Gregor Samarow
Held und Kaiser
Gregor Samarow

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Drittes Kapitel

In der alten Isle de France des königlichen und feudalen Frankreichs, dem heutigen Departement der Seine und Marne, liegt der Flecken Ferrières en Brie, einst der Hauptort einer besondern Grafschaft und der Sitz eines mächtigen Dynastengeschlechts.

Die alten Grafen sind verschwunden von dieser Stätte im Strom der Zeit, wie die Grafschaft untergegangen ist in der modernen Landeseinteilung. Aber an der Stelle, wo einst der feudale Sitz sich erhob, ragt, stolzer als jener, ein weithin schimmernder Schloßbau empor, und in demselben gebietet, mächtiger als alle jene ritterlichen Herren der Vergangenheit, der erste Fürst des neuerstandenen Universalweltreichs unserer Tage, des Reichs des Goldes und des Papiers: der Baron von Rothschild.

Aus den hohen Baumwipfeln des Parks blicken die vier hohen Türme des Schlosses von Ferrières in das Land hinein. Der große Ehrenhof in der Mitte, die Säulen und Marmortreppen der Fassade, welche sich in dem von samtweichen englischen Rasen umfaßten See spiegelt, die Blumenparterres, die Marmorstatuen, der weite prächtige Park umher, das alles zeugt in seinen großartigen Dimensionen und in seiner fast erdrückenden Pracht dafür, daß der Erbauer dieses Schlosses unumschränkt über die Macht des Geldes gebietet, welche in unserer Zeit über alle anderen Mächte sich erhebt und selbst Zeit und Raum dienstbar machen kann.

Der Kaiser Napoleon war hier als Gast seines großen Barons erschienen und mit einer Gastfreundschaft empfangen worden, welche an die Zeit Fouquets und Ludwigs XIV. erinnerte, und seitdem waren in der großen Welt des Kaiserreichs die Einladungen nach Ferriéres mehr als je gesucht, wenn der Baron Rothschild dort seinen Aufenthalt nahm und seine großen Jagden in den weiten Wildgehegen und den berühmten Fasanerien abhielt.

Der kaiserliche Besuch sollte aber noch nicht den Höhepunkt in der Geschichte des Schlosses von Ferrières bilden. Es war diesem hochragenden Prachtbau vorbehalten, noch einen andern hochfürstlichen Gast in seinen Mauern aufzunehmen, einen Gast, der nicht bloß den Glanz und die Ehre seiner persönlichen Anwesenheit in diese schimmernden Räume brachte, sondern mit dessen Fuß auch die Weltgeschichte diesen Boden betrat und demselben für alle Zeit ihre Spur aufdrückte.

Der König Wilhelm von Preußen hatte am 19. September 1870 die Verlegung seines Hauptquartiers nach Ferrières befohlen. Die Fouriere waren erschienen und hatten, geführt von dem Schloßkastellan des Barons von Rothschild, Quartier für die erste Staffel des königlichen Hauptquartiers gemacht, während die zweite Staffel in Lagny, etwas seitwärts von Ferrières, blieb. Graf Bismarck und der General von Moltke, sowie die unmittelbare persönliche Umgebung des Monarchen wohnten mit dem König im Schloß, allen übrigen waren ihre Quartiere in den Gärtnerwohnungen und den Bureaus der Schloßverwaltung angewiesen worden, da die großen, prachtvollen Gesellschaftsräume auf Befehl des Königs geschont und zu Wohnungen nicht verwendet werden sollten.

In düsterem Schweigen, aber höflich, artig und bereitwillig fügten sich die Beamten des Barons Rothschild, – der seine Stellung als preußischer Generalkonsul niedergelegt und sogar seine deutsche Köchin entlassen hatte, um den Franzosen seinen Patriotismus zu beweisen, – den Anordnungen der Fouriere, und bald war das große, prachtvolle Schloß von all dem regen, waffenklirrenden Leben erfüllt, welches das Hauptquartier des königlichen Oberfeldherrn der deutschen Armeen umgab.

Spät am Abend kam der König an, die Stabswache voran, fuhr er in das Schloß ein und wurde in die für ihn hergerichteten Privatzimmer des Barons Rothschild geführt.

Lächelnd blickte der König auf alle diese von Gold, Seide und kostbarem Holz schimmernde Pracht. In dem großen Schlafzimmer des Besitzers angekommen, aus welchem bereits das ungeheure, von schweren Vorhängen umgebene Bett entfernt und durch das mit diesen Räumen sonderbar kontrastierende Feldbett des königlichen Soldaten ersetzt war, befahl Seine Majestät, ein kleines Seitenkabinett für ihn als Schlafzimmer herzurichten, und ließ ebenso sein Arbeitszimmer in dem Badekabinett einrichten, da ihm die großen Prunkräume des Geldfürsten nicht einfach und wohnlich genug waren.

