Gregor Samarow
Held und Kaiser
Gregor Samarow

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Dreißigstes Kapitel

In tiefer Ruhe und Stille war die Zeit, welche die ganze Welt so mächtig erschüttert hatte, über das Dorf Blechow im hannoverschen Wendlande und sein kleines Pfarrhaus dahingezogen, und doch hatte sich hier ein Kreis zusammengefunden, der an reichem geistigem Leben und an mannigfachen tief ergreifenden Schicksalserinnerungen hinter keinem andern in der großen Welt zurückstand.

Der alte Pastor Berger wartete immer noch unter Beihilfe des Kandidaten seines Amtes, soweit ihm seine schwächer werdende Gesundheit dies gestattete, und fand in dieser Tätigkeit, die ihm heilige Pflicht und innige Freude zugleich war, den liebsten und schönsten Trost über den Verlust seiner Tochter und die Kraft, ruhig und ergeben den kurzen Weg zurückzulegen, der ihn noch von der Wiedervereinigung mit seinen zur ewigen Heimat vorangegangenen Lieben trennte. Weißer wurde sein Haar, tiefer und tiefer neigte sich sein Haupt herab zum Staube, der den irdischen Leib wieder in sich aufnehmen sollte, seine zitternde Hand stützte sich fester auf den Stab, – aber sein Blick richtete sich frei und klar aufwärts, sein Geist stand fest und zuversichtlich auf dem Felsengrund des Glaubens, der seines Denkens und Strebens Fundament gewesen war in guten und bösen Tagen, – seines Lebens Werk war getan, in stillem Kreise hatte er des Segens viel verbreitet, und mit der vertrauensvollen Hoffnung des Kindes war er bereit, vor den Richterstuhl des gerechten und liebevollen Vaters zu treten.

Der Kandidat ging ruhig und gleichmäßig seinen Weg, – er erfüllte alle seine Pflichten in der Gemeinde auf das pünktlichste und sorgfältigste, – die Bauern lobten seinen Eifer, sie hörten andächtig seinen Predigten zu, – aber er blieb dennoch fremd unter ihnen; wo Not und Bekümmernis die Herzen erfaßte, da suchten sie Trost und Rat bei dem alten Herrn, und wenn der Pastor Berger, was in rauher Jahreszeit öfter und öfter vorkam, längere Zeit an das Zimmer gefesselt blieb, so war es jedesmal ein besonderer Festtag für die ganze Gemeinde, wenn er zum erstenmal wieder die Kanzel bestieg, um mit seinen milden und doch so kräftig ernsten Worten das Evangelium zu verkünden und auszulegen.

Der Kandidat war voll Aufmerksamkeit gegen den alten Herrn, – er las ihm vor und unterhielt sich, bescheiden und ehrerbietig die Ansichten seines Oheims anhörend, über alle Gegenstände, welche das Interesse desselben erregten, – nur über die kirchlichen Fragen, welche die neuen Verhältnisse zuweilen in den Vordergrund stellten, wurde zwischen ihnen nicht gesprochen. Der Pastor stand fest und unerschütterlich auf dem Boden der reinen lutherischen Kirche, während der Kandidat sich mit Eifer den Bestrebungen zur Anbahnung der Union angeschlossen hatte. Der alte Herr hatte kein Wort des Tadels darüber geäußert, – in seinem milden Sinn überließ er es gern jedem, in Sachen seiner Überzeugung seinen eigenen Weg zu gehen.

Der Prozeß gegen den Leutnant von Wendenstein war wieder aufgenommen und nach kurzer Verhandlung schon vor der Amnestie, welche König Wilhelm bei dem Ausbruch des Krieges erließ, zu seinen Gunsten entschieden, da er offen sein ganzes Verhalten dargelegt hatte und ihm keine Handlungen gegen die Autorität der Regierung nachgewiesen waren. Er hatte das Gut übernommen, welches sein Vater in der Nähe von Blechow gekauft, um ihm mit Helenen eine Heimat zu schaffen, – seine Schwestern waren verheiratet, und er lebte mit dem Oberamtmann, der immer noch kräftig seinen Kampf mit dem Podagra kämpfte, und mit seiner Mutter, die in stillem Walten noch rüstig des Hauses Leitung führte, auf dem Sitz, der die Stätte eines reichen, blühenden Glücks hatte sein sollen und der ihm jetzt nur noch den Frieden für seine reuig gebeugte Seele bringen konnte. Er hielt sich von allem Verkehr mit seinen Nachbarn, von allen Kreisen, in welchen die politischen Verstimmungen nachklangen, fern und kam nur regelmäßig mindestens einmal in jeder Woche nach Blechow, um Helenens Grab zu besuchen, auf welchem, von schlankem, efeuumranktem Eisengitter umgeben, ein einfacher Marmorstein mit Namen, Geburts-, und Todestag lag.

