstung, und ihr in eine lila Seidentaille eingezwängter Busen ging schwer. »Dieser Kerl, den dein Vater nicht fortschicken will, ist noch mein Tod! – Was stehen Sie noch da? Anspannen und nach der Stadt, was die Füchse laufen können!«

»Er jagt uns ein Paar Pferde dampfig. Geht's nicht ohne die Spitzenhaube, Tantchen?«

»Also, Sie fahren nicht!« rief die Tante in tiefster Indignation. Und als der Kutscher fortgeschlichen war, fuhr sie empört fort: »Ganz wie dein Vater! Daß nur das liebe Vieh nicht überangestrengt wird! Deine Tante aber kann ruhig die ganze Gegend in ihrer alten, zerknüllten Haube empfangen. Davon wird nichts! Ich gehe jetzt und lege mich ins Bett. An deines Vaters Geburtstag wirst du ja auch ohne mich fertig werden!«

»Wenn es sein muß,« gab die Comtesse kühl zurück. Solange sie denken konnte, machte die Tante vor jeder Gesellschaft eine Scene. Der Erwachsenen war das nachgerade langweilig geworden. 88 Und diese Ausbrüche immer wegen Lappalien, nichtiger Toilettensachen! ›Und wenn sie gar keine Haube aufsetzt!‹ Mit der harten Auffassung der Jugend entschuldigte sie die Eitelkeit der Fünfzigjährigen nicht. ›Warum vergißt der Kutscher für mich nie eine Stecknadel und für sie die Hauptsache, wie absichtlich?‹ Die Comtesse empfand dabei stets eine gewisse Schadenfreude. Ihre liebenswürdige Vornehmheit gegen die Leute rentierte sich doch sehr gut.

Schlittengeläut erklang. Es war der Bräutigam. Sie flog dem Eintretenden entgegen, der heute elegantes Zivil trug. Wie lieb sie ihn hatte, den in Gestalt und Meinung allzeit Geschmeidigen! Hand in Hand wandelten sie durch die lange Flucht der Zimmer. Von Wand und Decke ergoß sich ein Strom von Licht über die alte Einrichtung, die in düsterer Feierlichkeit glänzte.

»Vornehm, sehr vornehm!« meinte Gampesch anerkennend. »War heute in Senkenhagen wegen Saatroggen. Schönes Schloß . . . Die Einrichtung kostbar wie bei einem Börsenfürsten . . . und dennoch! Der Parvenu guckt überall heraus. Bei euch haben die Sachen eine Geschichte. Und die können sich die Leute so wenig machen wie ein frisch Nobilitierter einen alten Stammbaum.«

»Das ist ein Vorwurf gegen mein modernes Zimmer, du Falscher!« gab sie schmollend zurück. »Zur Strafe wirst du die halbe Stunde bis zur Gesellschaft gerade dort mit mir sitzen.«

»Zur Strafe?« Es sah so mollig, träumerisch aus, Maries Boudoir. Fichtenzapfen knisterten und sprühten im Kamin. Der rote Wiederschein der Flämmchen lief behende über Teppich und Stühle und kletterte zuweilen waghalsig über die blinkenden 89 Wandteller bis zur Decke des dämmerigen Zimmers. Das Brautpaar hatte hier gar manche köstliche Schummerstunde in seligem Geplauder verlebt. »Hat dies Zimmer vielleicht keine Geschichte, Mieze? – Die beste und ereignisreichste, die Geschichte unsrer Liebe! Hier sahen wir uns vor zwei Jahren zum erstenmal. Du machtest mir, wahrscheinlich durch die Uniform geblendet, einen Courknicks, weißt du? Und wie haben wir hier manches liebe Mal über Hühner- und Entenzucht, Erdbeerkulturen und so weiter gesprochen, hausbacken, verständig! Und wer merkte uns Heuchlern an, daß in deinem Herzen keine Disziplin war und in meinem Revolte? Bis ich endlich die Räuberin meiner Ruhe auf dem Angorafell hier vor dem Kamin stellte und schüchtern anfragte, ob diese süße, kleine Hand nicht geneigt wäre, den Raub herauszugeben und sich zur Sühne dazu. Wenn dich deine Tante gesehen hätte! Anstatt irgend etwas Unverständliches zu flüstern und fortzurennen, sagtest du leidenschaftlich ›ja‹ und sträubtest dich gar nicht gegen meinen Kuß.«

Marie ließ sich gern an diesen seligen Augenblick erinnern, der so frisch, so leuchtend klar vor ihrer jungen Seele stand. Lag wirklich schon ein ganzes Jahr dazwischen? Ein kurzes, glückliches Jahr voll verliebter Thorheiten! Und wie sorgfältig sie ihren Arthur studiert hatte, wie befriedigt sie gewesen, daß sie so wunderbar harmonierten in ihren goldklaren, fertigen Ideen über König und Glauben, Vaterland und Gesellschaft. Die Tante hätte ihre Freude daran gehabt. Nie nach unten sehen, nur nach oben! – Und mit der Zeit war noch etwas andres in ihr groß geworden: das verborgene Herrschergelüst, welches nun einmal in jedem klugen Weibe ruht. 90 Sie war verliebt wie er. Aber mit ihrem feinen Fraueninstinkte erkannte sie darin voll heimlicher Wonne die Achillesferse des Mannes. Es war so ein angenehm prickelndes Gefühl, die Schwächere zu sein und doch klug zu herrschen. Auch jetzt empfand sie dies, wie sie auf dem Angorafell stand, das Köpfchen leicht an seine Schulter gelehnt, träumerisch unter der halbgesenkten Wimper in die hüpfenden Flammen blickend, während er zärtlich die Lippen auf ihr kleines Ohr drückte. Sie sah so süß, so hingebend aus in der vielleicht etwas koketten Pose, und der Verliebte ahnte schwerlich, daß das feingliedrige Grafenkind in dem mattgelben, bis oben geschlossenen Spitzenkleide, auf dem am Halse als einziger Schmuck ein großer Rubin blutrot funkelte, ernsthaft darüber nachdachte, wie sie es wohl anfangen müsse, diesem Kuß für immer den kraftraubenden Zauber zu verschaffen.

»Warum gehst du eigentlich nie ausgeschnitten?« flüsterte er verliebt.

»Mein Hals ist nicht hübsch genug, um ihn aller Welt zu präsentieren,« gab sie ehrlich zurück.

»Und doch weiß ich bestimmt, daß dieser Hals der hübscheste auf der ganzen Welt ist.« Er küßte ihr wie zur Beteuerung den feinen Nacken. »Apropos, weißt du das Neueste, Schatz?«

»Und?«

»Doerstedt, mein unglücklicher Rivale um deine Gunst, kann das Birschen auf Edelwild nicht lassen; augenblicklich sogar auf verbotenen Jagdgründen: Signora Gellmann!«

»Wenn's den beiden Spaß macht! Ich habe dir gleich gesagt, wes Geistes Kind sie ist. Edelwild? Bah! . . . Hat er wirklich Besuch dort gemacht?«

91 »Wo wird er! Bei Gütern, die nur einen Büchsenschuß auseinanderliegen, und einem zusammenhängenden Walde mit famosem Fahrweg macht sich das auch anders. Er bewegt jetzt seine Schinder täglich selber im Winter! Neulich ist er ganz zufällig auf Gellmannschen Privatweg abgeirrt, trifft sie auch allein, seelenvergnügt im Schnee watend. ›Pardon, Pardon, Gnädigste! . . . v. Doerstedt.‹ Er hält den veralteten Gardeflüsterton noch immer für das Einzigwahre. ›Mein Schlitten ganz zur Disposition gnädigster Frau. Darf ich hineinheben? Unglaublicher Weg für so schöne Füße!‹ Und das hübsche, dumme Ding errötet anmutig, läßt sich richtig in den Schlitten heben. Das Weitere? – Schwamm drüber! Jetzt fährt Gellmann täglich nach der Stadt und betrinkt sich bei Sauer in Schnaps, und Nana – dein Vetter Natzfeld nennt sie so – irrt derweilen einsam im Walde umher. Einsam? Fassen läßt sich das Pärchen nämlich nicht, obgleich die Gutsherrschaften in der Runde wie die Schießhunde aufpassen. Der Doerstedt ist doch zu durchtrieben! Bei der ganzen Geschichte riskiert er nichts. Wenn ihn Gellmann fordert, darf er ihm nicht einmal Satisfaktion geben.«

»Pfui!« stieß sie entrüstet hervor. »Man müßte dem Gellmann einen Wink geben.«

»Das hieße ins Wespennest stechen.«

»Gewissenspflicht! Wenn niemand den Mut hat, – ich will es selbst thun!«

»Du regst dich unnötig auf, gestrenge Sittenrichterin,« sagte er schmeichelnd. »Der Freund ist da!«

»Du etwa?«

»Um Gottes willen! Loja hat dort vorgestern Besuch gemacht. Mir ist das äußerst peinlich! So 92 ziemlich das Unglückseligste, was er ausessen konnte. Verkehrt nur bei Kauffmann in Dennhöfen und bei Gellmann – eigentlich ein Skandal! . . . Aber dem raten! . . . Er muß eben so verbraucht werden.«

»Das muß er nicht!« Die Abneigung machte sie blind. »Wer mit Ehrlosen verkehrt, hat selber nicht viel Ehre mehr!«

»Das ist viel zu weit gegangen! – Vielleicht birscht er auch?«

»Darauf möchte ich schwören! Ich habe an jenem berühmten Schneesturmabend das Bild dieser Frau Gellmann im blumenbekränzten Rahmen auf seinem Tische liegen sehen. Ich irre mich nicht! Und nun will ich dir meinen Verdacht sagen: Ueber die letzten zehn Jahre ist, wie du selbst sagst, aus diesem Menschen nichts herauszukriegen. Vielleicht ist die ganze Javageschichte ein Märchen, seine Schneepassion eine Lüge – alles darauf berechnet, seinen Aufenthalt hier möglichst unauffällig erscheinen zu lassen. Wenn sich die beiden nun lange gekannt hätten, geliebt! – solcher Person traue ich gerade den perversen Geschmack zu –, sich aber aus irgend welchen Gründen nicht heiraten . . . und auf einmal findet sich der Geliebte wieder ein, der noch dazu Arzt ist . . . die Geschichte ist zu empörend, um sie auszudenken.«

»Du kombinierst wie ein Kriminalist; doch wie diese zuweilen auch – falsch. Lojasche Sucht nach Originalität, das ist der Schlüssel. An ihre Ehrenhaftigkeit kann ihnen keiner 'ran! Doch den Leuten so recht zu zeigen: die Gesellschaft macht nicht mich, sondern ich die Gesellschaft! Und wenn ich ausschließlich mit Zuchthäuslern verkehren würde, ich 93 bleibe doch immer der untadlige Freiherr v. Loja aus dem Hause Dessenheim – das ist Familienverrücktheit. – Bei dem Bilde mag dich eine flüchtige Aehnlichkeit genarrt haben. Deine Abneigung gegen beide hinzugerechnet. Der Haß sieht, was er sehen will! Deine Gellmann ist so alt wie du, und vor mehr als zehn Jahren hatte Loja mit einem Mädchen etwas vor von allerdings lächerlicher Aehnlichkeit mit ihr. Es war eine schnöde Sache! Von wirklicher Zuneigung zu ihr keine Spur . . . Und glaubst du im Ernst, daß der Mann gerade ihr Bild durch alle Weltteile als köstliche Erinnerung schleppen würde? Denn nur ihr Bild könnte es gewesen sein.«

»Und doch war es die Gellmann!« Starrsinnig verschmähte sie jede Logik.