Doch bevor noch Seine Majestät eingetroffen, war im leichten Jagdwagen der Graf von Bismarck vorgefahren und hatte den Befehl gegeben, ein Quartier für Herrn Jules Favre einzurichten, der sich Minister der auswärtigen Angelegenheiten der Regierung der nationalen Verteidigung nannte und sofort erwartet wurde, um mit dem Bundeskanzler zu verhandeln.

Während der Graf Bismarck sich ein schnell hergerichtetes Diner servieren ließ, fuhr dann auch bald in einem offenen Wagen, begleitet von dem preußischen Hauptmann von Winterfeld vom großen Generalstab, der viel genannte Pariser Advokat und langjährige Führer der Opposition gegen das Kaiserreich, Herr Jules Favre, am Schloß von Ferrières vor.

Bei ihm befand sich Herr de Ring, Bureauchef des auswärtigen Ministeriums.

Man führte die beiden Herren nach dem Dorfe in die Wohnung des Regisseurs du Château, wo man ihnen ein bequemes, mit allem in Kriegszeiten möglichen Komfort ausgestattetes Quartier hergerichtet hatte.

Diese Abgesandten der Regierung von Paris waren der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit, und bei allen, die sie ankommen sahen, regte sich von neuem die Hoffnung, daß nun doch vielleicht endlich das eigensinnige Selbstgefühl Frankreichs zu der Überzeugung gekommen sein möchte, ein fortgesetzter Kampf könne keinen Sieg mehr bringen, und daß endlich der lang ersehnte Friede das blutige Kriegswerk abschließen werde.

Die Erscheinung dieser Vertreter der neuen, selbsteingesetzten Regierung kontrastierte merkwürdig mit dem frühern glanzvollen Auftreten der Botschafter und Gesandten des kaiserlichen Frankreichs, welche von dem stolzen Selbstgefühl erfüllt waren, daß hinter ihnen eine für unbesiegbar gehaltene Armee einherschreite.

Jules Favre, dessen große, volle Gestalt in ihrer Haltung und ihren Bewegungen stets etwas an das Pathos der Plaidoyers vor dem Barreau erinnerte, hatte in der letzten Zeit merklich gealtert und schien unter dem Druck der Situation tief niedergebeugt. Sein vorn über der Stirn hoch aufgekämmtes dichtes Haar war stark ergraut, seine großen, von dunklen Brauen überschatteten Augen, in welchen klare Intelligenz sich mit einem zuweilen aufleuchtenden Schimmer von phantastischer Schwärmerei vermischte, blickten trübe zu Boden, und schmerzliche Linien umzogen seinen großen, starken Mund, den ein kurzer, grauer Vollbart umgab.

Herr de Ring, ein junger, schmächtiger Mann mit bleichem Gesicht und kleinem schwarzem Bart, beobachtete neugierig forschend alle Erscheinungen in dem Hauptquartier dieser Armee, welche in so unerwartet herandrängender Schnelligkeit den mächtigen Bau des Kaiserreichs niedergeworfen und Frankreich tiefer gebeugt hatte, als je zuvor in der Geschichte geschehen war.

Die Herren speisten flüchtig, und bald darauf erschien abermals der Hauptmann von Winterfeld, welcher Herrn Jules Favre ersuchte, ihm nach dem Schlosse zu folgen, wo der Graf Bismarck bereit sei, ihn zu empfangen.

Es war bereits spät am Abend, als der Abgesandte der Pariser Regierung in das Bureau des Schloßkastellans geführt wurde, wo der deutsche Bundeskanzler ihn erwartete.

Es war ein einfaches Zimmer, in welchem bisher die Angelegenheiten der Schloßverwaltung des Barons von Rothschild verhandelt worden waren, und in welchem wohl niemandem zuvor der Gedanke gekommen sein mochte, daß hier die Vertreter zweier großen Nationen sich einst gegenüberstehen sollten, um in weltgeschichtlicher Unterredung über die Schicksale von Millionen zu sprechen.

Merkwürdig war der Kontrast der beiden Persönlichkeiten, die sich hier gegenüberstanden und die nicht nur zwei verschiedene gegeneinander kämpfende Nationen, sondern auch zwei so ganz verschiedene, stets und unter allen Verhältnissen sich streitend gegenüberstehende Richtungen menschlicher Geistesentwicklung repräsentierten.