Bei dem Beginn des Krieges war der Graf Rivero in Blechow erschienen und hatte den Pastor Berger gebeten, ihm seine Tochter Julia anvertrauen zu dürfen, da er selbst seine medizinischen Kenntnisse für die Pflege der Kranken und Verwundeten nutzbar machen wolle. Freudig hatte der alte Pastor die Bitte des Grafen gewährt, und Julia hatte sich in dem Zimmer Helenens eingerichtet, während ihr Vater nach Paris gegangen war und in den französischen Lazaretten und Ambulanzen mit unermüdlicher Aufopferung aller Kräfte Hilfe geleistet hatte.

So war der Herbst und der Winter hingegangen in stiller, ruhiger Einförmigkeit. Julia hatte mit kindlicher Sorgfalt den alten Pastor gepflegt, – selbst von tiefem, schmerzlichem Ernst erfüllt, hatte sie dennoch alles aufgeboten, um ihn zu erheitern und in allen jenen kleinen, fast unmerklichen Aufmerksamkeiten, welche dem Herzen so wohltun, ihm die verlorene Tochter zu ersetzen; – es war eine freundliche, liebe Beschäftigung für den alten Herrn, dem jungen Mädchen, das so ganz anders war wie Helene und ihn doch wieder so oft an sie erinnerte, immer mehr die Kenntnis der deutschen Sprache und Literatur zu öffnen, und wie nichts zwei Menschen mehr zueinander führt und fester verbindet, als geistiges Geben und Empfangen, so knüpfte sich bald zwischen dem Pastor und seiner Schülerin das innige Band treuer und liebevoller Freundschaft, welche den alten Diener des Evangeliums erfrischte und verjüngte und in dem jungen Mädchen die Saiten ihres tiefen Gemüts- und Seelenlebens immer reicher und voller anklingen ließ.

Der Leutnant von Wendenstein trat Fräulein Julia gegenüber ebenfalls aus seiner düstern Verschlossenheit mehr und mehr heraus, – die Pflege von Helenens Grab führte sie zunächst zusammen, – solange die Jahreszeit es erlaubte, fand der junge Mann dasselbe bei seinen Besuchen immer von frischen Blumen umgeben, jedes welke Blatt war sorgsam entfernt, und die zarte, weibliche Sorge schmückte die letzte Ruhestätte der Entschlafenen mit immer neuem, frühlingsfrischem Reiz; – selbst unter dem Frost und Schnee des Winters blieb das Grab stets sauber und rein, und ein dichter Kranz von frischem Immergrün deckte sich über den Stein, als wolle er die Träume der unter demselben Ruhenden gegen Sturm und Wetter schützen. Mit herzlicher Dankbarkeit drückte der Leutnant Juliens Hand, so oft er die Spur ihres Waltens fand, – er bat sie, ihn nach der heiligen Stätte seiner Erinnerungen zu begleiten, und hier zum erstenmal erschloß sich sein zusammengepreßtes Herz; – unter strömenden Tränen fand sein starrer Schmerz Erleichterung, – seine Schuld, seine Reue, – seinen hoffnungslosen Jammer klagte er derjenigen, die mit ihm am Sterbebett der Geliebten gestanden und die mit ihm die Sorge für den Schmuck ihres Grabes teilte, die einzige Liebessorge, die ihm von so viel Hoffnung und Glück übrig geblieben war.

Sie nahm die Verzweiflung über seine Schuld von ihm, tröstend und erhebend sprach sie zu ihm, wie das Gefühl ihres Herzens, das des Leidens so viel getragen hatte, es ihr eingab, – ihr glaubte er, war doch ihre Seele der Dahingeschiedenen befreundet und verwandt gewesen, und er wurde nicht müde, von ihrem Mund das Wort der Verzeihung und Versöhnung zu hören.

Der Leutnant hatte bei seinen Besuchen in Blechow immer im Hause von Fritz Deyke gewohnt, der ein hübsches Zimmer hatte anbauen und städtisch einrichten lassen, – dieser ehrliche, treue Freund war außer Julien der einzige gewesen, mit dem er zuweilen von Helene gesprochen, – der kräftige, gerade Bauernsohn hatte ihm Mut zugesprochen und ihn angefeuert, sich dem Leben und seinen Pflichten nicht in schmerzlicher Versunkenheit zu entziehen, – aber wenn er von seiner Schuld und seiner Reue gesprochen, dann hatte Fritz sich schweigend abgewendet, – dieses derbe Herz kannte die Kraft, welche in Arbeit und Kampf sich gegen den Schmerz aufrichtet, – aber die zarte Blume der verzeihenden Versöhnung trieb nicht so leicht aus demselben empor. So schloß der Leutnant sich denn mit seinem ganzen innern Leben an Julia an, – öfter und öfter kam er herüber, um mit ihr von Helenen zu sprechen und aus ihren einfachen, herzlichen Worten Trost und Lebensmut zu schöpfen.