»Da kommen schon die ersten!« rief Gampesch aufhorchend.

*

Und jetzt wurde sie ganz von ihren Repräsentantinnenpflichten in Anspruch genommen, welche die kleine Vollblutaristokratin sehr ernst nahm.

Die Tante hatte Wort gehalten, lag anscheinend schwer krank auf der Chaiselongue in ihrem Giebelzimmer und schikanierte Nichte und Dienstboten durch fortwährendes Klingeln und die weinerliche Anfrage, ob der Doktor v. Loja denn noch nicht da sei.

»Ich werde ihn schicken, wenn er kommt!« war die kurze Antwort.

Comtesse Marie auch gerade heute diesen Streich zu spielen, heute, wo Stadt und Land sich beeilten, dem Grafen zum sechzigsten Geburtstag die schuldige Reverenz zu machen. Die Bürgerlichen haßten insgeheim den hochmütigen Junker, was sie aber nicht 94 hinderte, mit der Pünktlichkeit der Könige zu erscheinen! Die Comtesse verstand ihre Sache.

Sie bog sich anmutig unter der überschwenglichen ostpreußischen Liebenswürdigkeit, alle mit der gleichen Höflichkeitsmünze zahlend. Und doch markierten sich auch hier für den Feinfühligen die Unterschiede sehr scharf. Es war etwas ganz andres, wenn sie der schönen, falschen Schwester Doerstedts den Handschuh drückte und der alten Baronin Walen mit mädchenhafter Bescheidenheit die Hand küßte, oder wenn sie dem steifen Neugeadelten lächelnd sein ersehntes »von« gönnte, blank und traditionslos wie ein eben aus dem Prägstock gekommener Nickel – etwas andres, wenn sie dem alten Kauffmann, der ihr besonderer Liebling war, rasch die hübsche Hand entzog: »Sie wollten wieder küssen! Das ist nichts unter alten Freunden!« oder wenn sie ein paar eifrige Hausfrauen begrüßte: »Das Kirschenrezept war vorzüglich. Vielen Dank!« und sich dann rasch umdrehte, um diesen schrecklichen wirtschaftlichen Belehrungen zu entgehen, die sie am liebsten sofort noch in Hut und Schleier begonnen hätten. Es war die gute Schule der Tante, mit einem Wort, einem Lächeln alles und zugleich nichts zu geben.

»Die kleine Schlange versteht's!« dachte Gampesch, der als Bräutigam halb und halb die Honneurs mitmachte.

»Sie könnte natürlicher sein!« tadelte innerlich der Graf, der mit steifer Höflichkeit alle seine Gäste über einen Kamm schor.

Eine Weile stand die Gesellschaft in der Comtesse Boudoir herum, sich in nichtssagenden Höflichkeiten überbietend. Dann trollten sich die Herren truppweise ins Rauchzimmer, die Frauen ordneten sich 95 um den Tisch zu einem ernsthaften Dienstbotengespräch, und die jungen Damen flüchteten in das Verandazimmer, um rasch noch vor dem Tanz einige Klatschgeschichten und Anekdoten auszutauschen. Zu ihnen gesellte sich auch die Comtesse. Sie hatte nur sehr vorübergehend Mädchenfreundschaften kultiviert, aber seit sie verlobt war, schien ihr die Sonne des Glückes wärmer zu strahlen inmitten dieses heimlichen Neides.

»Wann ist die Hochzeit? –Wohin reisen Sie?«

Die langen, mageren Töchter des bürgerlichen Landrats umringten sie voll vertraulicher Neugier.

»Weiß ich's? Papa sagt: ›Ich will das Fohlen nicht eher herausgeben, als bis es ganz volljährig ist.‹«

Anna v. Doerstedt tippte der kleinen Gorah auf den Arm. »Sieh doch nur die Nackthalshühner!« Der boshafte Mädchenwitz hatte die Landratstöchter so getauft, weil sie urplötzlich erschrecklich lange Hälse aus erschrecklich knochigen Körpern riesenlang herausrecken konnten.

»Und die Ausstattung? In Berlin oder Königsberg? – Doch wohl Berlin. Sie Glückliche!« Die kleine Bürgerliche, deren weißem Kleide man die mittelmäßige Hausschneiderin ansah, hatte mit ihrer ungesellschaftlichen Ehrlichkeit die allgemeine Stimmung sehr richtig ausgesprochen.

»Verlobt? Ich möchte es gar nicht sein!« meinte spitz die kleine v. Gorah, ein semmelblondes Wesen mit einer jäh hervorspringenden Hüfte. Sie hatte im Frühjahr reiten gelernt und im Winter die Rangliste studiert. Wenn diese Gegenstände nicht genügend traktiert wurden, ward sie leicht unangenehm. Doch der Comtesse klang das: »Sie Glückliche!« noch immer in den Ohren. Ihr war es, als wenn sie es alle gesagt hätten; die Aelteren voll Bitterkeit, 96 die Armen, Häßlichen voll schmerzlicher Entsagung, die Jungen, Hübschen – wie eigentümlich sich auf einmal der kindliche Ausdruck manchen Taubenauges bis zur Häßlichkeit verschärft hatte! – mit dem halben Neid und der ganzen Hoffnung der knospenden Jugend: »Ich werde eine noch bessere Partie machen!«

»Die Wäsche läßt du doch mit der Grafenkrone sticken?« fragte so beiläufig die Doerstedt.

»Aber gewiß! Jetzt und später auch.« O, sie verstand die kleine Bosheit sehr gut, auch das gewisse Aufleuchten in einzelnen Gesichtern. Ein richtiger Nadelstich! Man gönnte ihr das Herabsteigen zur Frau v. Gampesch von Herzen. Aber sie liebte! Die neunzackige Krone ist doch nicht das Herz. Sie mußte lachen.

»Was ist das übrigens für ein Freiherr v. Loja?« hob die Doerstedt wieder an.

»Doktor, ein Bekannter meines Bräutigams, das heißt, als sie noch sehr jung waren,« beeilte sie sich hinzuzufügen. Ihr, deren gesellschaftlicher Horizont über den Kavallerie-Offizier und den adligen Regierungsreferendar nicht hinausging, war diese »Freundschaft« peinlich, obgleich Arthur sie jetzt viel weniger entschieden betonte. Zugleich lag ihr schon in der Frage eine gewisse Genugthuung. Dieser geringschätzige Ton und dann das lächelnde »So, so!«, das dem »Freunde« so bestimmt seine soziale Position anwies. Es berührte sie angenehm, daß die andern sofort taktvoll den »Baron« fallen ließen und nur den simpeln »Doktor« beibehielten.

»Ist er reich – arm? Ich habe ihn neulich in der Stadt gesehen. Er sieht nicht übel aus und soll bei der Unterhaltung sehr gewinnen.«

97 Es waren nur die Nackthalshühner, die sich heiratslustig bei dem Thema engagierten, und einige welke Schönheiten, welche früher die ortsüblichen Männerhetzen tollkühn mitgeritten waren, jetzt aber nur noch lauernd auf dem Anstand lagen. – Da ist wieder ein Wild! Die Augen wurden blank, die Wangen röteten sich, und auf ein paar blassen Lippen erschien das öde Cirkuslächeln. Wer er auch war – ein Mann! Und im Augenblick schon kreuzten sich lebhafte Blicke im kritischen Wägen der Vorzüge. Ob er wohl meinem Teint den Vorzug geben wird oder ihrem vollen Halse? Sie pudert ihn tüchtig! Oder vielleicht der albernen Kindlichkeit von der da? Nach fünfzehn Ballwintern noch die Naive spielen! – Sie kannten, was an ihnen jung geblieben war, sehr genau.

Der Diener kam und meldete, daß der Klavierspieler aus Kaiserberg da sei.

»Also tanzen? Wie reizend! Bei Ihnen, Comtesse, amüsiert man sich doch immer am besten!« Das älteste Nackthalshuhn faßte die kleine Gorah um die Taille. Anmutige Fußspitzen wippten schon unbewußt im Mazurkatakte. Die Figuren wurden geschmeidiger. Die kleine Gorah trällerte das Walzerlied. Ueber Neid und Rivalität triumphierte mit blitzenden Augen die frische Jugend.

Der alte Kauffmann schlich herein. Der graue Sünder machte eine verzweifelte Miene.

»Der Klavierspieler kommt nicht! Es ist zu traurig!«

»Doch, Sie Lügner!« Die schöne Doerstedt schlug nach ihm lachend mit dem Handschuh.

»Nehmen Sie lieber das Patschhändchen, gnädiges Fräulein, das ist noch weicher!« bat der nie Verlegene, näher kommend. Er sah heute zum Lachen 98 ehrwürdig aus in schwarzem Rock und Handschuhen; durch das widerspenstige Haar lief ein fein-züchtiger Scheitel. Ein loser Spaßvogel, nach Bedürfnis widerhaarig oder geschmeidig, hatte sich der kleine Mann geschickt durch das ostpreußische Inspektorenleben durchgeteckelt. Man fürchtete seine »verhauene Schnauze«, der man die Gutmütigkeit doch anmerkte. Daß er auch jetzt noch eine jugendliche Passion für hübsche Jungfern und Spickaal besaß, konstatierten streng denkende Mütter stirnrunzelnd.

Die Comtesse überließ das Feld dem in Wortplänkeleien Bewährten.

*

Im Herrenzimmer ging es indessen sehr geräuschvoll zu.

»Zwei und ein halbes Fuder pro Morgen.«

»Gar nichts! Vier!«

»Fünf!«

Sie überboten sich wie bei einer Auktion. Das breite, gemütliche Ostpreußisch hallte durch die ganze Zimmerflucht. Dazwischen paffte man vergnüglich, trank mit Behagen Grog aus den altertümlichen, geschliffenen Gläsern. Es war eine gemischte Gesellschaft, die sich um zwei Tische gruppiert hatte. Die Alten beim Grafen, die Jungen beim Oberst v. Lette.