Des Grafen Bismarck hohe Gestalt stand da in der militärischen Uniform, dem Ehrenkleide seines Landes, fest, in strenger Gedrungenheit. Seine Haltung und seine Bewegungen waren militärisch wie sein Rock, der Blick seines Auges hell, scharf und gerade wie die Klinge seines Degens.

Jules Favre dagegen war in Haltung und Bewegung breit und pathetisch, – sein Blick verschleiert durch die Nebelwolken eigener subjektiver Doktrin und Phantasie, – so standen sie sich gegenüber: der Mann der Tat und der Wahrheit dem Mann der Rede und der Illusion.

»Ich hoffe,« sagte Graf Bismarck, indem er Herrn Favre mit leichter und freier Artigkeit begrüßte und einen Stuhl für ihn neben sich heranzog, »daß man meinen Anordnungen gemäß für Ihren Empfang gesorgt hat und daß Sie mit Ihrem Quartier zufrieden sind.«

»Ich danke Eurer Exzellenz,« erwiderte Jules Favre, »für Ihre freundliche persönliche Aufmerksamkeit, und ich wünschte,« fügte er seufzend hinzu, »daß meine Vorschläge und Anerbietungen eine ebenso gute Aufnahme gefunden hätten, als dies meiner Person zuteil geworden ist.«

»Ich habe Ihnen,« erwiderte Graf Bismarck, »bereits heute Mittag bei unserer Unterredung im Schloß Haute Maison freimütig erklärt, daß ich auf annehmbare Vorschläge hin lieber heut als morgen den Frieden zu unterzeichnen bereit sein würde, wenn ich die Überzeugung gewinnen könnte, daß dieser Frieden dann die Garantie der Dauer in sich trüge. Eine solche Garantie kann aber nur darin gefunden werden, daß Deutschland vor der Wiederkehr ähnlicher Angriffe nachdrücklichen Schutz findet, und dazu habe ich in Ihren Vorschlägen keine Grundlage entdecken können.«

»Ich habe,« erwiderte Jules Favre, indem er mit der Hand durch sein dichtes Haar strich, »meinerseits die Überzeugung aussprechen müssen, daß ein dauernder und gesicherter Frieden, den ich mit Eurer Exzellenz für das notwendige und einzig zu erstrebende Ziel unserer Verhandlungen halte, nur dann erreicht werden könne, wenn die nationale Ehre Frankreichs bei demselben nicht berührt wird. Würde dies geschehen, so würde jeder Frieden nur die Natur eines kurzen und drohenden Waffenstillstandes annehmen. Die Abtretung von Festungen und Landgebiet würde Frankreich als eine Schmach empfinden, die ganze Nation würde fortan keinen andern Gedanken haben, als sich dazu vorzubereiten, diesen Flecken von ihrer nationalen Fahne wieder zu entfernen.«

Ein eigentümlicher, scharfer, schneidender Blitz zuckte aus dem Blick des Grafen Bismarck. Aber sein Gesicht bewegte sich nicht und behielt seine kalte, eherne Ruhe.

»Ich habe Ihnen gesagt,« fuhr Jules Favre fort, »daß wir bereit sind, Ihnen alles Geld zu zahlen, was Sie irgend verlangen wollen, aber Landabtretungen sind erniedrigend, entehrend für Frankreich, und ich kann, ich darf solche Bedingungen nicht annehmen, selbst auf die Gefahr hin, diesen unseligen Krieg noch weiter fortsetzen zu müssen.«

»Geld!« erwiderte Graf Bismarck, – »es ist wahr, der Krieg hat Geld, viel Geld gekostet, und für dieses Geld muß Deutschland vollen Ersatz haben. Aber,« fuhr er fort, indem es durch den kalten, ruhigen Ton seiner Stimme wie eine fern heranrollende Drohung klang, »dieser Krieg hat mehr gekostet als Geld, er hat Blut gekostet, deutsches Blut, das in Strömen hat fließen müssen, um den ungerechten Angriff zurückzuwerfen, – und dieses Blut kann mit allem Gold der Erde nicht bezahlt werden. Es ist eine heilige Pflicht gegen die Toten dieses Krieges, dafür zu sorgen, daß durch ihr vergossenes Blut ein Preis errungen werde, höher als Gold und Geldeswert, – die künftige Sicherheit des Vaterlandes.«