Im Hause von Fritz Deyke ging sonst das alte regelmäßige Leben in Arbeit und Tätigkeit seinen ruhigen Gang weiter. Der alte Deyke war in seiner Kraft gebrochen, – zwar schritt er noch aufrecht einher, aber das volle Haar fiel weiß über seine harte, strenge Stirn herab, und sein Arm konnte nicht mehr der Feldarbeit rüstig Herr werden, – er hatte die Leitung seines Besitztums an seinen Sohn abgetreten und ging nur zuweilen noch, auf den großen Krückstock gestützt, hinaus, die Arbeit der Knechte zu überwachen, streng tadelnd, wo er etwas nicht in Ordnung fand, so daß es schon eine Anerkennung für das Gesinde des Hofes, war, wenn der Alte schweigend vorüberging. Sonst blieb er in dem großen Lehnstuhl seines trotz der immer steigenden Wohlhabenheit unverändert einfachen Wohnzimmers und ließ sich gern die unermüdlich sorgsame Pflege seiner Schwiegertochter gefallen, welche er das Muster einer wendländischen Bäuerin nannte und gegen deren Vorschläge oder Bitten er niemals etwas einzuwenden fand. Sie, die Herrin des Hauses, war voll und behäbig geworden und sah gar stattlich und würdig aus, wenn sie mit ihren zwei kleinen Söhnen abends nach vollbrachter Tagesarbeit vor der Tür des Hauses saß, – aber wenn sie liebevoll zu ihrem Mann aufblickte oder ehrfurchtsvoll dem Großvater, der den Kleinen die biblische Geschichte erzählte, die frisch gefüllte Pfeife und den geschlossenen Deckelkrug Einbecker Bieres brachte, dann glänzte in ihren Augen die alte kindliche Unschuld und Güte, und der Alte sowohl wie Fritz fanden, daß die liebliche Blume ihres Hauses nichts von ihrem zarten Schmelz verloren habe. Auch die Politik klang kaum noch wieder in diesem alten Bauernhause, – der Alte sprach niemals von der Vergangenheit, – er ließ sich regelmäßig die Zeitung mit den Nachrichten über den Fortgang des Krieges vorlesen, und wenn die deutschen Waffen einen glänzenden Sieg erfochten hatten, dann schlug er freudig auf das Armpolster seines Lehnstuhls, und die Augen seiner Schwiegertochter blitzten und funkelten vor Stolz, daß so Großes die deutschen Heere unter ihres Königs Führung getan, – aber Fritz Deyke, – wenn auch einen Augenblick sein Blut höher aufwallte bei der Beschreibung der Kämpfe und bei den Nachrichten von all den Siegen, – er blickte doch starr und finster zu Boden, – ging doch mit diesen Siegen die letzte Hoffnung verloren, das alte Hannover wieder erstehen zu sehen, – diese Hoffnung, welche so viele Söhne des Landes in die Verbannung hinausgetrieben, und die er, wenn sein eigener Herd ihn auch an die Heimat fesselte, dennoch wie jene im Herzen getragen hatte und nicht so leicht aufzugeben vermochte.

Julia hatte regelmäßig die kleine Kirche zu Blechow besucht, wenn der alte Pastor den Gottesdienst hielt, – anfangs mit leichten religiösen Skrupeln, – doch hatte sie bald lieber und lieber das lautere, klare, in die Tiefen der Seele dringende Wort des alten Herrn in sich aufgenommen, und in wunderbarer Bewegung fühlte sie sich Gott näher in dieser kleinen, schmucklosen Kirche, in welcher der schlichte silberhaarige Greis die Heilsbotschaft des Christentums den einfachen Landleuten verkündete, als in den hohen Gewölben der römischen Tempel, in denen alle Sinne in geheimnisvollem Rausch gefangen genommen werden.

Der Winter war vergangen, und zu dem dunklen Grün der Föhrenwälder, die immer frisch aus dem Schnee hervorragen, gesellten sich die neuen Blätter der Birken, denen allmählich die Linden und Buchen und langsam zögernd dann die mächtigen Eichen im grünen Blätterschmuck nachfolgten. Paris hatte kapituliert, der Friede war unterzeichnet, – langsam begannen die Truppen zurückzukehren, – der Graf Rivero, der schon lange seine Rückkehr angekündigt, war noch immer nicht gekommen, und Julia begann ängstlich zu werden, während zugleich die vereinzelt ankommenden Nachrichten über die Schreckensherrschaft der Kommune und über die Zerstörung dieses schönen Paris, das so lang ihre Heimat gewesen, in dem sie so viel Leid und so flüchtig kurzes Glück erfahren, sie mit Schauder und Entsetzen erfüllten.

