Gregor Samarow
Held und Kaiser
Gregor Samarow

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtzehntes Kapitel

Der Graf von Chaudordy hatte sich, nachdem Garibaldi ihn verlassen, wieder an die Durchsicht der eingegangenen und auf seinem Tisch vor ihm liegenden Berichte begeben, aber er schien von trüben Gedanken in Anspruch genommen; – bald warf er die Papiere zurück und die Stirn in die Hand stützend, sagte er in traurigem Ton:

»Wie tief ist Frankreich in so kurzer Zeit gefallen, daß dieser Guerillaführer der italienischen Revolution sich für berechtigt und befähigt hält, uns wie ein Almosen seine Hilfe zu bringen – welch ein Unglück, daß nicht nur unsere Armeen geschlagen und auseinandergesprengt sind, daß auch unsere Diplomatie vollständig den Zusammenhang, die Kraft und die Klarheit verloren hat! Herr Thiers verwirrt das alles noch mehr, indem er an den Höfen umherreist und ihre Intervention für Frankreich erbittet, ohne daran zu denken, daß die monarchischen Regierungen Europas, wenn sie auch für den Kaiser hätten etwas tun wollen, jetzt gewiß keine Neigung haben werden, für Frankreich intervenieren zu wollen, wenn es auf immer schneller strömender Flut der Anarchie zutreibt. Welch ein Unheil hat dieser törichte Krieg über uns gebracht, zu dem der Kaiser sich wider seinen Willen hat treiben lassen, statt ihn zwei Jahre früher wohl überlegt und mit fest vorbereiteten Allianzen zu beginnen. Das schwerste Unglück ist aber doch die Schwäche und Unentschlossenheit des Kaisers, der es nicht wagte, die Verantwortung und die Konsequenzen des Krieges auf sich zu nehmen und bei Sedan den Frieden zu schließen, der damals noch weit wohlfeiler gewesen wäre, als er es heut ist, und der jede Woche später immer mehr und mehr kosten wird. – Wie schmerzlich, daß ein großes, ruhmreiches Land so schwer für die Fehler desjenigen büßen muß, der die Existenz und das Schicksal der Nation in seiner einzigen Person vereinigt hatte!

»Und nun dieser Garibaldi,« fuhr er nach einer Pause traurigen Schweigens fort, »der hier ankommt, um unsere Verlegenheiten noch zu vermehren! Die mächtigste und nachhaltigste Hilfe, nicht um uns aus der gegenwärtigen Verlegenheit zu ziehen, sondern um Frankreich später wieder emporzuheben, im Innern zu kräftigen und mit neuen Allianzen zu umgeben – diese wichtigste Hilfe für uns liegt in der katholischen Kirche und ihrer weltumfassenden Macht. Die päpstliche Kurie aber und die Kirche würden wir auf das tiefste, auf das unversöhnlichste beleidigen, wenn wir ihren geschworenen Todfeind jetzt zu Hilfe rufen wollten. Der König Viktor Emanuel, dessen Gesinnungen für Frankreich nur durch die persönlichen Beziehungen zum Kaiser bestimmt werden und der, trotzdem er eben Rom besetzt hat, doch nur an den endlichen Frieden mit dem Papst denkt, würde uns das ebenfalls nicht verzeihen.«

»Der Herr Botschafter von Österreich«, meldete der Huissier.

Der Graf von Chaudordy erhob sich, um dem Fürsten Metternich entgegenzugehen, welcher schnell in das Zimmer trat.

Der Fürst war elegant wie immer. Sein blondes Haar und sein lang herabhängender Backenbart waren sorgfältig geordnet, seine Toilette von tadelloser Frische und einfachster Eleganz, aber auf seinem regelmäßigen, schönen Gesicht, welches sonst heiteren Lebensgenuß und einen fröhlichen, oft etwas spöttischen Humor ausdrückte, lag ein trüber Schleier. Er war bleich und die großen hellen Augen blickten ernst und traurig. Er drückte rasch die Hand des Grafen Chaudordy und ließ sich wie ermüdet in den Lehnstuhl sinken, der neben dem Schreibtisch stand.

»Euer Durchlaucht erraten kaum,« sagte der Graf lächelnd, »wer soeben noch auf diesem Stuhl gesessen hat, den jetzt der Botschafter Seiner Majestät des Kaisers von Österreich einzunehmen mir die Ehre erzeigt und mir dadurch einen neuen Beweis für die Wahrheit des alten Satzes gibt: ›les extrèmes se touchent‹.«

»Ich habe nicht nötig, es zu erraten, mein lieber Graf,« sagte der Fürst, indem er die Handschuhe in seinen Hut warf, den er neben sich auf ein Aktenpaket gestellt hatte, – ich habe nicht nötig, es zu erraten, denn ich weiß es – Garibaldi – –«

»Euer Durchlaucht haben erfahren –?« fragte der Graf Chaudordy.