»Der unglückselige Krieg,« sagte Jules Favre, indem er leicht die Hand erhob, »in welchem sich Frankreich und Deutschland jetzt gegenüberstehen, ist durch die Macht eines einzigen hervorgerufen, welcher Frankreich beherrschte. Ihn hat seine Strafe ereilt, er hat seine Krone und seine Macht verloren. Der Krieg hat damit seinen Grund und seine Berechtigung verloren. Frankreich ist wieder Herr seiner selbst geworden. – Ich, Herr Graf, kenne die Gesinnungen des Landes, ich kann Ihnen für die Friedensliebe des französischen Volkes einstehen. Diese Friedensliebe wird Ihnen bessere Garantien bieten als die Landabtretungen, welche den Geist der Rache in jedem französischen Herzen wachrufen würden.«

Ein flüchtiger Zug seiner Ironie zuckte einen Augenblick um die Lippen des Grafen Bismarck. Im Ton ruhiger, kalter Höflichkeit sprach er:

»Sie sagen mir, mein Herr, daß Frankreich den Frieden wolle und daß nur ein einziger Wille den Krieg hervorgerufen habe, – der Kaiser Napoleon hat mir gesagt, daß er den Krieg nicht gewollt und daß er durch die Nation zu demselben gezwungen worden sei –«

»Er hat,« fiel Jules Favre lebhaft ein, »im Augenblick seines Falles die Unwahrheit gesprochen, wie er dies sein ganzes Leben über getan. Die Majorität des gesetzgebenden Körpers,« fuhr er fort, »hat noch kurz zuvor dem Frieden akklamiert und die ganze Nation hat zweimal, bei den Wahlen von 1869 und bei dem Plebiszit im Frühjahr dieses Jahres, der Politik des Friedens und der Freiheit auf das Entschiedenste zugestimmt, denn mit einem Programm solcher Politik trat das Kaiserreich in bewußter Heuchelei vor das Plebiszit.«

»Und doch,« erwiderte Graf Bismarck, »hat der gesetzgebende Körper die kriegerischen Reden des Herzogs von Gramont und des Herrn Ollivier mit lautem Beifall überschüttet.«

»Diese Majorität,« rief Jules Favre, »war unter dem Einfluß des kaiserlichen Regiments gewählt und wagte nicht, demselben zu widerstehen!«

»Aber das ganze Volk,« erwiderte Graf Bismarck, »stand in seiner Presse, in allen seinen Kundgebungen hinter der Majorität und hinter den Ministern, welche heut auf der Höhe der Popularität stehen würden, wenn die Schlachten von Wörth und Sedan einen andern Ausgang gehabt hätten. Sie werden mir verzeihen,« fuhr er fort, während Jules Favre mit dem Ausdruck einer gewissen Ungeduld den Kopf schüttelte, »wenn ich zu einer Friedensliebe, welche nach den Niederlagen kommt, kein unbedingtes Vertrauen haben kann, und wenn ich so wechselnden Stimmungen und so entgegengesetzten Erklärungen gegenüber meine Überzeugung auf einem festeren, von den Strömungen der Gegenwart nicht berührten Fundament aufrichte, – auf dem Fundament der Geschichte. Die Geschichte aber lehrt mich, daß es stets der Wille der französischen Nation war, Deutschland anzugreifen und meinem Vaterland Teile seines Gebietes zu entreißen, und daß die größten Repräsentanten Frankreichs stets diesen nationalen Willen zur Ausführung gebracht haben, – von Ludwig XIV. bis auf Napoleon III.«

»Es würde schwer zu unterscheiden sein,« erwiderte Jules Favre, »ob bei den Tatsachen, die Sie anführen, Herr Graf, der persönliche Ehrgeiz der Regenten den Geist der Nation irreleitete oder ob der Wille des Volkes die Machthaber Frankreichs bestimmte. Jetzt – da Frankreich keine Machthaber hat, sondern Herr seiner selbst ist, will es den Frieden. Aber es würde,« fuhr er fort, indem er die Hand auf die Brust legte, »den Krieg wollen und immer wieder den Krieg, wenn ihm Straßburg genommen würde, Straßburg, das noch nicht erobert ist, Straßburg, auf dessen Wällen noch die französische Fahne weht, die zugleich die Ehre Frankreichs bedeutet.«