Es war ein schöner Tag am Ende des Monats Mai. Der Leutnant von Wendenstein war gekommen, hatte seinen leichten Wagen auf dem Deykeschen Hof eingestellt und war dann schnell nach dem Pfarrhause geeilt, um, wie so oft, mit Fräulein Julia nach dem stillen Friedhof zu gehen.

Sie schritten durch die frühlingsblühende Natur und traten in den der ewigen Ruhe geweihten Raum, den die unerschöpfliche Triebkraft der Wiedergeburt, welche die Natur erfüllt, ebenso mit Blüten voll Farbe und Duft geschmückt hatte, wie die Gärten, in denen des Lebens Lust und Freude sich tummelt.

Dicht war der Efeu emporgerankt um das Gitter, – die Immergrünzweige waren zurückgebogen von dem weißen Stein, und Veilchen und frühe Rosen umringten duftig, aus zierlichem Moosbau hervorragend, den Marmor.

Alles war still ringsum, – kaum der Laut eines zwitschernden Vogels unterbrach die feierliche Ruhe der Natur, – der Leutnant von Wendenstein beugte sich, wie er es immer tat, nieder und berührte mit den Lippen den kalten Stein, unter welchem das Herz ruhte, das einst so warm für ihn geschlagen.

Voll innigen Mitgefühls blicke Julia zu ihm nieder, dann sah sie seufzend zum Himmel empor, ihr feuchtes Auge schien zu fragen, ob es nicht besser sei, in der kühlen Erde zu ruhen, geliebt und beweint, gesucht von der Sehnsucht eines warmen Herzens, – als im Sonnenlicht zu leben, vergessen von der Liebe, deren Erinnerungen doch aus der eigenen Brust nicht schwinden wollen.

Langsam richtete sich Herr von Wendenstein wieder auf.

Er leichte Julia, welche zu Häupten des Grabes stand, die Hand und sagte mit tief bewegtem Ton:

»Fräulein Julia, – ich trage die Überzeugung in mir, daß die Verklärte, deren irdische Hülle hier unter diesen Blumen ruht, Sie mir gesendet hat, um meine gebrochene Seele wieder aufzurichten und dem Himmel wieder zuzuführen, der ihre Wohnung und Heimat ist und in welchem wir sie einst wiedersehen werden. Mein Herz ist an Sie gekettet,« fügte er mit bebender Stimme hinzu, »durch die Dankbarkeit und durch alle Gefühle, die überhaupt in demselben noch Platz finden, – ich würde verzweifeln, wenn ich mich von Ihnen trennen müßte, – Fräulein Julia, hier an der Ruhestätte der geliebten Toten, hier, wo ihr Geist uns nahe sein muß, – bitte ich Sie, mich nicht zu verlassen, – bitte ich Sie, mir Ihre Hand zum Bunde für das Leben zu reichen!«

Julia war bei seinen Worten erschrocken zusammengefahren, – bleich wie der Tod trat sie zurück und stützte die Hand auf das Gitter, welches die Grabstätte umgab.

In angstvoller Spannung blickte er zu ihr hin.

»Sie zürnen mir?« fragte er leise, – »Sie finden es vermessen, daß ich es wage, Sie zu bitten, einem Unglücklichen Hilfe zu bringen, der«, sagte er, mit bitter schmerzlichem Lächeln auf das Grab deutend, – »der gezeigt hat, wie wenig er der Liebe eines edlen Herzens wert ist?«

Er beugte sich nieder, brach einen Immergrünzweig und trat mit demselben zu ihr heran.

»Sehen Sie,« sagte er, – »Blüten habe ich nicht mehr in meinem Herzen, um sie Ihnen zu bieten, – der eisige Hauch des Todes hat sie zerstört, – aber immer frisch und grün wie dieser Zweig soll die innige, treue Liebe meines Herzens Ihnen gehören, – nehmen Sie diesen Zweig, – das Bild meiner an diesem Grabe erwachsenen und geweihten Liebe, – wenn nicht das Leben«, fügte er traurig und finster hinzu, – »Ihnen andere Blüten bietet –«

Rasch die dunklen Augen aufschlagend, erwiderte sie: »Die Blüten meines Herzens sind gebrochen wie die des Ihrigen, – von den Rosen sind nur die Dornen geblieben,« flüsterte sie in schmerzlicher Erinnerung, – »in meinem Herzen ist kein Hindernis, diesen Zweig aus Ihrer Hand anzunehmen, – und doch – doch«, sagte sie, den Blick zu Boden senkend, – »doch kann ich es nicht, – es ist unmöglich –«

»Unmöglich?« rief er schmerzlich, – »unmöglich, eine Seele, die den Himmel sucht, zu führen und zu leiten?«

»Unmöglich!« wiederholte sie leise in tiefer Bewegung, »unmöglich!«

Er stand finster in sich zusammengesunken da, – langsam erhob sie den Blick zu ihm und sah ihn voll warmen Mitleids an.