»Die ganze Stadt spricht davon,« rief der Fürst, – »und außerdem bin ich von anderer Seite informiert worden. Ein Kurier, der soeben von Wien eintraf, brachte mir die Nachricht, daß man dort von den Absichten Garibaldis unterrichtet sei.«

»Er ist gewohnt,« sagte der Graf achselzuckend, »aus seinen Absichten keine Geheimnisse zu machen.«

»Sie haben ihn also gesprochen«, fuhr der Fürst fort. »Sie haben seine Pläne, seine Anerbietungen vernommen?«

»Ich habe ihn angehört,« erwiderte der Graf Chaudordy, – »seine Selbstschätzung flößt mir eine gewisse Bewunderung ein! – Nachdem die bewährten Marschälle Frankreichs geschlagen worden, nachdem unsere festen Plätze teils genommen, teils umzingelt sind, nachdem unsere Armeen zersprengt, nachdem die feindlichen Streitkräfte bis vor Paris gedrungen sind und die Hauptstadt vom Lande getrennt haben, kommt dieser Mann hierher, um uns glauben zu machen, daß er nur seinen Degen in die Luft zu heben nötig hat, um das alles wieder gut zu machen und diese übermächtigen Feinde aus unseren Grenzen zu vertreiben! Entweder ist das die Selbstüberschätzung eines Wahnsinnigen oder die Naivität eines Kindes.«

»Es freut mich, Herr Graf,« rief der Fürst Metternich, »daß ich diese Auffassung bei Ihnen finde – wie ich es allerdings wohl kaum anders hätte voraussetzen können, denn ich bin gekommen, um Ihnen im Interesse Frankreichs die dringende Bitte auszusprechen, sich von jeder Berührung mit den Elementen fernzuhalten, über welche Garibaldi gebietet. Ich spreche Ihnen diese Bitte aus nicht nur in meinem eigenen Namen – denn Sie wissen, daß ich ein aufrichtiger Freund Frankreichs bin, Frankreichs wie des armen unglücklichen Kaisers, den ich noch in der letzten Stunde beschworen habe, sich nicht in diesen verhängnisvollen Krieg hineinreißen zu lassen, – sondern ich bin auch beauftragt,« fuhr er fort, »Ihnen diese Bitte im Namen meiner Regierung auszusprechen. Es wird Ihnen bekannt sein, wie hohen Wert ich immer auf eine Allianz zwischen Österreich und Frankreich gelegt habe, wie sehr ich wünschte, daß Österreich hätte die Zeit finden mögen, sich vollständig wieder innerlich zu erholen und zu kräftigen, um mit Frankreich gemeinschaftlich in Aktion treten zu können, nachdem eine solche Aktion diplomatisch wohl vorbereitet und organisiert gewesen wäre, – und ich habe im vollen Einverständnis mit dem Grafen Beust alles getan, um diesen Wunsch zu erfüllen – leider aber vergebens. Jetzt, Herr Graf, bleibt wenig übrig, was Österreich noch für Frankreich tun könnte – dieses Wenige besteht darin, auf die vorsichtigste Weise seine Stimme zugunsten Frankreichs geltend zu machen und, wenn es irgend möglich, ein Einverständnis der neutralen Mächte herbeizuführen, damit dieselben ihren Einfluß ausüben, um eine zu große Schwächung Frankreichs zu verhindern. Aber auch dies wenige, was die österreichische Regierung hätte tun können und was immerhin vielleicht nicht ohne Bedeutung gewesen wäre, ist schon sehr erschwert durch den Sturz des Kaiserreichs, da Rußland und England weit weniger geneigt sind, für die gegenwärtige, unsichere und völkerrechtlich zweifelhafte Regierung vermittelnd in die Schranken zu treten. Ganz unmöglich aber,« fuhr er fort, »würden unsere bons offices werden, wenn Garibaldi eine hervorragende Rolle in der weiteren Kriegführung spielen sollte, denn dadurch würden die Besorgnisse aller Mächte wachgerufen werden und man würde vielleicht dahin kommen, in der Schwächung Frankreichs zugleich eine Sicherung gegen die europäische Revolution zu erblicken. Ich bitte Sie deshalb, wenn denn der Krieg bis aufs äußerste fortgesetzt werden soll, denselben wenigstens nur durch französische Elemente führen zu lassen, und zwar durch so regelmäßige militärische Elemente als möglich, damit es gelinge, die Sympathien für Frankreich in Europa so lange als möglich zu erhalten.«

Der Graf Chaudordy hatte ernst und aufmerksam zugehört.