»Straßburg ist noch nicht genommen,« sagte Graf Bismarck – »das ist wahr. Aber seine Einnahme ist eine Frage der Zeit, – einer kurzen Zeit, – es kann sich nicht mehr halten und kein Entsatz kann ihm zugeführt werden. Doch,« fuhr er dann fort, indem seine Stimme einen festeren, strengeren und fast schneidend harten Ton annahm. »Sie sprechen von der Ehre Frankreichs. – Hat Frankreich eine andere Ehre als die übrigen Nationen, – eine andere Ehre als Deutschland? Es ist, so lange die Welt steht, das Los des Krieges, daß ein besiegtes Volk Teile seines Machtgebietes abtreten muß. Dies Los hat noch in den letzten Zeiten Österreich betroffen, und niemand hat behauptet, daß Österreichs Ehre dadurch geschädigt sei. Dasselbe Los hat Frankreich stets unerbittlich dem Besiegten auferlegt, – hat es Deutschland vor allem auferlegt, und ich glaube nicht, daß, wenn der Kaiser Napoleon in diesem Kriege Sieger geblieben wäre, die französische Nation ihm erlaubt hätte, das deutsche Gebiet unberührt zu lassen. Sollen wir nicht tun dürfen, was Frankreich getan hat und zweifellos wieder getan haben würde, wenn es das Schlachtenglück an seine Fahnen hätte fesseln können? Wenn wir Straßburg und Metz nehmen, greifen wir damit in französisches Nationalgebiet? Waren Straßburg und Metz nicht deutsch? Sind sie nicht von Frankreich genommen nach dem Kriegsrecht des Siegers? Kann es Frankreichs Ehre schädigen, wenn wir im Verteidigungskrieg zurücknehmen, was uns Frankreich einst im Eroberungskrieg entriß? Das französische Gefühl wird auch immer ohne Gebietsabtrennung den Rachekrieg wollen. Es hat Waterloo nicht vergessen, wie es Sadowa nicht vergessen hat – Sadowa, welches doch Frankreich gar nichts anging – es wird auch die Kapitulation von Sedan nicht vergessen, welche es empfindlicher hat berühren müssen, als dies die Abtretung von Straßburg würde tun können.«

Jules Favre wollte sprechen. Mit einer schnellen Bewegung ihn unterbrechend, fuhr Graf Bismarck fort:

»Und Straßburg vor allem. – Wenn es sich um den künftigen Frieden, um nachbarliche Sicherheit handelt – Straßburg ist der Schlüssel des Hauses, – den muß ich haben!«

»Und Sie glauben, Herr Graf,« sagte Jules Favre bitter, »daß der Friede gesichert werden könne, daß Frankreich in nachbarlicher Eintracht neben Deutschland leben könne, wenn Sie uns den Schlüssel unseres Hauses nehmen?«

»Ihres Hauses?« rief Graf Bismarck, stolz das Haupt emporwerfend, »Straßburg ist der Schlüssel unseres Hauses, durch den ich die Tore Deutschlands gegen die Wiederkehr jahrhundertelanger Angriffe verschließen muß. Käme die nationale Ehre in Betracht, so könnte nur diejenige Deutschlands berührt werden, wenn es nach solchen Siegen, wie wir sie erfochten, eine alte deutsche Stadt in fremden Händen ließe. Hat nicht Frankreich Landau und Saarlouis zurückgegeben? – Sollten die Eroberungen Ludwigs XIV. mit der Ehre Frankreichs etwa fester verwachsen sein als diejenigen der ersten Republik oder des ersten Kaiserreichs?«

Jules Favre neigte seufzend das Haupt. Der wortreiche Redner schien vergebens nach Worten zu suchen, die er diesem ehernen Willen, dieser unbeugsamen Logik gegenüberstellen könnte.

»Doch,« sagte Graf Bismarck nach einigen Augenblicken in seinem früheren ruhigen und kalten Ton, »wir stehen in einer Zeit der Tat und der Realität, und ich glaube nicht, daß eine Beleuchtung der Gegenwart und Vergangenheit, – die ich,« fügte er mit einem leichten Lächeln hinzu, »fast eine akademische nennen möchte, dem Zweck unserer Zusammenkunft entsprechen kann.«

»Eure Exzellenz haben recht,« erwiderte Jules Favre traurig, »ich glaube, daß die Friedensunterhandlungen in diesem Augenblick und bei diesen sich gegenüberstehenden Anschauungen aussichtslos sind und kann meinerseits ohne Beratung mit meinen Kollegen nicht weiter gehen. Die letzte Instanz über die Friedensbedingungen wird eine von dem französischen Volk frei gewählte Nationalversammlung sein müssen. Es käme daher darauf an, einen Waffenstillstand zu vereinbaren, während dessen eine solche Versammlung sich konstituieren könnte, und die Bedingungen dieses Waffenstillstandes festzustellen.«