Dann trat sie vor ihn hin und sprach:

»Geben Sie mir den Zweig, – ich will ihn in jedem Fall bewahren als ein Symbol treuer Freundschaft, die ich Ihnen immer – immer gewähren werde, – warten Sie die Ankunft meines Vaters ab, – er allein kann meine Zweifel lösen, – er allein kann Ihnen sagen, was zwischen uns steht und«, fügte sie tief errötend hinzu, – »wenn Sie dann diesen Zweig aus meiner Hand zurücknehmen, – dann – soll es mir eine schöne und – teure Pflicht sein – Ihnen tröstend und beruhigend zur Seite zu stehen.«

»O – Fräulein Julia,« rief er, – »warum –«

»Ich bitte Sie,« fiel sie mit festem Ton ein, »ich bitte Sie, vor der Ankunft meines Vaters kein Wort weiter!«

Er beugte das Haupt nieder zum Zeichen des Gehorsams gegen ihren Willen und reichte ihr den Zweig, den er noch in der Hand hielt.

Beide neigten sich zu dem Grabstein nieder, und ihr leises Gebet stieg wie ein gemeinsamer Gruß an die Verklärte durch die stille Luft zum Himmel auf.

Dann gingen sie schweigend nebeneinander zum Pfarrhause zurück.

Hier war inzwischen ein Halbwagen mit Extrapostpferden von Lüchow aus vorgefahren. Vom Bock herabspringend, öffnete der Diener den Schlag, und dem aus dem Hause herbeieilenden Kandidaten trat der Graf Rivero entgegen.

Noch tiefer hatten sich die ernsten, schmerzvollen Züge in sein Gesicht gegraben, sein Haar war grau, – seine Haltung immer noch elegant und sicher, aber gebückt, wie die eines alten Mannes.

Stumm begrüßte er den Kandidaten und trat in das Wohnzimmer, wo der alte Pastor Berger in seinem Lehnstuhl saß und, mit einem Ausruf der Freude sich erhebend, dem Eintretenden beide Hände entgegenstreckte.

»Wir haben Sie lang erwartet,« sagte er, – »der Frieden ist wieder auf die Erde niedergestiegen, – Sie müssen jetzt ausruhen hier in der Stille, – wenn Ihnen die Gesellschaft eines alten Mannes genügt, dessen Haupt sich wie die reife Ähre der ewigen Ernte zuneigt.«

»Ich habe mit der Welt abgeschlossen, mein ehrwürdiger Freund,« erwiderte der Graf ernst und feierlich, – »ich habe die Kraft meines Lebens gemißbraucht, um in gutem Glauben, in reiner Überzeugung viel Böses zu tun weil ich vermessen eingreifen wollte in die Schicksale der Welt und der Menschen, – Gott hat mir versagt, mich als Opfer für ein gutes, heiliges Werk anzunehmen.« Er erzählte in kurzen Worten, wie er versucht, den Erzbischof von Paris aus den Händen seiner Mörder zu retten, und wie sein Versuch an dem edlen Widerstand des hingeopferten Prälaten gescheitert sei.

»Die Hölle«, schloß er mit tiefer Bitterkeit, – »ist Siegerin geblieben, – ich habe einst geglaubt, ihre Mächte in den Dienst des Himmels zwingen zu können, sie hat den vermessenen Sterblichen seine Ohnmacht fühlen lassen, der in stolzer Überhebung zu sagen wagte: ›Eritis sicut Deus!‹«

»Die Hölle?« sagte der Pastor, das weiße Haupt schüttelnd, – »die Hölle, Herr Graf, siegt niemals, wo Gottes Odem weht, – ihre Gewalt hat nur die Stufen aufrichten müssen, auf denen jener treue, glaubensmutige Priester des Herrn zur himmlischen Herrlichkeit emporgestiegen ist. Und jenes Wort, Herr Graf,« fuhr er mit tief überzeugungsvollem Ton fort, »bringt nur dann Fluch und Unheil, wenn es gesprochen wird im Sinne der Schlange, die das Geschöpf verlocken will, in der Erkenntnis und in der Kraft dem Schöpfer sich gleichzustellen, – aber es wird zum Worte des Segens und Heils, wenn das demütige Kind dem Vater zu gleichen strebt in der Liebe, – der Himmel mit seinem unerschöpflichen Gnadenreichtum öffnet sich dem, in dessen Herzen am Fuße des Kreuzes zur Nachfolge des Heilands das Wort ertönt: ›Eritis sicut Deus!‹«