»Danach bezahlen Sie alle noch viel zu wenig Steuern, meine Herren!«

»Zu . . . zu wenig?« grollte es zurück. Viele Augen hefteten sich mit einem komischen Ausdruck des Erstaunens auf den Sprecher, der ein wenig abseits seinen kleinen, feinen Aristokratenkörper in einem Schaukelstuhl nachlässig-elegant wiegte. Es war Hasso v. Natzfeld, ein weitläufiger Vetter der Wilneins – in Gestalt und Gesicht ganz der 99 fremdländische Natzfeldsche Typus, die Comtesse ins Männliche übersetzt. Doch sein dunkles Auge hatte einen auffallend kalten Glanz; um die blassen Lippen lag oft der eisige Zug der Verachtung. Unverheiratet, reich, war der kaum Dreißigjährige der angebetete Götze töchterreicher Mütter. Warm wurde er nie. Er galt als der starrste Reaktionär in weitem Kreise.

Meinte er das mit den Steuern ernst, oder sollte es nur ein Hieb gegen die Renommisten sein? Gleichviel! Bei dem Gedanken an Abgaben erhitzten sich augenblicklich die Gemüter. Der Vater von Frau Domat, ein homo novus, entwickelte sofort ein ganzes Programm. Wo es Junkerinteressen zu verteidigen gab, wurde dieser Enkel eines Kossäten junkerlicher wie der tollste Junker.

»Freizügigkeit, Industrie, Freihandel!« Er hatte seine brutale Bauernfaust erhoben wie zur Abwehr gegen diese drei Dolche, welche auf das Herz des Großgrundbesitzes sich zückten. »Der neue Kurs? Der Teufel hole den neuen Kurs! Silberwährung, ein andres Kreditsystem für den Landmann, Zunftzwang, das durch, und es ist aus mit der Sozialdemokratie! Statt dessen füttert man die Revolution, präpariert Milchsuppen, welche die blutdürstige Bestie milder stimmen sollen. Hunger, Ausnahmegesetze, niedergeknallt, was auch nur in der Tasche die Faust zu ballen wagt!«

Es waren die bekannten Parteiphrasen, die er aus Leitartikeln und Kreistagen aufgelesen.

Hasso v. Natzfelds Blick glitt mit prüfender Langsamkeit über die Gesichter. War sie nicht zum Lachen, diese ganze Gesellschaft? Dieser Roturier mit seinem harten Ostpreußisch, der die Worte nur so zermalmte, wie er am liebsten jeden freien 100 Gedanken mit seiner brutalen, gewaltsamen Beweisführung zermalmt hätte, der berufene Vorkämpfer mittelalterlicher Feudalität?! War er nicht vor dreißig Jahren rot gewesen, rot wie Herr v. Miehler mit dem frisch gemalten Wappenschilde – ein langes, langweiliges Durchschnittsgesicht? Die Ansichten wechseln wie die Handschuhe, darin liegt das Geheimnis des Erfolges. An diese Kämpen reihte sich das bürgerliche Mittelmaß mit seinem überzeugungsvollen Kopfnicken – Domat, ein kleiner, fetter Herr von bescheidenem Wesen, mit großer Vorliebe für Eiscognac und noch größerer Furcht vor seiner jungen Gattin, die er außerdem noch herzlich liebte, weil sie ihn maltraitierte, – ein Regierungsrat aus Kaiserberg, tadellos in der Gesinnung wie im Anzuge, Meister der langsamen, wohlerzogenen Phrase. Dann kamen wieder Besitzer, bis über die Ohren verschuldete – ein im Osten nur allzu häufiger Typus – Leute, die urplötzlich wild in die Debatte griffen, sich hoch emporreckten, prahlten, um ebenso plötzlich bei dem Worte »Johannizinsen« wieder klein zu werden, zwischen ihre breiten Schultern wie zu versinken, als lasteten die Hypotheken ihrer Güter auch auf ihren Köpfen. Aber zwischen diesen, von der Sorge angefressenen Gesichtern mit dem genierten Blick des Schuldners tauchte hie und da auch eine originelle Physiognomie auf: ein altes Hofmarschallsgesicht, faltig, klug, das allem recht zu geben und sich über alle zu belustigen schien; es war der Landrat – und ihm gegenüber, inmitten des Adels, ein Emporkömmling von sehr dunkler Vermögensgeschichte, jetzt großer Herrschaftsbesitzer, dem ein echter Schauspielerkopf, langhaarig, graublaß, mit unstetem Augenausdruck, auf dem mit salopper Eleganz gekleideten Körper saß.

101 »Ein General Kanzler? Was soll uns der? Wir wollen ihn zurückhaben, den Junker, den großen Junker von Friedrichsruh!«

»Das wünschen wir alle. Doch ich fürchte, auch er würde ratlos vor gewissen sozialen Problemen stehen, schleierhaft ihm wie uns,« warf Natzfeld in seiner lässigen Manier dem Vater von Frau Domat ein.

»Sozialistische Probleme?«

»Nein, soziale!«

»Das ist doch dasselbe!«

Der Landrat lächelte fein, und der Regierungsrat sekundierte ihm, die Hand vor dem Gesichte.

»Sie haben vollkommen recht!« Natzfelds Nasenflügel zuckten ironisch. »Ich möchte mir zur Leutefrage noch einen praktischen Vorschlag erlauben. Was hielten Sie von einem freundschaftlichen Abkommen mit Rußland? Jeder aufsässige Kerl von uns wird hinüberspediert, tüchtig durchgeknutet und dann seinem Dienstherrn als reuiger Sünder wieder zur Verfügung gestellt. Ein hübsches Radikalmittel! Drüben ist die Knute das Zauberband, das hundert Millionen zusammenhält.«

»Noch nicht das übelste!« In manchem Auge leuchtete es auf. Die Woge einer großen Revolution hatte die Mehrheit von ihnen erst gehoben. Aber das Gedächtnis der Menschen ist kurz. Und in Gedanken schwangen sie selbst schon die Peitsche, die ihnen beinahe noch auf dem eignen Rücken herumgetanzt wäre.

»Lieber Hasso, nichts von der Knute! Auch nicht im Scherz!« Stirnrunzelnd hatte sich der Graf Wilnein erhoben. »Ich hasse so etwas. Der Knecht, der sie heute noch feige ertragen würde, wäre die 102 letzte Minute auf meinem Hof gewesen. Keine mittelalterlichen Thorheiten! Ich will keine Polackenrücken sehen, die sich krümmen, wenn ich komme, und Fäuste, die sich erst ballen, wenn ich gehe. – Der alte Gott hat jeden an seine Stelle gesetzt, daß er seine Pflicht thue gegen sich und andre. Die Pflicht, meine Herren, die eigne Arbeit! Wir müssen uns unsre Leute selbst zurückerobern. Wer träge auf seinen Gütern sitzt und nur mit Glacéhandschuhen durch die Ställe geht, der verdient, daß die Leute hinter ihm ausspucken: Tagedieb! Morgens der erste auf dem Hof, der letzte im Stall – für den gemeinen Mann guten Schlages ist solch ein Herr die beste Knute. Der Staat kann uns durch Gesetze unterstützen, aber die Hauptsache müssen wir selbst thun. Und ehrlich, meine Herren, haben wir bei den sieben fetten Jahren jemals an die kommenden mageren gedacht? Die Wolle hundert, der Weizen fünf Thaler und die Güter billig – vergangene Zeiten!

»Wir haben auch den Gründerschwindel mitgemacht. Die Getreidepreise fallen, die Güterpreise steigen. Wenn man dabei interessiert ist, sagt man sich natürlich nicht, daß das etwas Ungesundes, Unhaltbares ist. Der Güterschacher und das gute Leben begann nun erst recht. Die fünf Milliarden können ja gar nicht alle werden! Und auf einmal sehen sie sich verwundert beide auf dem ›Proppen‹, beide, die gekauft und verkauft hatten.

»Von dem Augenblick an, wo jedes Gut für jeden von uns nur den jeweiligen Spekulationswert hatte, brachen wir auch mit dem altbewährten Prinzip hier im Osten, daß Boden und Menschen verwachsen müssen, um zu gedeihen. Was uns karg, aber 103 ehrlich jahrhundertelang genährt hatte, war wie fortgeblasen. Wo es unsre Pflicht gewesen wäre, die Leute mehr an uns zu fesseln, das zu stärken, was man heute achselzuckend ein patriarchalisches Verhältnis nennt, machten wir sie erst recht scheu. Der ewig den Besitzer wechselnde Boden wurde ihnen heiß unter den Füßen. Die Tradition hörte auf und das Vertrauen. Jetzt können wir uns unsre Instleute aus dem Westen wieder zusammensuchen. Keine Leute, kein Geld! Große, viel zu teure Güter, mit lächerlichen Anzahlungen gekauft, kein Betriebskapital, nach einer Mißernte selbst alte Herrschaften vor dem Bankerott! Wir müssen zum Juden gehen, um uns das Geld zur Sonnabendauszahlung zu pumpen; manche müssen sogar ihre Leute vertrösten . . . in vierzehn Tagen . . . in einem Monat! um zu guter Letzt mit Saatgetreide vom Speicher die Sache zu begleichen. Trotzdem machen die Sektreisenden bei uns gute Geschäfte! Noblesse oblige. Unsinn! Wer es nicht dazu hat, soll seinem Besuch ein Butterbrot und eine Flasche Braunbier vorsetzen. Wir haben ehrlich mitgeholfen, den Wagen in den Dreck zu schieben, wir müssen auch die ersten sein, welche sich gegen die Speichen stemmen, ihn wieder auf festen Grund zu bekommen. Sparen, ehrlich arbeiten, den Leuten die Hochachtung vor uns aufzwingen – uns wiederfinden als die harte, zähe Junkerart, die Preußens Könige erst eigentlich gemacht hat! Können wir das nicht mehr, haben wir auch keine Existenzberechtigung mehr. Der Staat soll und muß uns helfen, gewiß! Aber von ihm allein das Heil zu erwarten, von ihm geradezu nur Krücken zu verlangen für einen lendenlahmen Stand, dazu bin ich zu stolz.«

Er hatte gut und warm gesprochen. Und der 104 Adel dankte es ihm. Es waren alte, schöne Aristokratengesichter darunter, die sich in der Erinnerung an stolze Geschlechtstraditionen röteten. Sie hatten dem Parvenu vorhin mit beifälligem Mienenspiel zugehört, weil er ihre Interessen vertrat, aber schweigend, geniert durch die unfeine Art, welche sie als Männer der Form abstieß. Der Keulenschlag des Plebejers war ihrem ritterlichen Empfinden unsympathisch. Sie wollten die blanke Waffe. Hier war sie! Und sie sahen es mit Stolz, daß sie einer aus ihren Reihen so scharf und ritterlich schwang. Doch auch die andern mit den breiten, stumpf-hochmütigen Gesichtern, bei denen man sich unwillkürlich fragt: Ist da nicht im Stammbaum oder im Blute gemogelt? dachten an das Wappen auf ihren Kutschenschlägen und vermeinten mit dem vornehmen Mann vornehm mitzuempfinden, während sie nur adlig empfanden.