»Damit betreten wir das praktische Gebiet,« erwiderte Graf Bismarck, »und ich hoffe, daß wir uns auf diesem schneller und einfacher verständigen werden, als bei der Erörterung von Friedensbedingungen, zu deren Abschluß die gegenwärtige Regierung in Paris doch kaum imstande ist. Denn,« fügte er hinzu, »Sie werden mir zugeben, daß der Pöbel in Paris schon in einigen Tagen Ihre Regierung vielleicht stürzen kann, wie er in bewegten Zeiten schon so manche Regierung nach kurzem Dasein gestürzt hat.«

Jules Favre erwiderte, indem er die Hand ausstreckte, mit lauter, feierlicher Stimme:

»Es gibt keinen Pöbel in Paris, Herr Graf, und was man mit diesem Namen bezeichnen könnte, kann in diesem Augenblick der großen nationalen Gefahr keinen Einfluß ausüben. Es gibt in Paris nur eine intelligente, von patriotischer Begeisterung erfüllte Bevölkerung, welche mit Abscheu den Gedanken zurückweisen wird, sich zum Bundesgenossen des Feindes zu machen, indem sie der nationalen Verteidigung Hindernisse in den Weg legte. Wir aber,« fuhr er fort, »die Mitglieder der gegenwärtigen Regierung sind in jedem Augenblick bereit, ja wir sehnen uns darnach, unsere Gewalt in die Hände einer souveränen Nationalversammlung niederzulegen.«

»Ich erkenne vollkommen,« erwiderte Graf Bismarck, »die Notwendigkeit an, der französischen Nation Gelegenheit zu geben, eine Vertretung zu wählen, mit welcher wir zum definitiven Abschluß in völkerrechtlich gültige Verhandlungen treten können; – eine solche Versammlung allein würde imstande sein, die Legitimation der gegenwärtigen Regierung genügend zu ergänzen, denn für uns, wie für ganz Europa, existiert ja bis jetzt nur die von allen Mächten anerkannte kaiserliche Regierung, und wenn Frankreich sich eine neue Regierungsform geben will, so muß der Wille der Nation in einer gültigen und unbestreitbaren Weise dokumentiert werden.«

»Das wird geschehen,« erwiderte Jules Favre, »sowie ein Waffenstillstand dem französischen Volk die Möglichkeit gibt, seine Vertreter zu wählen.«

Graf Bismarck sah einen Augenblick nachdenkend vor sich nieder, er schien seine Gedanken ordnen und formen zu wollen, dann richtete er den Blick scharf und fest auf Jules Favre und sprach:

»Sie werden anerkennen, daß ein Waffenstillstand für eine Armee, die in siegreichem Fortschreiten begriffen ist, schwere militärische Nachteile mit sich bringt, weil er sie hindert, weiter vorzugehen und ihre Positionen zu verstärken. Auf der andern Seite aber würde gerade deshalb ein längerer Waffenstillstand Frankreich sehr bedeutende Vorteile bringen. Sie nennen sich die Regierung der nationalen Verteidigung; um aber eine Verteidigung unternehmen zu können, müssen Sie erst wieder neue Armeen organisieren, denn Ihre alten Armeen sind zertrümmert und die letzte derselben ist in Metz eingeschlossen. Jeder Zeitgewinn ist daher für Sie von so hoher Bedeutung und für uns von so großem Nachteil, daß Deutschland einen solchen Waffenstillstand nicht ohne wesentliche militärische Garantien gewähren kann.«

»Liegen diese Garantien nicht darin,« fragte Jules Favre, »daß die gegenseitigen Positionen während des Waffenstillstandes unverändert bleiben?«

»Durchaus nicht, mein Herr,« erwiderte Graf Bismarck, »die Positionen allein sind nicht entscheidend, wir stehen heut einem entwaffneten, fast kampfunfähigen Lande gegenüber, in vier Wochen würden wir vielleicht neugebildete, organisierte und bewaffnete Armeen uns gegenübertreten sehen. Denn,« sagte er mit leichter Verbeugung, »ich traue Ihnen und der nationalen Energie Frankreichs in diesem Punkte sehr viel zu. Das bloße Aufrechthalten der gegenseitigen Positionen allein kann also nach meiner Überzeugung, wie ich wiederholen muß, die Grundlage des Waffenstillstandes nicht bilden.«

»Und worin, Herr Graf,« fragte Jules Favre, »würden denn die Garantien, welche Sie für notwendig halten, zu finden sein?«

»Insoweit ich mir selbst darüber ein klares Bild machen kann, vorbehaltlich militärischer Prüfung und der Genehmigung Seiner Majestät des Königs, scheint es mir notwendig, daß uns diejenigen Festungen übergeben werden, welche die Verbindung mit Deutschland erschweren, denn wenn durch den Waffenstillstand die Zeit verlängert wird, während welcher wir unsere Truppen durch Zufuhr aus Deutschland zu verpflegen haben, so müssen wir Gewicht darauf legen, daß uns diese Verpflegung erleichtert wird. Ich müßte daher vor allem als Bedingung des Waffenstillstandes die Übergabe der Festungen Straßburg, Toul und Bitsch verlangen.«

»Das hieße uns wehrlos machen!« rief Jules Favre zitternd.