Mit groß geöffneten Augen blickte der Graf den Pastor an, während eine gewaltige Bewegung auf seinem Gesicht arbeitete. Er hatte auf den Höhen und in den Tiefen der Welt die Wahrheit vergeblich gesucht, er hatte vor dem Stuhl Sankt Petri nur Kampf und neue ringende Zweifel gefunden, – und hier aus dem Munde des Greises, der sein Leben in still beschränktem Wirken an dem einfachen Altar der kleinen Kirche verbracht hatte, – hier schallte ihm das Wort der Wahrheit erleuchtend, tröstend und erlösend entgegen, das Wort: »Die Kinder werden zu Gott kommen! – nicht der Geist, nicht die Gewalt, – die Liebe allein überwindet die Welt und hebt über die Kluft der unermessenen Fernen der Zeit und des Raumes das schwache Geschöpf hinauf zu seinem allmächtigen Schöpfer.«

Er ergriff die Hand des Pastors, drückte sie an seine Brust und beugte sich ehrfurchtsvoll vor dem Diener des Evangeliums, indem er leise wiederholte: » Eritis sicut Deus

Julia trat in das Zimmer, der Leutnant von Wendenstein folgte ihr.

Mit lautem Freudenruf eilte sie zu ihrem Vater hin und schmiegte sich, von seinen Armen umfangen, an ihn.

Als sie aber den Blick zu ihm erhob, zuckte sie erschrocken zusammen. Sein ergrautes Haar, – sein bleiches Gesicht mit den leidenden Zügen ließen ihn um Jahre gealtert erscheinen.

»Die Anstrengungen des Feldzuges haben meine Gesundheit erschüttert,« sagte er sanft, – »jetzt, meine Tochter, gehöre ich nur noch dir, – die friedliche Sorge für dein Glück wird auch mich wieder stark und glücklich machen!«

Er begrüßte herzlich den Leutnant von Wendenstein.

Dieser aber wendete sich zu Julia.

»Fräulein Julia,« sagte er bittend, – »Sie haben die Antwort auf meine Frage von der Ankunft Ihres Vaters abhängig gemacht, – soll dieser Tag nicht die Zweifel lösen und mir den Stern der Hoffnung für mein künftiges Leben aufgehen lassen?«

Verwundert blickte der Graf auf seine Tochter.

Diese stand einen Augenblick sinnend da.

»Vielleicht ist es ein Wink des Himmels,« sagte sie leise, »daß mein Vater jetzt gerade gekommen, – er hat recht, – Licht soll es werden!«

»Herr von Wendenstein,« sprach sie, zu ihrem Vater herantretend, »hat mich gebeten, ihm meine Hand zu reichen, – er glaubt an meiner Seite Trost zu finden für sein verlorenes Glück.«

»Und ich werde ihn finden,« rief Herr von Wendenstein, – »mehr als das, ich werde neue Kraft und Hoffnung finden.«

Der Graf Rivero blickte in freudiger Bewegung auf den jungen Mann.

»Helenens Segen wird auf solchem Bunde ruhen,« sagte der Pastor, indem er voll inniger Rührung die Hand gegen Julia ausstreckte.

»Du weißt, mein Vater,« fuhr Julia fort, »warum ich zögern muß, einem Mann meine Hand zu reichen, auch wenn ich glauben möchte, ihn glücklich machen zu können, – ich habe deine Ankunft erwarten wollen, – du wirst, wie stets, das Rechte zu raten wissen.«

Ernst, beinahe finster, blickte der Graf einige Augenblicke vor sich hin.

Dann legte er seinen Arm in den des Herrn von Wendenstein und führte den jungen Mann in den Pfarrgarten, der, wie früher, sorgsam gereinigt und bestellt war und in dem die Frühlingsblumen so bunt und frisch blühten, als zu der Zeit, da sie noch Helene in den Tagen ihres Liebesfrühlings mit ihren Farben und ihrem Duft erfreuten.

»Kommen Sie, mein junger Freund,« sagte der Graf, »und hören Sie mich an – die Entscheidung liegt in Ihrer Hand und in Ihrem Herzen.«

Leise und still zog sich Julia in ihr Zimmer zurück, während der Pastor ihr verwundert nachsah, ohne ein Wort zu sprechen, – er wußte, daß man die Herzen auf ihren eigenen Wegen ihr Glück und ihren Frieden müsse suchen lassen.