»Es bedarf Ihrer Worte nicht, mein Fürst,« sagte er, »um meine Ansicht festzustellen und meine Überzeugung zu bestärken. Alles, was Sie mir zu sagen die Güte hatten, erkenne ich als vollkommen wahr und richtig an; und läge die Entscheidung über die Angelegenheiten Frankreichs in meinen Händen allein, so würde das Streben nach einem schnellen und möglichst vorteilhaften oder vielmehr möglichst wenig nachteiligen Frieden,« sagte er seufzend, »der einzige Zielpunkt unserer politischen Tätigkeit sein. Ich habe indes«, fuhr er fort, »über alle diese Dinge mit meinen hier anwesenden Kollegen zu beraten und bin mit diesen wieder abhängig von den Entscheidungen, welche die eigentlichen Träger der Regierung in Paris uns zukommen zu lassen vielleicht Mittel finden möchten. Wie meine hiesigen Kollegen denken, wie sie über diesen Fall denken, dessen bin ich nicht ganz gewiß, und in dieser Beziehung ist mir Eurer Durchlaucht Mitteilung ganz besonders wichtig und erwünscht, denn die guten Beziehungen zu Österreich und durch Österreichs Vermittlung zu den anderen Mächten liegen meinen Kollegen, das weiß ich, gewiß ebenso sehr am Herzen, als mir. Die Erklärung, welche Eure Durchlaucht mir eben abgegeben, wird mir dabei eine große Unterstützung sein, um meine Ansicht bei den übrigen Mitgliedern der Regierung zur Geltung zu bringen, und ich hoffe, daß Sie mir erlauben werden, zu diesem Zweck Gebrauch davon zu machen.«

»Ohne Zweifel, mein lieber Graf, ohne Zweifel,« sagte der Fürst, »und ich werde glücklich sein, wenn es mir gelingt, Ihre so kluge, vorsichtige und patriotische Auffassung der Verhältnisse zu unterstützen. Haben Sie Nachrichten von Paris?« fragte er, »und von Metz, wird man sich dort halten können?«

»Die allerdings nicht sehr ausführlichen und zuverlässigen Nachrichten, die uns aus Paris zugekommen sind,« erwiderte der Graf Chaudordy, »sprechen von einer hohen Begeisterung der Bevölkerung, von einer großen Tätigkeit des Generals Trochu zur Bildung einer neuen Armee – mir wären,« sagte er achselzuckend, »Nachrichten über einen glücklichen Ausfall und über einen Durchbruch durch die feindlichen Linien lieber, – und von Metz wird berichtet, daß dort alles vortrefflich stehe. Aber auch darüber bin ich nicht sehr beruhigt, denn so groß die Vorräte waren, welche die Festung enthielt, so waren sie doch nicht auf eine so unverhältnismäßige Menge von Soldaten berechnet, als jetzt dort zusammengedrängt sind, und ich fürchte, daß die Hoffnungen auf Metz etwas zu optimistisch sind.«

»Es zirkulieren hier,« sagte der Fürst Metternich, indem er einen scharfen, forschenden Blick auf den Grafen warf, »in den Kreisen der Diplomatie verschiedene Gerüchte – ziemlich vager Natur, allerdings von Negoziationen, welche zwischen dem preußischen Hauptquartier, dem Marschall Bazaine und der Kaiserin stattfänden. Man sprach von einem Frieden, der die Armee Bazaines der Regentschaft zur Verfügung stellen und damit dem Kaiserreich die Handhabe einer starken Machtentwicklung bieten sollte.«

»Ich habe nichts davon gehört,« sagte der Graf Chaudordy ruhig. »Und«, fuhr er fort, indem er den Fürsten fest anblickte, »ich würde es beklagen, wenn solche Verhandlungen stattfänden, denn, wenn sie zu einem Resultat führen sollten, so würde sich die Lage Frankreichs noch unglücklicher gestalten, als sie es jetzt schon ist.«

»Wie wäre das möglich?« rief der Fürst betroffen – »das äußere Unglück Frankreichs kann kaum schlimmer werden, ja ich glaube, daß die Regentschaft bessere Friedensbedingungen erhalten könnte als irgendeine andere Regierung. Für die inneren Zustände aber – verzeihen Sie, ich spreche in diesem Augenblick als Privatmann, – wäre es doch wahrlich ein Glück, wenn eine starke, von ganz Europa anerkannte Regierung sich der Aufgabe unterziehen könnte, die Wunden zu heilen, welche dieser Krieg dem Land geschlagen. Auch Sie, Herr Graf, dienten ja dem Kaiserreich, – Sie waren demselben ergeben und gehörten zu seinen Vertrauten.«

Der Graf Chaudordy schüttelte den Kopf.