Der Graf hatte sich an das bessere Gefühl aller gewendet. Aber dem bürgerlichen Element war es auf einmal, als wenn sich zwischen ihm und diesem gräflichen Empfinden die alte feudale Wand aufbaute. Was nutzte es den Ueberrührigen, daß ihre Interessen dieselben waren? Der alte Aristokrat würde sie doch nie als seinesgleichen ansehen. Im Grunde hatte er über sie weggesprochen, an den Adel, an die Tradition appellierend – um die Gemeinschaft mit den Emporgekommenen zurückzuweisen, viel menschlicher, viel moderner wie sie. Ihm das fühlbar zu machen, wagte keiner. Der hochmütige Graubart! . . . Doch mit Genugthuung empfanden sie es, wie rasch die Spannung in den andern Aristokratengesichtern abnahm. Strohfeuer! Innerlich stand der Mann aus der alten Zeit ganz allein. Empfand er es auch, faltete sich darum so 105 schmerzlich seine buschige Braue, weil das Ende des Jahrhunderts und er sich auch hier im tiefen Osten nicht mehr verstanden? Sie wollten es leichter haben, die Herren; es dünkte ihnen praktischer, im raschen Sprunge der Spekulation zu erhaschen, was ehrliche Arbeit erst im langen, entsagungsvollen Kampfe erringen kann.

Eine spitze Offizierstimme meckerte jetzt wichtig: »Um Thron und Altar zu schützen, ist vor allem die Armee nötig.« – Es war Oberst v. Lette. – »Diese, auch im Reserve-Offiziercorps, intakt und von den erhabensten monarchischen Gefühlen durchdrungen zu erhalten, müssen wir uns bemühen. Ich spreche mit besonderer Beziehung auf den ›Fall Gellmann‹. Offiziere, die das Duell verweigern, sind moralisch tot. Und ich halte es für meine besondere Pflicht, in der rigorosesten Weise dahin zu wirken, daß es solchen Burschen überall zum Bewußtsein kommt.«

Der Graf strich langsam seinen Bart und sah ins Leere, während Hasso v. Natzfeld gelangweilt gähnte. Die übrige Gesellschaft war stumm und andächtig wie bei einem Gottesdienst.

»Ich habe zu meinem großen Befremden gehört, lieber Gampesch, daß der Doktor v. Loja gerade in dem Gellmannschen Hause Besuch gemacht hat,« fuhr der Oberst fort. »Ist er vielleicht Sanitätsoffizier im Reserveverhältnis?«

»Nie Soldat gewesen.«

»Ich glaube dessenungeachtet, diesem Herrn und uns einen Dienst zu erweisen, wenn ich ihn ernst darauf aufmerksam mache, wie wenig solch eigenmächtiges Vorgehen den in Preußen üblichen Anschauungen und speziell denen unsrer Gesellschaft entspricht.«

106 »Thun Sie das lieber nicht!« warf der Graf schnell ein. »Wie ich den Freiherrn v. Loja kenne, wird er sich nie eine Vorschrift machen lassen. Ich möchte mich beinahe für eine sehr scharfe Antwort verbürgen.«

»Was meinen Sie, Gampesch?« fragte, etwas stutzig geworden, der Oberst, dessen Unteroffiziersgesicht sich rötete.

Gampesch rückte verlegen lächelnd auf dem Stuhl. »Ganz, wie Herr Oberst wollen! Habe selbst mein möglichstes versucht . . . aber, wenn auch nur ungern, muß ich mich der Ansicht des Grafen Wilnein anschließen.«

»Er bildet sich doch nicht etwa ein, bei der Frau etwas machen zu können?«

»Wer weiß! Uebrigens ist er in Weiberangelegenheiten keineswegs grün! Feines Fesselgelenk sein Tollpunkt . . . und die Gellmann soll ja darin excellieren.« Gampesch ergriff gern die Gelegenheit, den Handel auf die leichte Kavalierseite hinüberzuspielen. »Er hat dem Rittmeister Grafen Drosselstein von den Dragonern vor langen Jahren einmal einen Streich gespielt, den ihm der, glaube ich, heute noch nicht vergeben hat.«

»Losgeschossen!«

Gampesch sah sich vorsichtig um. Eine pikante Geschichte. Die Gesichter waren gespannt. »Also Drosselstein war ganz junger Offizier und hatte sich, weiß Gott, wo! ein feuchtes Weib aufgegabelt . . . hatte die sogenannten ›besseren Tage‹ gesehen . . . schleierhafte Vergangenheit . . . sprach tadellos richtig . . . vollkommene Manieren wie 'ne Dame. Ueberhaupt schnittiges Ding! Ich sage Ihnen, der Frau Gellmann hier wie aus den Augen geschnitten, nur 107 eleganter, geschmeidiger, mit so 'nem internationalen Zug um die Schmollwinkel der reizenden Lippen, der die jüngeren Kameraden ganz wild machte. Wie 'ne Meute war das immer hinter den beiden her; aber abjagen – war nicht! Das Pärchen war von einer Verliebtheit, geradezu blödsinnig! Hatten sich ein reizend-molliges Nest in der Jägerstraße eingerichtet, und Drosselstein schlüpfte in den Bau, so oft er konnte, nahm uns sogar mit. ›Ihr Neidhammels mit den trockenen Lippen und kribbeligen Füßen macht mir ja einen diebischen Scherz! Und wenn ihr eine Million bietet, ihr Mund küßt nur mich, mich allein!‹

»Das ging so 'ne gute Weile. Wir hatten die Befürchtung, die Sache würde vielleicht mit dem schlichten Abschied und einer Mesalliance sondergleichen enden. Denn war es nun äußerste Gerissenheit oder ein Rest von besserem Gefühl, die bildhübsche Spitzbübin versuchte nicht einmal, ihn mit Toiletten oder Brillanten zu ruinieren. Sie hätte es so leicht gehabt! . . . ›Ich liebe ihn!‹ – Bah! Als wenn bei der Sorte die Liebe nicht ihre ganz bestimmten Grenzen hätte! Eine anständige Rente oder Gräfin Drosselstein. – Und bei Gott, sie hätte den guten Jungen so weit 'runterbekommen, wenn nicht . . .

»Wir saßen nämlich eines Abends bei Borchardt, lauter junge, leichtsinnige Leutnants, Loja, der Intimus meines Bruders, einziger Zivilist. Eine Bowle hatten wir bereits intus, natürlich das Teufelszeug: halb Sekt, halb Porter. Drosselstein legt wieder von seiner Kleinen los. ›Eine Haut, ein Hals, eine Fesselung, bequem mit Daumen und Zeigefinger zu umspannen! . . . Dazu ein Weib, mit 108 der man reden kann über alles, was einen tagsüber drückt, quält und auch wieder freut – nicht wie eure ewigen. »Dämchen« mit dem öden Geschwätz, wo sich beide Teile angähnen, wenn der Kasinoklatsch abgehaspelt und die Albernheiten nicht mehr albern genug sind. Dazu hat sie Herz, ein warmes, feinfühliges Frauenherz! . . . Ihr einziger Fehler, daß ich hinter ihre Vergangenheit durchaus nicht kommen kann . . .‹

»›Wird wohl auch danach sein!‹ ruft maliziös mein Bruder. ›Nichts für ungut, Drosselstein! – Sie werden doch mal als der Genasführte aus der Affaire hervorgehen.‹

»Da wurde er aber wild. ›Genasführter – ich? Sie könnte mich also eines Tages betrügen? Sie verstehen sich nur auf Ihre Weibersorten. Ich aber sage Ihnen: wie der Kerl, so 's Frauenzimmer! . . . Aber ich will Ihnen noch etwas sagen – es gilt auch für Sie, meine Herren – wer sie mir abspenstig macht, dem will ich zehn Jahre meiner Revenuen verpfänden; ich möchte Portepee und Kopf hinzufügen, so sicher bin ich meiner Sache!‹

»Es ist mir noch alles wie heute. Wir lachten unmäßig. Loja, der gegen seine Gewohnheit sehr wenig getrunken hatte, saß eine Weile ganz still und ernst. ›Und wie viel Zeit geben Sie, Graf?‹ fragt er leise.

»Natürlich ein Heidenradau. ›Sieh doch nur einer den Zivilisten! – Ziehen Sie wenigstens den Kopf zurück, Drosselstein!‹ höhnt mein Bruder. ›Hoch das corpus juris! – Reugeld, Drosselstein!‹ Wer konnte im Ernst glauben, daß dem bildhübschen Dragonerleutnant, dem alle Mädels nachgafften, in Loja ein Konkurrent entstehen könne – in Loja, 109 der uns allen nur als toller Leichtfuß und häßlicher Kerl bekannt war.

»Drosselstein, dem die Proposition äußerst komisch vorkam, meint noch gutmütig: ›Wozu Zeit und Mühe verschwenden, Loja?‹

»›Ich fragte nach dem Termin, Herr Graf,‹ giebt Loja förmlich zurück.

»›Ernstlich? Mir recht! In vier Wochen um dieselbe Stunde – wir haben jetzt ein Uhr – müssen Sie am Ziel sein.‹

».Um wie viel geht's?‹

»›Wir wollen's billig machen. Dieselbe Bowle, dieselben Herren! Die Hauptsache ist mir ja doch das Weib. Der Verlierer muß das Resultat selbst verkündigen.‹

»›Keine andern Bedingungen?‹

»›Keine.‹

»So goldklar der Ausgang auch schien, wir hatten wohl alle in dem Augenblick dasselbe ungemütliche Gefühl: eine maßlose Frivolitat gewissermaßen mitverschuldet zu haben. Beim Nachhausegehen meinte mein Bruder nachdenklich: ›Du – Loja ist untaxierbar. Und wenn er ihr die Ehe versprechen sollte, er macht die Sache!‹ Ich lachte. – Die Zeit vergeht. Wir waren fast täglich zusammen, harmlos, als wenn nichts im Werke wäre. Namentlich Loja hätte auch die feinste Spürnase nicht ansehen können, wie weit er war.

»Wir sitzen wieder vollzählig am bewußten Tage bei Borchardt, die verwettete Bowle vor uns auf dem Tisch. Nur die Wettenden fehlen noch. Die Neugier fraß uns beinahe. Wer war der Sieger? – Da tritt Graf Drosselstein ein, grau wie 'ne Wand, geht stieren Blickes auf die Bowle zu, füllt sich das Glas. ›Der Satan hole alle Weiber! 110 Prosit, meine Herren!‹ Dann stößt er seinen Kelch so hart auf den Tisch, daß der Fuß splittert, und geht ohne einen Ton schnurstracks aus dem Lokal.

»Loja, der Sieger, kam überhaupt nicht. Wir alle waren einfach baff. Wie er es gemacht, Gott weiß es. – Drosselstein ging die Sache so nahe, daß er sich à la suite stellen ließ und auf Reisen ging.«

*

Die Zuhörer sahen sich schweigend an. Der Ausgang dünkte ihnen zu wenig ehrenvoll für die Uniform.