Lange ging der Graf in ernstem Gespräch mit dem Leutnant im Garten auf und nieder, – er erzählte dem jungen Mann sein eigenes Schicksal und das Schicksal seiner wiedergefundenen Tochter, – er klagte sich selbst streng und bitter an, aus Stolz in ihr Schicksal und ihre Liebe eingegriffen zu haben, – und fragte endlich, ob Herr von Wendenstein, nachdem er alles wisse, was seiner Tochter Vergangenheit beträfe, jetzt noch seine Bitte wiederholen wolle.

»Wiederholen?« rief der junge Mann feurig, – »nein, doppelt dringend, doppelt innig spreche ich sie aus, – bin ich doch nun nicht der allein Empfangende, kann ich doch auch meinerseits Julia Trost und Ersatz für verlorenes Glück bieten, kann ich es zur Aufgabe meines Lebens machen, ihre Tränen über die Vergangenheit zu trocknen! O, ich wußte es, Helene mußte noch über das Grab hinaus mir Liebe und Trost senden!«

Sie kehrten in das Haus zurück, und der Graf ging, um seine Tochter zu rufen. Errötend, mit niedergeschlagenen Augen trat sie an ihres Vaters Seite in das Zimmer. Sie trug den Immergrünzweig von Helenens Grab in ihrer Hand.

Herr von Wendenstein eilte ihr entgegen, nahm den Zweig und drückte ihn an seine Lippen.

»Diese Blätter«, sagte er, »sind mir ein Symbol der Erinnerung und der Hoffnung, – unsere Hoffnungen sollen nun gemeinsam sein, – meine Erinnerungen werden Sie versöhnen und verklären. – die Ihrigen werde ich mit treuer Sorge auszulöschen bestrebt sein.«

Sie reichte ihm lächelnd die Hand, – er führte sie vor den Lehnstuhl des alten Pastors, beide ließen sich vor ihm auf die Knie nieder, – er legte segnend die Hände auf ihre Häupter und sprach mit milder Stimme zu dem Grafen Rivero:

»Ist Ihre Wirksamkeit zu Ende, Herr Graf? Ihre starke Hand wird diesen Halt und Stütze sein, – und Sie werden reichere Frucht in diesem Werke finden, als je vorher!«

»Mein Vater,« sagte Julia, indem sie sich erhob und zu dem Grafen herantrat, »in diesem Augenblick soll alles klar werden, – rein von Zweifeln soll der Weg meiner Zukunft sich vor mir öffnen. Ich habe«, fuhr sie mit tiefem Ernst fort, »in dieser ganzen Zeit hier in der kleinen Kirche, inmitten der schlichten, andächtigen Gemeinde, das Wort und die Lehre unseres teuren Freundes gehört, und hier hat sich meine Seele erquickt und aufgerichtet in frischer, reiner Kraft, während sie von süßem Rausch betäubt wurde in den schimmernden Tempeln in Rom, – in jenem Rom, mein Vater, das dich verstieß und verbannte, – dich, den doch so heiliger, reiner Glaube erfüllt, – der so treu gekämpft hat für das Reich Gottes auf Erden. Laß mich, mein Vater, hier die Lehre des Evangeliums, die mir so tröstend und erhebend erklungen ist, in mich aufnehmen, laß mich meinem Freunde zum Lebensbunde die Hand reichen vor diesem Altar, zu dem mein Herz mich mit seinen tiefsten Regungen hinzieht.«

Sie erhob bittend die Hände gegen ihren Vater. Dieser zog sie sanft an sich und sprach:

»Ich habe den Erzbischof der katholischen Kirche sein Haupt glaubensfreudig dem Märtyrertode beugen sehen, – ich habe gesehen, wie unser ehrwürdiger Freund hier in seinem kleinen Kreise Segen gesäet und Segen geerntet hat, wie er, als ihm das Liebste genommen wurde, nicht gewankt hat in seinem Glauben und seiner Ergebung; – kann das Bekenntnis des einen – kann das des andern die alleinseligmachende Formel sein? Folge deinem Herzen, meine Tochter, – bete an demselben Altar mit dem, der dein Gemahl und Herr sein wird, – der Weg, den die Hand dieses Priesters hier dir weisen wird, führt dich sicher zu Gott.«

»Und du, mein Vater?« fragte Julia schüchtern.