»Eine starke Regierung, mein Fürst,« sagte er, »würde das jetzt unter solchen Umständen wieder hergestellte Kaiserreich nicht sein, und die Armee des Marschalls Bazaine würde wahrlich nicht genügen, um der Regentschaft die unbestrittene und anerkannte Macht in Frankreich zu geben. Käme der Kaiser selbst wieder, wäre er jung und kräftig – so wäre es vielleicht etwas anderes, – die Kaiserin aber als Regentin mit Bazaine zur Seite – das ist eine Unmöglichkeit – das wäre das Schlimmste von allem, das wäre der Bürgerkrieg.«

»So glauben Sie nicht,« sagte der Fürst, »daß Frankreich die Regierung wieder annehmen würde, welcher es doch so lange Zeit willig gehorcht und welcher es noch vor kurzem mit so überwältigender Mehrheit sein Vertrauen ausgesprochen hat, um so mehr, wenn diese Regierung ihm den Frieden, die Ordnung und den Wohlstand wiederbrächte?«

»Nein, mein Fürst,« erwiderte der Graf, »das glaube ich nicht. Die Leidenschaften sind zu tief erregt, und wenn das Blut der französischen Nation ins Kochen geraten ist, so bedarf es der Zeit und oft einer langen Zeit, um sich wieder abzukühlen. Selbst Paris würde kaum die Regentschaft annehmen, und Bazaine würde vielleicht in die Lage kommen, die Wälle der Hauptstadt mit Sturm nehmen zu müssen, um die Regentin wieder nach den Tuilerien zu führen. – Alle diese großen Städte der Provinz aber, alle diese größeren und kleineren Armeekorps, die hier und dort noch stehen oder in der Bildung begriffen sind, sie alle würden die Waffen gegen die Regentschaft erheben, und es würde derselben nichts anderes übrig bleiben, als sich mit den Deutschen zur Niederwerfung dieses Widerstandes zu verbinden. Dann aber wehe dem Kaiserreich und dem napoleonischen Namen, dann, mein Fürst, würde es auch für die Zukunft jedes Mittel einer Wiedererhebung verlieren – einer Wiedererhebung,« fügte er hinzu, »die nicht ausgeschlossen sein möchte, wenn der Kaiser jetzt in kluger Zurückgezogenheit die Leidenschaften sich austoben und den Rausch des Hasses und der Verzweiflung verfliegen läßt.«

Der Fürst schwieg einen Augenblick nachdenklich, dann stand er auf und sprach:

»Sie mögen recht haben, Herr Graf, – diese ganze Konversation war nur ein flüchtiger Ideenaustausch über unbestimmte Gerüchte, die mich lebhaft berührten, weil ich persönlich, – ganz persönlich – das Unglück der kaiserlichen Dynastie tief beklage und mich über eine Wendung ihres Schicksals aufrichtig freuen würde, wenn eine solche mit dem Wohle Frankreichs vereinbar wäre.«

Laute Jubelrufe tönten von der Straße herauf, immer mehr sich verstärkend und immer näher herandringend.

»Was ist das?« sagte der Graf Chaudordy, »sollte man noch Volksdemonstrationen für Garibaldi in Szene setzen? Das wäre zu bedauern. Wir dürfen uns hier in unseren Beschlüssen nicht von dem Geschrei der Masse beeinflussen lassen.«

Der Fürst wollte sich entfernen, als eilig und aufgeregt der Huissier aus dem Vorzimmer hereintrat und sagte:

»Eine große Menge versammelt sich vor dem Hause, der Minister Gambetta ist soeben von Paris angekommen und fährt, von dichten Massen umringt, hierher.«

»Gambetta hier?« rief der Fürst Metternich erstaunt. »Ist denn die Einschließung von Paris durchbrochen? Wie kann es ihm möglich geworden sein, durch die Linien zu gelangen?«

Er trat mit dem Grafen Chaudordy ans Fenster.

Eine Menschenmenge wälzte sich heran, in deren Mitte erblickte man Herrn Gambetta, welcher die Portefeuilles des Innern und des Krieges der Regierung der nationalen Verteidigung in seiner Hand vereinigte. Sein Anzug war bestaubt und in Unordnung, er hielt seinen Hut in der Hand, sein langes, dunkles und dichtes Haar war unordentlich zurückgestrichen, und rechts und links grüßend, näherte er sich langsam dem Eingang des Regierungsgebäudes.