Natzfeld sagte mit leichtem Spott: »Fürchten Sie den Konkurrenten nicht, Doerstedt?«

Der schlug selbstgefällig seine langen Beine übereinander und lächelte arrogant, während Natzfeld das leere, hübsche Flachsköpfchen mit beleidigender Geringschätzung betrachtete.

»Na, na, Doerstedt, Sie haben da doch nicht etwas angebandelt?« warnte der Oberst im wohlwollenden Ton des älteren Kameraden.

»Behüte, Herr Oberst, behüte!« gab er mit einem Augenblinzeln zurück, das eigentlich alles verriet. »Taxiere übrigens, Herr v. Gampesch, daß das Fiasko vorhin am hellblauen Rock gelegen haben muß. Wir Kürassiere würden uns nicht so hinters Licht führen lassen wie der edle Graf Drosselstein.«

»Meinen Sie wirklich?« warf Natzfeld ein. »Ich glaube viel eher, daß dieser Loja etwas in die Wagschale zu werfen hatte, womit wir beide nicht aufwarten können: nämlich eine Persönlichkeit.«

»Häßliche Geschichte! . . . Häßliche Geschichte!« rief der Graf mit einer Geste des Widerwillens. »Aber, meiner Ansicht nach, ist schuldig nur der 111 eine, der so frivol, was er lieb hat, aufs Spiel setzt.«

»Der Oberst lachte kurz und trocken. »Dolle Sache!« Und gehorsam meckerte ihm die kriegerische Jugend in demselben Tonfall nach. Die Art des alten, verknöcherten Militärs stand ihren frischen Gesichtern schlecht. Die Mehrzahl von ihnen waren junge Besitzer oder Besitzerssöhne, alle Reserve-Offiziere und bis zur Lächerlichkeit bereit, ihrem Kommandeur zu zeigen, daß ihr eigner bürgerlicher Beruf ganz in dem militärischen aufgegangen sei. Steif, reserviert, langweilig mit ihrer durch die »Ernennung« patentierten Ehre, schienen sie auch im Taillenrock des Zivilisten wie eingeschnürt in die Uniform. Der Graf liebte die Sorte gar nicht. Ihm imponierten die mühsam blasierten Leutnantsphysiognomien seiner jungen Standesgenossen so wenig wie ihre Schnabelschuhe und die durchgezogenen Scheitel. Derber und etwas weniger geleckt hätte er sie lieber gehabt. Und mit heimlichem Zweifel fragte er sich, ob dieser junge Nachwuchs da auch fähig sei, die wahre Feudalität zu begreifen und zu erhalten. Er dünkte ihm greisenhaft und wenig wetterhart.

*

Im Eßzimmer nebenan beaufsichtigte Comtesse Marie das Decken der Tafel. Sie hatte mit neugierigem Ohr die ganze pikante Geschichte erlauscht und war wenig erbaut davon. Wenn der Sieger in dem unvornehmen Kampfe wenigstens den Schnürrock der Husaren getragen hätte! Dafür Zivilist, Doktor, und noch dazu der da! Sie vermutete stark, daß Arthur die Gesellschaft ein wenig mystifiziert habe.

Aus dem Tanzsaal klangen die einleitenden Läufe eines Straußschen Walzers. Die Herren 112 nebenan rückten mit den Stühlen. »Na, immer feste gewalzt!« kommandierte der Oberst. Die Comtesse schlüpfte schnell noch einmal zu den verheirateten Damen, teils aus Pflichtgefühl, teils aus Vergnügen. Dem verwöhnten Kinde der Gegend machte es keinen tiefen Eindruck, daß selbst alte Damen sie beknicksten und becourten. Ihr behagte vor allem die verheiratete Atmosphäre, das gewisse Moralparfüm, welches den vertraulichen Gesprächen der jungen Mädchen über die Beziehungen von Inspektoren zu Mamsells so sehr fehlte. Hier saß man auf einer höheren Warte, kritisierte sittlich ernst, brach den Stab und vergaß dabei doch nicht all die hübschen praktischen Konsequenzen dieser ländlichen Lasterhaftigkeit zu ziehen. Die Comtesse kam sich dabei ganz verheiratet vor und glaubte mitzuempfinden – ernst, streng wie Frau Domat, die Sinnlichkeit über alle Maßen haßte. Und dann kamen die lieben Nächsten an die Reihe. So im breiten Strome des Klatsches eine Weile mitzuschwimmen, welche Lust! Die wandelnde Skandalchronik der Gegend, eine bürgerliche Besitzersfrau mit sehr schwarzen Augen und sehr weißen Zähnen, präsidierte dicht neben der alten Walen auf dem Sofa, auf welchen Ehrenplatz man sie nicht aus Standesrücksichten, sondern aus der gemeinen Angst, ihr unter die Finger zu geraten, plaziert hatte. Sie war keine gewöhnliche Klatschschwester, die brave Frau Sondeck. Und wenn sie jemand die Ehre abschnitt, so that sie das schnell, energisch und ohne Sentimentalität. Die gemütlichen Schnörkel des gemeinen Klatsches waren ihr zuwider. Sie schlachtete das Opfer und warf die dampfenden Stücke großmütig den andern hin. Eine Weile war der Comtesse das sehr interessant. An den 113 Wilneinschen Namen zu rühren, wagte ja doch keiner! Plötzlich fühlte sie sich angewidert, deplaziert neben dieser Verleumderin von Beruf. Und während der feige Klatsch gierig ein Stück gesellschaftlicher Ehre nach dem andern zerfleischte, hörte sie kaum das Gesagte, sah nur, wie gewöhnlich die Gesichter wurden. Die Haubenbänder der alten, halbtauben Baronin Walen flatterten nach allen Seiten, im Eifer des Zuhörens rutschte ihr das falsche Gebiß bis auf den Unterkiefer. Die noch immer schöne Frau v. Doerstedt lächelte mit ihren falschen Augen der Comtesse liebevoll zu: »Wundervolle Torte, liebe Marie! Bei euch gebacken?« – was Marie ganz richtig dahin deutete, daß das Stück klietschig sein müsse.

Und Miehlers, Domats, Gerguhns und so weiter, die Halbadligen, wie sie der Stadtwitz wegen ihrer Exklusivität und der schwärmerischen Verehrung für die »Orschauer Ecke« nannte, waren so eifrig bei dem Geschäft, daß sie für die mißbilligende Augenfalte der Comtesse gar kein Verständnis besaßen; daß Frau Domat, die Hochgebildete, im Strom mitschwamm, that Marie Wilnein ordentlich weh. Dann freute es sie auch wieder, daß einige sich retiré hielten, aus innerer Vornehmheit, aus Opposition, zumeist aber aus gutmütiger Schwäche. Dabei fand Marie, wie so oft im Leben, daß sie im Grunde ihres Herzens auch zu dieser weder besonders geistreichen noch besonders mächtigen Minderheit gehörte. Waren es doch alles Menschen, welche die Stolze für voll sonst nicht anzusehen pflegte. Sie war darum eben im Begriff, einer Frau Schmidt, die ein schrecklich unmodernes, rotseidenes Kleid trug und ebenso häßlich wie gutmütig war, einige Liebenswürdigkeiten zu sagen, als Arthur aus dem Tanzsaal herbeikam.

114 »Aber Mieze, Mieze! Ich suche dich durch alle Zimmer. Du schneidest mich ja ordentlich!«

»Heute gehöre ich der Gesellschaft,« erwiderte sie mit jugendlicher Würde. Leise fügte sie hinzu: »Aber, weiß es Gott, ungern! Wenn wir erst verheiratet sind, streiche ich aus unserm Umgang mindestens die Hälfte.«

»Die Antipathien geben sich. Mit den Wölfen heulen . . .«

»Und wenn ich's nun nicht thue?«

»Selbstverständlich, wie du willst.«

Und während sie an seinem Arm zum Tanze ging, fragte sie sich zweifelnd: »Werde ich auch einen Rückhalt an ihm haben, wenn ich anders sein will wie andre?«

Als sie zum Walzer antraten, warf sie an seiner Schulter vorbei einen Blick ins Damenzimmer. »Tante Friederike! . . . Sie hat sich doch noch entschlossen!«

Die Begegnung zwischen Tante und Nichte war der vorhergegangenen Scene entsprechend recht kühl.

»Du bist recht schnell gesund geworden!« sagte die Comtesse mit einem Blick auf das von der Brennschere noch warme Tüllhäubchen der Tante, die jugendlich-frisch und bezaubernd liebenswürdig wie immer in großer Gesellschaft ihre Begrüßungstour bis zum Brautpaar durchgemacht hatte. Die Comtesse konnte sich die Genugthuung eines spöttischen Lächelns nicht versagen.

»Und wie nett du alles arrangiert hast, Miezchen! . . . Ein Goldkind! Nicht wahr, Frau v. Walen?«

Die alte Dame verstand zwar kein Wort, glaubte aber das liebenswürdige Lächeln der Tante mitlächeln 115 zu müssen. Marie wandte sich kalt ab. Die gesellschaftliche Schauspielerei der Tante war ihr in der Seele verhaßt.

»Die Maske ist ihr eigentliches Gesicht!« sagte sie achselzuckend zu Arthur. »Heißt älter werden weiter nichts als besser lügen lernen?«

»So herbe, Schatz? Alles gleich auf die Goldwage gelegt! . . . Ist mein Gesicht jetzt ernst genug, um vor deinen schönen Augen Gnade zu finden?« fragte er verschmitzt mit seinem gewinnendsten Lächeln. »Aber warte! Jetzt werden wir doch wenigstens eine anmutige Halbmaske aufsetzen müssen, Comtesse Wilnein. Da kommt Loja!«

»Weißt du das ganz gewiß mit der Maske, Arthur? – Du sollst mein wahres Gesicht sehen!«

Kalt und gemessen war die Begrüßung auf beiden Seiten.

»Ihr Befinden, Gräfin?«

»Danke!«

Der Comtesse feiner Kopf bog sich um keine Linie tiefer als unbedingt nötig. Sie reichte ihm zwei Finger der weißen Hand, um ihre Stellung als Dame des Hauses zu markieren. Er berührte sie mit flüchtigem Druck, ohne sie nach östlicher Kavalierssitte zu küssen, und trat mit kurzer Verbeugung ab.