»In mir, meine Tochter,« erwiderte der Graf, »ringen noch die auf- und niederwallenden Nebel gegen das Licht, – noch ist mein Geist nicht frei, mein Blick nicht klar, – doch auch mir wird der Weg sich öffnen, der meine Seele zum Frieden führt.«

*

Und als der Sommer herankam und die Ernte auf den Feldern reifte, da trat der alte Pastor Berger zum letztenmal vor den Altar der kleinen Kirche in Blechow, um den Ehebund zwischen dem Leutnant von Wendenstein und der Gräfin Julia Rivero zu schließen. Der Graf hatte eine Besitzung ganz in der Nähe des Wendensteinschen Gutes gekauft und als einen besondern Freundschaftsbeweis des Pastors sich erbeten, daß dieser bei ihm, allen seinen Freunden so nahe, den Rest seines Lebens verbringe. Der Kandidat hatte eine Berufung in das Konsistorium erhalten, da man auf den strebsamen und geschmeidigen jungen Geistlichen aufmerksam geworden war, und mit einem fremden Adjunkt mochte der alte Herr seine Amtspflicht nicht teilen.

Noch einmal, wie in alter Zeit, war der Oberamtmann von Wendenstein und seine ganze Familie, der Bauermeister Deyke mit Fritz und seiner Frau in dem schlichten Gotteshause versammelt, und als die Trauung vollzogen war und der alte Herr die Hände erhob und mit tränenerstickter Stimme über seine Gemeinde hin rief: »Der Herr segne euch und behüte euch, der Herr erhebe sein Angesicht auf euch und sei euch gnädig, der Herr erleuchte sein Angesicht über euch und gebe euch seinen Frieden!« – als er sich dann umwendete und in stillem Gebet das Haupt auf die über den Altar gefalteten Hände sinken ließ – da blieb kein Auge trocken in dem ganzen Raum, und leise verhallte der Schlußgesang, da keine Stimme sich zu vollem Klang erheben konnte.

Dann ging man zu Helenens Grab, – ein letztes Lebewohl der Entschlafenen zu bringen, der Leutnant empfahl Fritz Deyke noch einmal die Sorge für die teure Stätte, – aber Fritz erwiderte beinahe rauh und heftig:

»Seien Sie ruhig, Herr Leutnant, – eher soll mir Haus und Hof zugrunde gehen, als daß ein Blatt auf Fräulein Helenens Grab geknickt wird.«

Dahin fuhren die Wagen, – ganz Blechow, auch der Kreishauptmann von Klenzin, war bei der Ehrenpforte am Ausgang des Dorfes versammelt. Ein Ehrentrunk, in den so manche Träne fiel, wurde dem scheidenden Pastor kredenzt, – er drückte die harten Hände all der Bauern, die sich an ihn herandrängten, – noch einmal erhob er sich im Wagen und winkte grüßend mit der Hand zurück.

Dann zogen die Pferde an, – die Wagen verschwanden zwischen den Föhren, – und fortgezogen war für immer die alte Zeit aus dem stillen Dorfe des Wendlandes.

Fritz Deyke aber war nach Hause vorausgegangen. Er war tief nachdenkend gewesen in der letzten Zeit, – es waren zwei Knechte des Hofes heimgekehrt, welche einst mit zur Legion ausgewandert waren, – sie hatten erzählt, in welche Not sie geraten, als die Legion aufgelöst, – wie sie mit einigen anderen nach Algier gegangen, dort in die Fremdenlegion gesteckt und beim Ausbruch des Krieges gefangen gehalten worden wären, – wie man sie endlich ohne Mittel über die schweizer Grenze geschickt hätte, und wie sie in Bern von dem preußischen Gesandten freundlich aufgenommen worden seien, der ihnen die Versicherung der Amnestie erteilt und sie mit Mitteln zur Rückkehr in die Heimat versehen hätte.

Fritz hatte ernst und schweigend diese Erzählungen angehört, – dann hatte der Leutnant von Wendenstein ihm gesagt, daß der König von Preußen die Offiziere der Legion begnadigt und großmütig pensioniert habe, und immer ernster und nachdenkender war er geworden.

Nun war er schnell vorausgeeilt und machte sich in der Wohnstube zu schaffen.

Als die Seinen zurückkehrten, trat er ihnen unter der Tür entgegen und führte seine Frau vor die Wand zwischen den Fenstern. In goldenem Rahmen hing hier ein Bild des Kaisers Wilhelm.

»Ich weiß,« sagte Fritz, indem er seine Frau in den Arm nahm, – »dir hat doch hier in unserer Stube noch immer etwas gefehlt, – ich habe da jetzt unseres Kaisers Bild aufgehängt, – bist du nun zufrieden?«

Sie umarmte ihn herzlich und drückte einen kräftigen Kuß auf seinen Mund.

Der alte Deyke war herangetreten, – er sagte nichts, aber er legte freundlich seine Hände auf die Häupter seiner Kinder und blickte einst und gedankenvoll zu dem Bilde des Kaisers auf, das über die Schlachtfelder von Gravelotte und Sedan hin seinen Einzug gehalten hatte in das Bauernhaus des hannoverschen Wendlandes.


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