Als der Wagen vor dem Portal anhielt und Herr Gambetta ausstieg, brach die ganze, dicht zusammengedrängte Menge, welche die Straße nach beiden Seiten hin erfüllte, in einen fast einstimmigen, weithin hallenden Jubelruf aus.

Der Gefeierte, welchen das in Fieberwallungen zitternde Frankreich in diesem Augenblick zum Götzen seines Vertrauens und seiner Hoffnung erhoben hatte, dieser Mann, welcher eigentlich den Namen seines Todfeindes »Napoleon« trug, der aus Haß gegen diesen Namen dessen erste Hälfte unterdrückt und sich Leon genannt hatte, und der jetzt der Erbe der Macht seines verhaßten Gegners geworden war, wandte sich unter dem Portal noch einmal um, winkte mit der Hand und stieg dann die Treppe zu den Bureaux der Regierung hinauf, wahrend die Menge vor dem Hause stehen blieb, um zu erwarten, was die Ankunft des eifrigsten und tätigsten Mitgliedes der Regierung von Paris bringen würde.

Wenige Augenblicke darauf öffnete der Huissier die Tür des Zimmers, in welchem der Graf Chaudordy und Fürst Metternich sich befanden.

Raschen Schrittes trat Gambetta ein, sein bleiches, abgespanntes Gesicht zitterte vor nervöser Unruhe, seine Lippen zuckten, und während das eine geblendete Auge unter dem herabgesunkenen Augenlid wie schlafend erschien, flammte das andere in fieberhafter Glut. Er trat rasch auf den Grafen Chaudordy zu, dem er die Hand drückte, dann den Fürsten Metternich erblickend, begrüßte er denselben mit einer gewissen zurückhaltenden Kälte, aber doch mit aller ausgesuchten Höflichkeit, welche der Botschafter einer befreundeten Großmacht in Anspruch zu nehmen berechtigt war.

»Sie hier, Herr Minister?« rief der Graf Chaudordy, »wie ist das möglich? Ist Paris befreit?«

»Nein,« rief Gambetta, »es ist fester eingeschlossen als je, es ist aber auch mutiger und hoffnungsvoller als je. Es erwartet, daß Frankreich herankomme, um es zu befreien. Und um diese Befreiung zu organisieren und die ganze nationale Kraft aufzubieten, damit das Land und die Hauptstadt sich die Hand reichen können – dazu bin ich hier.«

»Aber wie,« fragte der Graf Chaudordy, »wie ist es möglich, wie haben Sie die Linien durchbrechen können?«

»Ich habe die Linien nicht durchbrochen,« erwiderte Gambetta, mit einem gewissen theatralischen Pathos die Hand erhebend, »ich bin über sie dahingegangen hoch in den Lüften, in Nadars Ballon. Ich bin hier in der Nähe von Tours zur Erde gekommen, habe die nächste Station erreicht – und da bin ich, um keine Sekunde zu verlieren in dem großen Werk der Befreiung.«

»Eure Exzellenz erlauben, daß ich mich beurlaube,« sagte Fürst Metternich, indem er sich gegen Gambetta verneigte. »Die Herren werden zu konferieren haben, und ich darf in einem so ernsten und wichtigen Augenblick nicht stören.«

Er warf dem Grafen Chaudordy einen bedeutungsvollen Blick zu und entfernte sich, von den beiden Herren bis zur Tür begleitet.

»Sie wissen, daß Garibaldi hier ist!« rief Gambetta, sobald der Fürst das Zimmer verlassen. –

»Er war bei mir«, erwiderte der Graf Chaudordy, »und hat mir sein Anerbieten mitgeteilt, den Guerillakrieg zu organisieren.«

»Und wo ist er,« rief Gambetta, »wo ist er, damit er sein Werk beginne, dies Werk, das einen großen Platz einnehmen wird unter den Mitteln zur Rettung unseres Vaterlandes?«

Verwundert und betroffen blickte der Graf in das aufgeregte Gesicht Gambettas.

»Garibaldi ist in Tours,« sagte er, »ich habe ihm keine bestimmte Antwort geben können, da ich mit meinen Kollegen sprechen zu müssen glaubte.«

»Und Sie haben für seinen Empfang nicht gesorgt, keine Wohnung für ihn bereiten lassen –« rief Gambetta. »Mein Gott, er wird tief verletzt sein, man muß ihn sofort aufsuchen, es ist keine Zeit zu verlieren.«

»Er wollte sich zur Türe wenden.