»Ich werde den Schnupfen bekommen!« witzelte Arthur leise. »Weißt du, Mieze, wenn wir wieder einen tropischen Sommer haben sollten, locke ich euch beide in mein Zimmer und mache dann auf der Chaiselongue die billigste und reizvollste Nordpolexpedition von der Welt.«

»Ich hoffe nicht. Das heißt, meinetwegen kann 116 er auch den Sommer hier bleiben . . . sein ganzes Leben . . . und wenn es ihm Spaß macht, meine Jungfer heiraten. Das wäre so sein Niveau!«

»In welchem Falle die Vielbewährte wohl auf dein Hochzeitsgeschenk verzichten müßte.«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Was könnte das ungebildete Ding im Grunde für eine solche Geschmacksverirrung?«

»Dein zweiter Mann wird er also nicht!«

»Du kopierst, wie ihr alle hier, Vetter Hasso. Das steht dir nicht!« Aber gleich fügte sie warm hinzu: »Nach dir giebt es für mich überhaupt keinen Mann, mein geliebter Arthur!«

Der Doktor war in die Flut der schwarzen Gesellschaftsröcke zurückgetaucht – den Herren wegen seiner beharrlichen Schweigsamkeit ein langweiliger, den Damen, weil er nicht tanzte, ein unangenehmer Kumpan. Obgleich der einzige Fremde in der Gesellschaft, fand er wenig Beachtung. Unausgesetzt beobachteten ihn nur zwei scharfe, dunkle Augen. Comtesse Marie, eine leidenschaftliche und elegante Tänzerin, die fast ohne Pause atemlos aus dem Arm eines Kavaliers in den des andern flog, fand dennoch Zeit zu dieser feindseligen Aufmerksamkeit. Was dem Doktor zu dieser zweifelhaften Ehre verhalf, hätte Marie selbst nicht bestimmt zu sagen vermocht. Sie trieben so widerstreitende Empfindungen. Er lebte im Dorfe, liebte den Winter, küßte nicht die Hand, trank, war kalt bis zur Unhöflichkeit, häßlich – und dennoch der Held dieser Weibergeschichte! Wo lag der Zauber dieser Persönlichkeit? Wo konnte er liegen? In dem Geheimnis, das für sie das Leben dieses Klausners umgab, und das jener festgeschlossene Mund 117 schwerlich jemals verraten würde? – Er war eben anders wie sie alle, ein Fremder in Art und Anschauung, der aus Beruf und Erfahrung eine blasse Internationalität gesogen zu haben schien, und aus dessen Kühle es doch manchmal wie ein Glutstrom brach, dessen versengendem Odem sich auszusetzen Tollheit ist. Ihre instinktive Abneigung hatte sich mit jedem Wiedersehen vermehrt, vermehrt auch der feindliche Zauber, dem sie sich unwillig entwand, und der sie doch mit der wachsenden Feindschaft zugleich wachsend stärker umstrickte. ›Doch wem wenig dran gelegen scheinet, ob er reizt und rührt, der beleidigt, der verführt!‹ War er einer von den Hexenmeistern? – Für mich nie! entschied sie stolz.

Als Arthur sie zu einer Polka holte, fragte sie spöttisch: »Ob der schöne Doktor wohl jemals einer Frau gefährlich werden könnte?«

»Jetzt kaum noch. Aber um deine Tante zu citieren – einer gewissen Sorte von Frauen wird er immer gefährlich sein. Ich weiß nun zwar nicht, welche Sorte sie meint. Daß du aber auf keinen Fall dazu gehörst, weiß ich gewiß.«

Der Diener kam. »Gnädige Comtesse, es ist serviert.« Eilig folgte der Graf. »Noch warten, Friedrich! Wo habt ihr den Freiherrn hingesetzt, Mieze?«

»Ich weiß nicht mal genau. Er kam so unhöflich spät, als alles schon bestimmt war. Neben die Gesellschaftsdame von der Walen wird die Tante ihn gesetzt haben. Sie taxiert ihn eben nicht höher.«

»Oder du. Das ist nicht taktvoll. Muß auf alle Fälle rückgängig gemacht werden. Wer führt die kleine Gorah?«

»Doerstedt.«

118 »Laß den mit dem Freiherrn wechseln.«

»Wo denkst du hin! Gisela würde unglücklich sein. Doerstedt macht ihr so auffallend die Cour, daß es sich vielleicht heute noch entscheidet.«

»Ganz gleichgültig. Wenn er sie nimmt, nimmt er sie doch nur des Geldes wegen. Bah, der Gemütsmensch! Außerdem betreibe ich keine Heiratsvermittlungen. Der Freiherr führt die kleine Gorah, hörst du!« Und als die Comtesse auffuhr, das könne man einer Freundin nicht anthun, es sei geradezu beleidigend – drückte ihr der Graf leicht den Arm.

»Trotzdem, weil du mein verständiges Kind bist, und weil ich es mir mein Lebtag zur Pflicht gemacht habe, Edelleute, die sich in prekärer Stellung befinden, mit doppeltem Zartgefühl zu behandeln.«

Comtesse Marie fügte sich mit äußerstem Widerstreben. In gewissen Dingen war der gütige Vater so sonderbar und so konsequent. Die Rangordnung bei der Tafel, wie altfränkisch, wie beleidigend war sie doch immer! Adel und Bürgerliche wie Spreu und Weizen gesondert. Kein Bitten der Tochter, keine Kriegslist der Tante hatte es durchsetzen können, daß die Freundin Domat jemals über Vetter Hasso oder die kleine Gorah rangierte. Das war eine anerkannte und in der Gegend vielbesprochene Thatsache. Nur wenige Bürgerliche hatten den Mut gehabt, sich zurückzuziehen; die andern duckten feige den Nacken vor dem vornehmsten Mann des Kreises. Daher kam wohl die ungemütliche Stimmung zu Anfang aller Wilneinschen Diners – auch heute. Dieses große, im Geschmack der dreißiger Jahre so düster und so dürftig mit Mahagoni möblierte Speisezimmer schien 119 plötzlich etwas von der Feudalität seines Besitzers angenommen zu haben. Viele wohnten prunkvoller oder gemütlicher; bei den meisten aß man besser. Aber trotz der gesuchten Einfachheit des Menüs, die so auffällig mit der unübertrefflichen Güte der Weine kontrastierte, trotz der schmalen, unmodernen Tische, der wenig zahlreichen Dienerschaft aß man den ersten Gang nirgends feierlicher und mit weniger Behagen. Der schwere Damast der Gedecke mit den eingewebten Wappen. der altertümliche Schliff der Gläser, das alte Familiensilber, welches als Münzhumpen, Schale, Tafelaufsatz wenig stilvoll, aber sehr gewichtig die Mitte der Tafeln füllte – waren hier wie eine stumme, historische Opposition gegen den nivellierenden, traditionslosen Luxus der Modernen. Und eine Zeit, die immer mehr scheinen wollte, als sie war, machte die merkwürdige Entdeckung, daß hier die Dinge mehr waren, als sie schienen. Man war eben bei einem großen Herrn zu Gaste, der nicht nötig hatte, sich zu drapieren. Und wenn auch die kluge Frau Domat daheim versuchte, diese vornehme Einfachheit nachzuahmen, so brachte ihr der Versuch nur die peinigende Gewißheit, daß bei ihr etwas fehle, immer fehlen müsse. Als Enkelin eines Häuslers hatte sie ja auch die Pflicht, zu prunken, zu scheinen, behende nach oben zu kriechen und brutal nach unten zu treten. Und da im Wilneinschen Hause alle Dienstboten höflich »Sie« genannt wurden, so war es ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit, die ihrigen »du« zu nennen und sehr hoffärtig zu behandeln.

Der köstliche Château d'Yquem machte die erkälteten Herzen warm. Man war eine Viertelstunde so langweilig gewesen, daß man das dringendste 120 Bedürfnis empfand, kurzweilig, ja geschwätzig zu werden. Landwirtschaft, Avancementsverhältnisse, Kochkunst, Dienstmädchen, Wetter – alles mußte herhalten. An einer Ecke der hufeisenförmigen Tafel saß die adlige Jugend. Natzfeld mit Anna v. Doerstedt – das Brautpaar; gegenüber der Doktor neben der kleinen Gorah, der junge Doerstedt mit der Walenschen Gesellschaftsdame, die sich neben diesem Löwen noch unbehaglich fühlte. Wie gewöhnlich gab Hasso v. Natzfeld den Ton der Unterhaltung an, die dem Wesen des kühlen Spötters entsprechend stark frivol und wenig menschenfreundlich war.

»Der Sohn aus Senkenhagen ist zum Train gekommen. Fatale Waffe!« näselte Doerstedt.

»Da gehört er hin,« erwiderte gleichgültig die Comtesse.

»Die Ehre blüht uns Kavalleristen schon nach der leichtesten Dummheit!« meinte Gampesch entschuldigend.

»O Gott – Train! – Das ist ja beinahe Zivil!« rief die kleine Gorah mit einem beredten Seitenblick auf Loja, der bei einigen Anzapfungen auf Rangliste und Reiten nur schwach reagiert hatte.

»Und nie vor den Feind!«

»Der kriegerische Augenaufschlag war berückend!« rief Natzfeld der etwas entfernt sitzenden Frau Domat zu. »Aber Ihre Vorliebe für den Küraß macht Sie unpraktisch. Wenn ich Soldat wäre und beweibt – vor beidem hat mein Schutzheiliger, der Teufel, mich in Gnaden bewahrt –, ich hätte zum Beispiel meine Hochzeitsreise auf dem blauen Trainwagen gemacht, zu Kriegszeiten natürlich, wie es die Romantik des Ehestands verlangt. Und denken Sie so vor sich in blauender Ferne die Schlacht, die 121 langen Blitze aus den Feuerschlünden, die roten Zickzacklinien der Gewehrsalven und die Menschenmassen wüst ineinander gekeilt, rein versessen aufs Sterben – dazu wie Sphärenmusik der brüllende Donner, das scharfe Geknatter, die wilden Hurras der Stürmenden. Und man selbst in so respektvoller Entfernung, aber dank dem rauchlosen Pulver und einem vortrefflichen Opernglase sehr wohl im stande, diese köstliche Vereinigung von Malerei, Skulptur, Musik auf sich wirken zu lassen – der raffinierteste Kunstgenuß! Und die Geliebte neben mir auf dem Bock schlingt in angenehmster Begeisterung die weißen Arme um meinen Hals und flüstert zärtlich: ›Liebst du mich, mein Held?‹ Worauf ich in felsenfestem Glauben an die Erbswürste unter mir und die Unmöglichkeit des Totgeschossenwerdens vor mir nicht minder zärtlich und voll Feuer erwidere: ›Bis in den Tod, du wunderkühnes Weib!‹«

Comtesse Marie verstand sofort die Pointe, welche sich gegen die Kriegslust der Frau Domat richtete. »Dein Bild ist häßlich, Hasso! Und wenn du uns Frauen damit lächerlich machen willst, die wir nicht vor den Feind können und dennoch die Begeisterung für den ersten Stand im Staate empfinden, so machst du eigentlich noch lächerlicher die Männer, welche diesem Stande nicht angehören dürfen.«

»Und das mir, einem Landsturmmann ohne Waffe! – O Mademoiselle, Sie haben das Herz eines Mannes tödlich getroffen.« Und Gampesch zuzwinkernd: »Mutiges Weib! – Wenn es mit den Talglichtessern da drüben losgehen sollte, so läßt sie sich fraglos bei Reusnitz einen Schnürrock machen – weißt du, Cousinchen, so hübsch eng in der Taille, 122 daß man sich vor dem Feinde drin sehen lassen kann – und einen blitzblanken Schleppsäbel, der zuerst an dem Schuster probiert wird, der die Husarenstiefelchen nicht zierlich genug gemacht hat. Und während du inmitten des Schlachtfeldes auf einem höchsteigenhändig erschlagenen Kosaken selige Stunden verträumst, wird ein unglückseliger Mann, dem die Vorsehung zwar ein Wappen, aber kein Recht, ein Schwert zu führen, verliehen hat, eine Russensuppe bereiten und dieselbe menschenfreundlich mit Strychnin würzen – den Feinden zum Festmahl. Aber das Ende vom Liede? – Ich werde die Suppe selbst aufessen müssen aus Verzweiflung, weil meine kriegerische Cousine keinen Huf über die Grenze läßt und damit meine patriotischen Kochkünste elend zu nichte macht.«

»Armer Hasso! – du warst schon geistreicher,« bedauerte spöttelnd die Comtesse, welche angesichts der zum Lachen verzogenen Gesichter ihrem Vetter den Triumph, sie geärgert zu haben, nicht gönnte.