»Das glaube ich nicht,« erwiderte Graf Bismarck, »diese Bedingung würde uns vielmehr in die Lage setzen, die Zeit des Waffenstillstandes in ähnlicher Weise für uns nutzbar zu machen, wie Sie das für die Organisation Ihrer Verteidigung zu tun imstande wären. Was nun die Festungen betrifft,« fuhr er fort, »so würde ich bei Seiner Majestät dem Könige befürworten, den Besatzungen von Toul und Bitsch freien Abzug zu gewähren. Was Straßburg betrifft, so ist die Krönung des Glacis vollendet, die Einnahme des Platzes steht in kurzer Zeit bevor, und diese militärische Situation legt mir die Pflicht auf, zu verlangen, daß die Besatzung von Straßburg die Waffen streckt.«

Jules Favre zuckte zusammen, er preßte einen Augenblick die Hände vor die Stirn, dann sprang er auf und rief:

»Herr Graf, Sie sprechen zu einem Franzosen! Die heldenmütige Besatzung von Straßburg erregt die Bewunderung Frankreichs, die Bewunderung der ganzen Welt. Diese Besatzung zu opfern, das wäre eine Feigheit, welche der jetzigen Regierung für alle Zeiten einen unauslöschlichen Flecken anheften würde. Ich kann Ihnen nicht versprechen, diese Bedingung meinen Kollegen auch nur mitzuteilen.«

Graf Bismarck schwieg einen Augenblick. Die schmerzliche Erregung des Herrn Jules Favre schien eine Empfindung des Mitgefühls in ihm zu erwecken. Mit einem sanfteren Ton sprach er:

»Ich habe wahrlich nicht die Absicht, Ihre Gefühle zu kränken oder Frankreich zu erniedrigen, – ich habe mir schon vorhin erlaubt zu bemerken, daß die Gegenstände unseres Gesprächs in hohem Grade dem Gebiet der Realität angehören. Für die gegenwärtige Situation sind vor allem die Gesetze des Krieges maßgebend, die Frage der Ergebung der Besatzung von Straßburg ist eine militärische. Wenn – was ich indes nicht versprechen kann – der König einwilligt, so kann diese Bedingung modifiziert werden.«

Jules Favre setzte sich wieder nieder und verharrte einige Augenblicke, in sich zusammengesunken, in düsterem Schweigen. »Kommen wir zu Ende,« sagte er dann, »damit unsere gegenseitigen Auffassungen heute wenigstens ganz klar festgestellt werden. Es handelt sich bei dem Waffenstillstand wesentlich noch darum, Paris zu verproviantieren, damit die Versammlung und Beratung der Nationalversammlung in der Hauptstadt des Landes nicht unter dem Druck der Entbehrung und des Hungers sich vollziehe. Ich setze voraus, daß Sie gegen diese Bedingung nichts zu erinnern haben werden.«

»Paris,« erwiderte Graf Bismarck, »hat sich selbst für eine Festung und einen Waffenplatz erklärt und hat damit, wie Sie einräumen werden und ganz Europa anerkennen muß, jeden Anspruch auf die Berücksichtigung aufgegeben, welche eine offene Stadt, welche namentlich die Hauptstadt des Landes in jedem Kriege zwischen zivilisierten Nationen für sich zu verlangen berechtigt ist. Paris ist heute für uns nur noch eine Festung, und die einzige Möglichkeit, diese so riesenhaft ausgedehnte Festung einnehmen zu können, beruht für uns in dem Aushungern derselben. Die Einschließung von Paris,« fuhr er fort, »ist vollendet, und die Kapitulation der Stadt ist daher nur eine Frage der Zeit. Wenn wir die Verproviantierung des Platzes gestatten, so schieben wir die Frist für diese Übergabe auf lange hinaus, während ringsumher im Lande sich Armeen organisieren und zum Entsatz heranrücken können; dadurch wird unsere militärische Position so wesentlich verschlechtert, daß ich auch hier wieder besondere Garantien fordern muß. Ich bin daher bereit, die Zufuhr nach Paris vollständig frei zu lassen, wenn uns ein dominierender Teil der Festungswerke eingeräumt wird, durch den wir in die Lage kommen, jeden später versuchten Widerstand zu brechen.«