»Ich muß mir erlauben,« sagte der Graf Chaudordy, »Sie darauf aufmerksam zu machen, Herr Minister, daß es mir bedenklich erscheint, in die Verteidigung des Landes ein fremdes, nicht französisches und vielen Kreisen in Frankreich nicht sympathisches Element zu mischen, es könnte das den guten Willen, den wir bei allen Teilen des Volkes brauchen, verstimmen und außerdem«, fügte er hinzu, »die Beziehungen zu den auswärtigen Mächten trüben. Ich habe soeben Bemerkungen in dieser Beziehung entgegengenommen, die der Beachtung wert sind.«

»Ich kenne nur eins, das der Beachtung wert ist,« rief Gambetta, indem er wieder in das Zimmer zurücktrat und den Blick seines sehenden Auges starr auf den Grafen Chaudordy richtete, »nur eins, auf das wir in diesem Augenblick Rücksicht zu nehmen haben, und das ist: Frankreich zu befreien und die ganze aufsprühende Kraft der Nation dem Feinde entgegenzuschleudern, um ihn über die Grenze zu treiben. Und um dies zu erreichen,« fuhr er fort, »ist der Eintritt Garibaldis in unsere Reihen von unermeßlicher Bedeutung.«

»Der General Garibaldi«, erwiderte der Graf Chaudordy, »hat zwar manche Erfolge gehabt, allein die Truppen, denen er gegenüberstand, waren schon erschüttert, desorganisiert und teilweise von Korruption zerfressen. Ich habe wenig Vertrauen auf seine Siege gegenüber der preußischen Armee und den preußischen Generalen.«

»Das ist gleichgültig,« rief Gambetta, »mögen sie dort bessere Strategen haben, mögen sie in allem diesem General des Volkskriegs überlegen sein, seine Macht, die Bedeutung seiner Person besteht eben darin, daß er uns den Volkskrieg schaffen wird, daß er der Erhebung Frankreichs den Stempel der Demokratie, der Revolution aufdrückt –«

»Und uns dadurch um die Sympathie der Mächte bringen wird,« fiel der Graf Chaudordy ein.

»Was haben uns diese Sympathien geholfen,« rief Gambetta aufflammend in immer heftigerer Erregung, »haben die Monarchen Europas die Hand ausgestreckt, haben sie das Wort gesprochen, um uns zu helfen? – Aus uns selbst, aus der Tiefe des Volkes heraus müssen wir die Kraft schöpfen, die fremden Heere über unsere Grenzen zu jagen. Haben die Freiwilligen von 1793 Taktiker und Strategen gehabt? Waren sie darum minder siegreich? Haben sie minder das Vaterland befreit von den zudringlichen Fremden, welche gekommen waren, das niedergeworfene Königtum wieder aufzurichten? Ich weiß,« rief er zitternd vor Zorn, »sie denken an Ähnliches da drüben in dem Lager der Preußen, sie möchten mit dem Kaiser unterhandeln, sie möchten ein hübsches Stück aus dem schönen Frankreich herausschneiden und dann das Kaiserreich wieder an seine Stelle setzen, damit alles hübsch beim alten bleibe in Europa, damit die Herren auf den Thronen nicht nötig haben, sich zu fürchten vor dem Geiste der Revolution, der im französischen Volke wieder zu erstehen beginnt. Aber sie werden sich verrechnen! – ich will ihnen die Brandfackel der Revolution entgegenschleudern, daß sie Mühe und Not haben sollen, die Dächer ihrer eigenen Häuser zu retten, und daß sie sehr zufrieden sein sollen, wenn es ihnen gelingt, mit heiler Haut aus dem Brande sich zu retten, der rings um sie her zum Himmel aufschlagen soll. Dazu ist es aber notwendig, daß Frankreich groß und frei, ohne Zögern und ohne Umkehr zu der heiligen Revolution sich bekenne, in der es allein Rettung und künftiges Heil finden kann! Und noch glaubt man nirgends so recht an unseren Ernst, der Kaiser ist verschwunden, seine Familie mit ihm,« sagte er in verächtlichem Ton – »das alles hat die vorüberrauschende Welle des Augenblickes fortgespült. Aber sie glauben, daß sie ebenso von der Brandung wieder zurückgerufen werden würden, und sie haben vielleicht nicht ganz unrecht, denn dieser ganze monarchische Despotismus liegt noch in der Gewohnheit der Menge. Wir bedürfen eines großen mächtigen Atemzuges der Revolution, der die Brust des Volkes weit ausdehnt und ihm die Spannung gibt, sich zur äußersten Anstrengung zu erheben, wie jener Riese des Altertums, der seine Kraft aus dem Boden der Erde in sich sog, die seine Mutter war. Diesen Atemzug der Revolution wird uns Garibaldi geben: sobald sein Name den bewaffneten Scharen unseres Volkes voranfliegt, wird das Volk selbst, wird aber auch ganz Europa verstehen, daß es sich nicht allein um den Kampf der einen nationalen Macht gegen die andere handelt, sondern daß hier der Geist der Freiheit, der Geist der unermüdlichen und unerbittlichen Revolution gegen die monarchische Ordnung, diese wahre Feindin der Menschenwürde, in die Schranken tritt. Darum sage ich, es kommt nicht darauf an, ob Garibaldi ein mehr oder weniger guter General ist – er ist die Revolution, er wird das Volk entflammen, er wird den Geist von 1793 wieder erwecken, und in diesem Geist werden wir heute siegen, wie die Republik damals gesiegt hat.«