»Ein Fremder könnte leicht an Ihrer Gesinnung zweifeln, Herr v. Natzfeld!« Frau Domat drohte schelmisch mit dem Finger.

»Könnte er wirklich? – Aber, Gnädigste, Sie wissen, wie es in diesem Herzen aussieht! – Es giebt noch eine Gerechtigkeit auf Erden. Ja, gnädige Frau, wenn ich verstanden, geliebt, geehrt werden will, komme ich hierher in die Heimat, wo ich meine erste Schnepfe geschossen und meinem Hauslehrer die Schienbeine blutrünstig getreten habe. Und wenn in schwülen Pußtanächten unaussprechliches Getier den Schlaflosen peinigt oder die Fieberluft der Dobrudscha mir die Wasserjagd verleidet, gehe ich, wie die fromme Helene, flugs aufs Land – Sie 123 wissen, meine Damen: ›Geh aufs Land, wo fromme Schafe und die guten Lämmer sind!‹ –, um mir die Seele an so viel Geist und Schönheit gesund zu baden.« Natzfeld machte eine chevalereske Handbewegung nach der alten, vertrockneten Frau v. Walen, die nicht allzu fern neben dem Oberst saß und mit dem abwesenden Ausdruck Schwerhöriger stumpfsinnig ins Leere starrte.

»Verfluchter Kerl!« platzte Doerstedt los, während die Baronin, durch die ironische Aufmerksamkeit der Jugend argwöhnisch geworden, aufgeregt fragte: »Was hat er nur wieder gesagt?«

»Er freut sich, Sie so ausgezeichnet konserviert wiederzusehen,« verdolmetschte taktvoll der nähersitzende Gampesch.

»Das finde ich gar nicht nett von dir, alte gebrechliche Leute so lächerlich zu machen,« sagte die Comtesse, die an den frechen Witzeleien heute um so weniger Gefallen fand, als der sehr aufmerksame und schweigsame Loja hier Mithörer war. »Du kommst immer verwahrloster von deinen Jagdreisen zurück. Die Gesellschaft, die dich nur so selten sieht, hat dir eine Sonderstellung eingeräumt, die du außerdem noch mißbrauchst. – Sag, wie würdest du es bei einem andern finden, wenn er, wie du neulich, mitten im Souper aufstünde: ›Tausendmal Verzeihung . . . mein Jäger ist da . . . hat heut abend einen Otter gespürt . . . die Pflicht ruft . . . Adieu!‹?«

»Geradezu unglaublich!«

Gelächter.

»Aber, ich rufe Sie zum Unparteiischen auf, Herr Doktor,« warf Hasso ein, »ist es nicht ein schöner Beweis für die Güte der menschlichen Natur im allgemeinen und die der Dame hier besonders 124 – Fräulein v. Doerstedt, Hand aufs Herz! –, daß dem Sünder verziehen wurde?«

»Für die Güte dieser Dame fraglos,« bejahte artig der Doktor.

»Man hofft immer noch auf Besserung,« erwiderte Anna v. Doerstedt mit einem ermutigenden Blitz ihrer stahlblauen Augen.

»Sie geben mir die Sonne wieder!« sagte Natzfeld mit spöttischer Emphase.

»Probier's mal bei mir!« rief die Comtesse, welche sich für die Stickereigeschichte bei der Doerstedt zu revanchieren wünschte. »Ich gebe dir mein Wort: du kannst Lorschen und Gampeschkeim zeitlebens aus deiner Besuchsliste streichen.«

»Du hast meine Eigenart noch nicht erfaßt, Cousinchen. Die Herrschaften verstehen mich besser. Wie starke Bande müssen den Mann hier an seine Heimatscholle fesseln, daß hier selbst jagdbare Tiere eine so magische Anziehungskraft auf ihn ausüben!«

»Aber die Menschen nicht!«

»Du bringst mich da fälschlich in eine Kategorie mit einem seligen ›Freunde‹, dem Besitzer eines sehr eleganten Café chantant, der sein Vermögen einem Tierasyl mit der Begründung vermachte, daß er die Menschen genau genug gekannt habe, um die Tiere zu lieben. Undankbarer Kerl! Kavalierspassionen hatten ihn doch reich gemacht!«

»Ich verstehe dich nicht,« gab eisig die Comtesse zurück.

»Also wieder nicht recht? – Jedenfalls wollen mir uns nicht zanken. Dort liegen sie sich bereits in den Haaren. Aufgepaßt, meine Herrschaften!«

Die rauhe Stimme des Vaters von Frau Domat klang unangenehm deutlich durch die Tischunterhaltung.

125 »Zum Kuckuck mit dem Industriestaat! Wer liefert das Korn, das Fleisch? – Wir. Wer bezahlt die Steuern? – Wir.«

Halblaut ergänzte Natzfeld: »Wer baut den Fusel? – Wir. Das ist der wichtigste Machtfaktor.«

Jetzt sprach dagegen der Graf. »Das ist alles gut und schön. Aber wie wollen Sie, Herr Gerguhn, dichtbevölkerte Industriegegenden mit einem Schlag in ackerbauende umwandeln? – Friedlich? – Ohne grenzenloses Elend zu schaffen? – Mit einem Akt der Gesetzgebung soziale Entwicklungen einfach zu annullieren, geht doch heutzutage nicht mehr. Oder wollen Sie die Revolution verwegen heraufbeschwören? – Die ungesunde Zentralisation frißt sich schon selbst auf. Sind wir heute gewaltsam, frißt sie uns. Seien wir doch zähe und stumm wie die Scholle, der wir entstammen! – Unsre Zeit kommt!«

»Vielleicht, wenn wir alle verkracht sind!«

»Wer fallen muß, falle! Ich habe mehr Vertrauen als Sie auf uns Bauern. Es gab schlimmere Zeiten. Und das Ostpreußen, das, ausgesogen bis aufs Mark, dennoch im großen Kriege den Mut zur Erhebung so schnell und heldenhaft fand, sollte das seine großen Traditionen vergessen haben?!«

»Das sagen Sie als reicher Mann, Herr Graf! Sie können noch lange aushalten, wenn wir am Bettelstab sind. – Uebrigens ist ein Gut eine Kapitalsanlage wie jede andre. Wenn ich heute zum alten Preise verkaufen könnte, ich ließe Landwirtschaft Landwirtschaft sein.«

»Der Standpunkt mag richtig sein; jedenfalls ist er nicht der meine. Für mich ist mein Grund und Boden mehr wie eine gewöhnliche Kapitalsanlage – er ist mir ein teures, ein heiliges Vermächtnis. Und 126 wenn ich im Herbst über die Felder gehe und den frischen Erdgeruch der umgeworfenen Scholle einatme, so fühle ich mich eins mit meinen Vorfahren, die jahrhundertelang auf diesem Grunde saßen, unentwegt in schlimmen wie in guten Zeiten. Sie wußten, daß aus dem Boden hier die urwüchsige Kraft stamme, und daß sie seinen herben Duft ihr Leben lang einatmen mußten, um gesund zu bleiben an Leib und Seele.«

Wen der Meinungsaustausch interessierte, hatte zugehört. Es waren nicht übermäßig viel, die andern unterhielten sich in gedämpftem Tone weiter. Bei Klatsch und Süßholz überhörten sie jene sonore Stimme gern, die aus einem andern Jahrhundert herüberzuklingen schien. Erst als der Oberst v. Lette das Wort ergriff – sein spitzes, unangenehmes Organ klang bis in die fernste Zimmerecke, und die einzige Uniform heischte Beachtung –, lehnte sich auch die Jugend aufhorchend in die steiflehnigen Stühle zurück.

»Jawohl, Herr Graf, hier müssen wir vom Militär und Zivil zusammenhalten. Das Alte, Unumstößliche – da liegt der Hase im Pfeffer!«

Natzfeld räusperte sich und raunte zu dem Freiherrn hinüber: »Wissen Sie, was für den alten Kommißkopf das Einzige, Unumstößliche ist? Seine eigne Unfehlbarkeit und das Ananasböwlchen, von dem er bereits ein halbes Dutzend Gläser zu viel getrunken hat.« Als aber auch der Dandy die Diversion benutzen wollte, dem errötenden Fräulein v. Gorah eine gepfefferte Schmeichelei einzuflüstern, stieß ihn Natzfeld heimtückisch in die Seite: »Hand an die Hosennaht, Kürassier! Der Herr Oberst spricht,« so daß Doerstedt entsetzt zusammenfuhr und einige Damen kicherten.

127 Den hohen Sprecher ärgerte die kleine Unruhe wie eine kommende Insubordination, und er fuhr mit ungewöhnlicher Schärfe fort: »Wenn die Jugend mehr Disciplin hätte, so würde es bei uns in der Gegend etwas schneidiger hergehen. Ich fühle mich immer – und ich glaube, das Gefühl ist unbedingt richtig – als der Vorgesetzte von allen denjenigen im Rayon des Bezirkskommandos, die jemals in dem bunten Rock gesteckt haben.«

»Lassen Sie uns nur nicht gleich füsilieren, bester Herr Oberst,« bat Hasso heuchlerisch.