Abermals fuhr Jules Favre empor, gewaltsam aber unterdrückte er seine Bewegung und sprach:

»Also sollte die Nationalversammlung Frankreichs unter der Mündung preußischer Kanonen beraten? Nein, Herr Graf, auch diese Bedingung kann ich nicht annehmen, auch diese Bedingung kann ich kaum meinen Kollegen mitteilen.«

»Dann,« fuhr Graf Bismarck fort, »können wir unsererseits nicht in die Aufhebung der Absperrung von Paris willigen, dem Waffenstillstand muß dann die Beibehaltung des militärischen status quo vor Paris zugrunde gelegt werden.«

»Erlauben Sie mir also,« sagte Jules Favre, erschöpft aufatmend, »kurz die Grundzüge unserer Erörterung zu resümieren. Ich muß die Einräumung eines Teils der Befestigungen von Paris bestimmt ablehnen, ebenso die Kriegsgefangenschaft der Besatzung von Straßburg. Dagegen aber bin ich bereit, über den Waffenstillstand auf Grundlage der Aufrechterhaltung des militärischen status quo vor Paris die Meinung meiner Kollegen einzuholen.«

Graf Bismarck neigte zustimmend den Kopf.

»Ich habe,« sagte er, »Ihnen in unserer heutigen Unterredung nur diejenigen Gesichtspunkte ausgesprochen und die Bedingungen formuliert, welche sich für mich aus meiner Anschauung der Verhältnisse ergeben. Ich werde über die Sache Seiner Majestät dem König Vortrag halten, dessen Befehle einholen und Ihnen dessen definitiven Entschluß dann mitteilen.«

Jules Favre stand auf.

»Ich hoffe,« sagte er, »daß bis dahin nicht zuviel Zeit vergehen wird.«

Man hörte eine starke Bewegung und lautes Pferdegetrappel vor dem Schloß.

»Ich glaube,« sagte Graf Bismarck, »daß Seine Majestät soeben ankommt. Es ist sehr spät geworden, ich werde heut abend den König nicht mehr sehen können. Sie werden ohnehin auch der Ruhe bedürfen, und ich werde morgen in der Frühe – denn Seine Majestät ist sehr matineux – über unsere Unterredung Bericht erstatten und Ihnen die Allerhöchste Entscheidung mitteilen.

Der Schlaf wird Ihnen wohltun nach den Anstrengungen dieses Tages,« fügte er mit wohlwollender Freundlichkeit hinzu, »und ich hoffe und wünsche von Herzen, daß Sie hier eine gute Nacht haben werden.«

»Sie haben auf das beste für mich gesorgt,« erwiderte Jules Favre, »könnte der Schlaf mich das Unglück meines Landes vergessen lassen!«

Er verließ, von dem Grafen Bismarck bis zur Tür begleitet, das Zimmer.

»Er ist ein ehrlicher Mann,« sagte Graf Bismarck, ihm gedankenvoll nachblickend, »aber ich werde mit ihm zu keinem Abschluß kommen, denn er ist durchdrungen von der naiven Illusion, welche durch ganz Frankreich geht, daß wir nur gegen den Kaiser Napoleon Krieg geführt hätten und zufrieden sein müßten, denselben besiegt zu haben. Er kann es nicht fassen, daß Frankreich niedergeworfen sei und auch das Schicksal des Krieges ertragen müsse, das es uns stets so rücksichtslos auferlegt hat. Wir sind noch nicht am Ende,« sprach er ernst und traurig weiter, »das blutige Werk muß noch fortgeführt werden, denn diesmal sollen sie es empfinden, daß man Deutschland nicht ungestraft angreift, und ich bin den künftigen Generationen dafür verantwortlich, daß all dies Blut nicht umsonst vergossen sei. Nun,« rief er mit voller, durch das Gemach klingender Stimme, »ich stehe auf dem Platz und werde stets bereit sein, einst vor dem Richterstuhl der Geschichte zu erscheinen!«

Er ging hinaus und begab sich nach der für ihn eingerichteten Wohnung, wo ihn Herr von Keudell und der Graf von Hatzfeld erwarteten, mit denen er noch lange arbeitete in unermüdlicher, eiserner Anstrengung, bis er spät in der Nacht, fast der letzte von allen Bewohnern des Schlosses, sich zur Ruhe begab.


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