Er ließ sich, erschöpft von dem heftigen Sprechen, auf den Stuhl niedersinken.

»Mir scheint, daß die größten Siege«, sagte der Graf Chaudordy ruhig, »unter der sehr autokratischen Führung des Generals Bonaparte und später des Kaisers Napoleon gewonnen wurden – doch ich will die rein militärische Frage beiseite lassen und muß nur abermals darauf aufmerksam machen, daß der Name Garibaldi schwerlich zur einmütigen Erhebung aller Parteien in Frankreich beitragen – daß er gewiß aber unsere auswärtigen Beziehungen sehr erheblich verwirren und erschweren wird.«

»Ich kenne nur ein Mittel,« rief Gambetta, »nur ein Mittel, von unserem tiefen Fall uns ganz und vollständig zu erheben, und das Mittel liegt in der rücksichtslosen Entfaltung der Fahne der Revolution. Gelingt es uns, die Revolution zu organisieren und gegen den Feind zu führen, so wird uns nichts widerstehen. Man muß sogleich das Dekret ausfertigen, um Garibaldi das Kommando über die Volksheere zu übergeben – das wird das Vertrauen erwecken, und immer neue Tausende werden zu der von ihm erhobenen Fahne strömen.«

»Das Dekret ausfertigen – Herr Minister?« sagte der Graf betroffen. – »Ich habe dem General Garibaldi gesagt, daß ich mit den übrigen Mitgliedern der Regierung darüber beraten würde. Ich bin allerdings nur der Delegierte, aber ich glaube, daß eine Beratung und genaue Erwägung der Frage immerhin geboten sein möchte.«

»Beraten, erwägen!« rief Gambetta, »– das ist genug geschehen. Die Zeit dafür ist vorbei, es handelt sich jetzt darum, zu handeln, schnell und rücksichtslos zu handeln. Frankreich wird Rechenschaft für die Zeit fordern, welche mit Erwägungen verloren wurde.«

Er ergriff einen Bogen Papier und eine Feder und schickte sich an, seinen Sessel an den Schreibtisch heranrückend, zu schreiben.

»Sie werden die Bemerkung gegründet finden,« sagte der Graf Chaudordy, »daß die Regierung sich als eine kollegialische Gesamtheit konstituiert hat – nicht aber als eine Diktatur, welche ja«, fügte er mit Betonung hinzu, »so wenig dem Wesen der Republik entspricht.«

Gambetta hielt einen Augenblick inne, richtete den Kopf empor und blickte den Grafen durchdringend an:

»Die Diktatur –!« rief er. »Sie haben das Wort ausgesprochen – und ich nehme es an, ich bin bereit, diese Verantwortung zu tragen. Es ist wahr, die Diktatur gehört nicht für die Republik, wohl aber für die Revolution, welche jene vorzubereiten und zu sichern hat. Sei es also die Diktatur, wenn sie nötig ist. In diesem Augenblick«, fuhr er fort, »aber bedürfen wir dieselben noch nicht, denn ich handle vollständig innerhalb der Grenzen meiner Kompetenz, da ich das Portefeuille des Krieges neben dem des Innern übernommen habe.«

Der Graf von Chaudordy schwieg und trat an das Fenster, aus welchem er ernst und nachdenkend auf die dicht gedrängte Menge herabblickte, die dort unten stand und nach dem Fenster spähte, um den vergötterten Helden des Tages zu erblicken.

Gambetta schrieb:

»Dem General Garibaldi wird das Kommando über alle bereits bestehenden und noch zu bildenden irregulären Streitkräfte Frankreichs übertragen. Alle militärischen und zivilen Autoritäten werden angewiesen, allen Requisitionen im Auftrage des Generals unbedingt Folge zu leisten.«

Er siegelte und unterzeichnete das Dekret und erhob sich schnell.