Herr v. Lette schüttelte energisch seinen grauen Kopf: »Lieber Freund, das ist eine verwünscht ernste Sache! Wer gedient hat, ist beurlaubt – zur Reserve, zur Landwehr; aber Soldat bleibt er immer. Und wenn wir uns daran nicht im Frieden gewöhnen, dann thun wir's überhaupt nicht! . . . Sie, meine Herren, trifft das natürlich nicht. Der preußische Edelmann, ob Militär oder nicht, hat immer das richtige militärische Gefühl. Das liegt uns im Blut! Aber dann dürfen auch solche Sachen nicht vorkommen . . . daß der Gellmann bei der Visite angenommen worden ist, statt daß man ihm vom Diener hinaussagen ließ: ›Für Sie bin ich überhaupt nicht zu sprechen!‹ Vielleicht ist das bei dem Betreffenden auch nur ein falsch aufgefaßtes gesellschaftliches Anstandsgefühl gewesen. – Jedenfalls, daß man seinen Besuch erwidert, das versteh' ich nicht! . . . Denn der Kerl muß so weit kommen, daß kein Hund ein Stück Brot mehr von ihm nimmt, und daß er im letzten Augenblick sich selbst durch das rehabilitiert, durch das er allein rehabilitiert werden kann – durch die Pistole.«

Es lag eine solche Herzenskälte in dem Schluß, 128 daß der Comtesse graute. Vetter Hasso, der die Angelegenheit weniger ernst nahm, meinte halblaut: »Warum die Umstände? Verwenden wir den Gellmann doch bei der nächsten Parforcejagd als Haupttier . . . Hunde auf die Fährte gesetzt . . . zu Schanden hetzen werden wir den dicken Kerl schon!« Der frivole Vorschlag fand wenig Beifall, am wenigsten bei dem Freiherrn, der mit seinem Eislöffel Schnörkel auf den Krystallteller malte und noch nicht ein einziges Mal aufgesehen hatte. Und gerade auf den schien es Herr v. Lette abgesehen zu haben, denn er sagte unmotiviert höhnisch über die Tafel hinweg: »Das ist wohl nicht ganz nach Ihrem Geschmack, Herr Doktor?«

Loja hob langsam den Kopf, seine Nasenflügel zitterten. Jetzt erst bemerkte die Comtesse, daß er todblaß war – nur die Säbelnarbe glühte. »Da Sie eine Antwort provozieren, Herr Oberst – nein,« antwortete er ruhig.

Herr v. Lette zuckte nervös die Achseln, dann lachte er gezwungen: »Ja, allerdings, mit dem Pulverriechen ist das so 'ne Sache.«

In dem Moment blitzte es so maßlos leidenschaftlich in des Freiherrn Auge auf, daß Marie sich mit einer Art Angst fragte. welch wilder Gefühle dieser kalte Fremde zuzeiten fähig sein müsse. Hochmütig klang es jetzt von Loja zurück: »Ich habe noch nie vor der Waffe gezuckt, Herr Oberst.« Es war leise gesprochen, fast unheimlich leise. Dennoch war's der Comtesse, als wenn das dumpfe Grollen eines nahen, schweren Wetters durchzittere. Sie fühlte etwas wie Sympathie, unfreiwillige Achtung vor dem Manne. Als er fortfuhr, erlosch das Gefühl.

Und doch war die Sache, für die er sprach, gut, 129 wenn sie auch ihr eine verlorene schien. »Vor zehn Jahren habe ich genau so wie Sie alle gedacht, Herr v. Lette – jetzt denke ich genau umgekehrt. Ich stehe damit allein, das weiß ich, doch das ficht mich nicht an. Es macht eben jeder seine Erfahrungen, und jeder macht sie anders . . . Ich erinnere mich eines traurigen Falles, der in Bonn passierte. Es handelte sich um einen Corpsbruder von mir, einen forschen, vornehmen Kerl, der sein Ehrenwort gebrochen hatte.« Er wandte sich zu Gampesch: »Vielleicht läßt dich dein Gedächtnis nicht im Stich, Arthur; er war dein bester Bekannter, als du junger Leutnant warst.«

Gampesch schüttelte in liebenswürdigem Nichterinnern den hübschen Kopf.

»Na, dann also nicht! – Warum er sein Ehrenwort gebrochen? Einer hübschen, ganz wertlosen Larve wegen. Aber sie war ein Weib, und sie war sein Dämon! – Das Ehrengericht hat über ihn gesessen, und er gehörte nicht zu den Menschen, denen man die geladene Pistole hinzulegen braucht. Dennoch begleitete ich ihn abends spät nach Hause, nicht etwa wie ein Beichtvater, der einem Verurteilten die letzten Stunden erleichtern will, sondern als guter Kamerad, halb mitleidig, halb ängstlich, er könne angesichts des Todes doch feige werden. Ich sprach ihm auch Mut ein. ›Mach's kurz, aber thu's bald.‹ Das war so ungefähr meine Weisheit. – Eine Stunde später hatte er geendet. Er that mir nicht leid. Er war ja als ganzer Kerl gestorben. Man denkt so wenig in der Jugend, zumal wenn man einen Standeskodex hat, über den sich eben nicht denken läßt . . . Und ich habe zehn Jahre gebraucht, um zu begreifen, daß ich ein Schuft war, als ich ihn 130 in den Tod gehen ließ . . .« Loja atmete schwer . . . »Ich war in der Zwischenzeit in die Lage gekommen, mich auch etwas mit der eignen Moral zu beschäftigen, denn ich hatte eine Schlechtigkeit begangen, eine Schlechtigkeit, die kein Ehrenkodex der Welt verurteilt. Besser wurde sie dadurch auch nicht! Und da rang sich denn bei mir mühsam die erbärmliche Klarheit durch, daß jeder etwas auf dem Gewissen hat, das ihn ehrlos vor sich selbst macht. Dafür sind wir jung und haben Sinne. – Seit dem erkenne ich nur ein Ehrengericht über mir, und in dem Ehrengericht präsidiere ich selbst!«

Es war so still in dem Saal geworden, daß fast der laute Atemzug dem Ohr wehe that. Die Comtesse sah prüfend die Reihen entlang, keiner wagte die gleichwertige scharfe Erwiderung auch nur im Blick. Es war eben die »gute Gesellschaft«, wie sie überall ist: nicht gut, nicht schlecht, nur ein wenig feige. Sie braucht immer ein Kommandowort, und dann schlägt sie auch den Feind. – Für die hatte die Comtesse nur das dumpfe Gefühl der Empörung: Ueberall gezückte Klingen, viel rostige, stumpfe darunter – vor der einen, die scharf und kühn hervorzuckte, senkten sie alle die eigne Waffe. Die »Zigeunerin« starrte mit brennenden Augen auf den häßlichen Kerl mit dem Mut der Ueberzeugung, der ihr gar nicht mehr häßlich schien. Rann ein Tropfen gleichen Blutes in ihren Adern? Oder erhoben sie sich beide gleich starr, gleich hart über das gesellschaftliche Mittelmaß? – Ihre Gedanken, ihre Gefühle waren nie weltenfremder als jetzt – und dennoch waren sie die einzigen, die sich ganz verstanden.

131 Der Oberst kaute verbissen am Schnurrbart. Als Loja schwieg, machte er eine unwillige Handbewegung: »Bitte, Herr Doktor: jetzt Gellmann.«

Einen Augenblick schien der Freiherr zu zögern, dann sagte er mit halbem Lächeln: »Sie wollen? Tragen Sie auch die Folgen! – Ich dränge niemand meine Gefühle auf . . . Wenn Sie, Herr Oberst, nach Recht und Pflicht Ihre Standesehre wahrten, einen Offizier ausstießen, der sie feige verletzte, so bedarf das für niemand eines Kommentars. Ich bemitleide nicht einmal den Mann. Er trug des Königs Rock und mußte wissen, was er ihm schuldig war. Aber wenn ich Sie recht verstehe, genügt Ihnen dieses moralische Töten nicht. Der Offizier ist tot, nun will die Gesellschaft auch noch den Menschen haben – und das ist Mord!«

Totenstille. Nur ein Räuber am Licht knisterte.

»Ich weiß nicht, wie weit dienstliche Kompetenzen in solchen Fällen gehen,« fuhr er bitter fort. »Doch wie jedes Gesetz für jedes Verbrechen nur eine Strafe kennt, so muß sich auch der Gerichtshof der Standesehre mit einem Urteil begnügen: Infam kassiert! – Was darüber hinaus ist . . . ob der Abgeurteilte sich tötet oder nicht; ob er den Mut hat, mit zusammengebissenen Zähnen weiterzuleben, ob er das Urteil verlacht oder an ihm elend zu Grunde geht . . . das hat mit der Standesehre nichts mehr zu thun. Da beginnt der Mensch, und der ist mir gerade als Arzt heilig.«

Bis hier war ihm die Comtesse gefolgt. Ihre ganze Erziehung, ihre Jugend, ihr blaues Blut bäumten sich gegen diesen Plebejer auf, der die Ehrlosen liebte, weil er vielleicht selbst ehrlos war. Sie 132 suchte einen Trumpf, eine zermalmende Antwort – und nach Frauenart fragte sie nicht viel, ob's die Sache traf oder den Mann.

Da kam er ihr selbst zu Hilfe: »Und das Tragische dabei ist, daß die Gesellschaftsmoral hier nicht einen mordet, sondern zwei. Was kann die Frau dafür, daß man ihn und damit auch sie verachtet! Denn Sie alle verachten sie im Grund Ihres Herzens, diese Unselige, die nichts that, vielleicht nichts weiß – und doch verfemt war von dem Moment, wo sie den Menschen heiratete.«

Die Erinnerung an diese Frau, die weit hübscher war als sie selbst, gab der Comtesse den Ausschlag. Da kam's ja heraus, das rote Plebejerblut, das sich mit dem uralten blauen so schlecht gemischt hatte. Natürlich, die Frau, die mußte er retten! – Die durfte nicht mit leiden . . . denn er dachte vielleicht an die eigne Mutter, die derselben rasselosen Bürgerlichkeit entsprungen war wie Gellmann . . .

»Ja, die geborene Schultz!« Hatte Marie es nur gedacht, hatte sie es wirklich gesagt? – Sie hatte es laut gesagt! Sie sah's an dem verstohlen-höhnischen Augenaufschlag der Doerstedt, an dem feinen Lächeln Gorahs, den flatternden Haubenbändern der alten Walen – sie bemerkte es an der kurzen, schwülen Pause, der urplötzlich eine gezwungene geflissentliche Unterhaltung über ein Nichts folgte. Es war eben das Unmögliche, Unglaubliche geschehen, dessen nur die Wilnein fähig war. Einen Augenblick that's ihr leid. Sie sah Loja von der Seite an. In dem ehernen Gesicht zuckte keine Muskel – er schwieg. Jetzt schwiegen die andern auch wieder. Der Schlag ins Gesicht war dem Fremden schon recht! Man konnte doch nicht mit 133 so einem die Waffen kreuzen, der ehrlos gewesen oder ehrlos geworden war.

Da brach eine scharfe, kühle Stimme das Schweigen – es war die Hassos v. Natzfeld: »Ich habe die Ehre, auf Ihr Wohl zu trinken, Herr Doktor Freiherr v. Loja.«

Was hatte der nun wieder für eine Teufelei vor? 134

 


 


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