»Wo ist der General?« fragte er. »Es handelt sich nur noch darum, ihm seine Vollmacht zu übergeben und ihn zur eifrigsten Tätigkeit anzutreiben.«

Er wandte sich zu dem neben der Tür hängenden Glockenzug, aber bereits trat der Huissier ein und meldete:

»Der General Bourbaki.«

Erstaunt wandte sich der Graf Chaudordy vom Fenster ab, während Gambetta seinen Blick finster und drohend auf die Tür heftete.

Der General Bourbaki trat ein. Er trug einen dunklen Zivilanzug, einen runden Hut in der Hand. Sein Gesicht war bleich, in seinen Augen funkelte ein krankhafter Glanz, sein Bart hing ungeordnet über die Lippen herab, seine ganze sonst so stolze und kräftige Haltung war schwankend und unsicher.

»Woher kommen Sie, Herr General?« fragte Gambetta scharf und kurz. »Ich erinnere mich, in den Zeitungen gelesen zu haben, daß Sie in Brüssel, in London waren, während die Pflicht Ihres Dienstes Ihnen Ihren Posten in Metz anwies, wo Ihr Korps ohne seinen General gegen den Feind ausrückte.«

Der General zitterte, er stützte sich mit der einen Hand auf die Lehne eines Stuhles, während er mit der anderen über die Stirn fuhr, welche ein kalter Schweiß bedeckte.

»Es ist wahr, ich war in Brüssel, ich war in London – aber ich habe Metz nur verlassen, meinen Posten und die Garde nur verlassen, weil mein Chef mich mit einer Mission absandte, weil man mir den Auftrag – den Befehl erteilte –«

Gambetta streckte die Hand gegen ihn aus, um seine weiteren Worte abzuschneiden. Der Blick des Ministers der Revolution ruhte mit einer gewissen Teilnahme auf dem so gebrochen vor ihm stehenden kaiserlichen General.

»Ich habe Sie unterbrochen,« sagte er mit milderer Stimme, »weil ich nicht wissen will, weshalb Sie Metz verlassen haben. Frankreich bedarf aller seiner Söhne, es bedarf auch Ihres Degens, und wenn Sie denselben Ihrem Vaterland zur Verfügung stellen, so werden Sie sich dessen Dank verdienen.«

»Ich bin verzweifelt, tief niedergedrückt,« rief der General, starren Auges vor sich hinblickend, »daß eine unglückliche Verkettung von Umstanden mich in eine so traurige Lage gebracht hat, und ich würde kein größeres Glück kennen, als die Gelegenheit zu finden, mein Blut für Frankreich zu vergießen – wenn damit,« fügte er finster hinzu, »auch kaum noch etwas gewonnen werden kann, denn die militärischen Hilfsquellen des Landes sind erschöpft, und Metz kann sich nicht mehr halten.«

»Der Marschall Bazaine muß Metz halten!« rief Gambetta in wilder Erregung, »und wenn er sich unter den Trümmern seiner Mauern begraben lassen soll. Wir müssen den Kampf fortsetzen! Wir werden ihn fortsetzen! Die militärischen Hilfsquellen des Landes sind nicht erschöpft, und Sie werden erstaunen über die reichen Mittel, die ich aus denselben noch schöpfen werde – wollen Sie das Kommando über die Loirearmee übernehmen?«

Erstaunt blickte der General auf, einen Augenblick leuchtete das Feuer der Freude in seinen Augen. Nach kurzem Nachdenken aber schüttelte er den Kopf und sagte:

»Ich habe das Korps verlassen, das meiner Führung anvertraut war – die Loirearmee scheint mir in diesem Augenblick günstige Chancen zu haben, ich möchte nicht den Anschein auf mich nehmen, als wolle ich mich in einen glücklichen Erfolg hineindrängen – lieber wäre es mir, in einer anderen Richtung verwendet zu werden.«

»Sie haben vielleicht recht,« sagte Gambetta, »es wird sich Gelegenheit dazu finden. Wir werden noch manche Armee zu bilden und gegen den Feind zu senden haben,« fügte er mit einem Lächeln stolzer Zuversicht hinzu. »Wir werden weiter darüber sprechen, mein General, auf Wiedersehen; für jetzt muß ich Garibaldi aufsuchen.«

Er nahm das Dekret, das er vorhin geschrieben, und mit einer leichten Kopfneigung grüßend, ging er hinaus.

»Garibaldi aufsuchen?« fragte der General Bourbaki, sich ganz bestürzt zum Grafen Chaudordy wendend, »ist Garibaldi hier?«

»Er ist hier«, erwiderte der Graf, »und wird soeben zum Chef aller Franktireurs ernannt, um den Guerillakrieg zu kommandieren.«

»Aber –« rief Bourbaki, mit großen Augen den Grafen anblickend, als höre er etwas Unfaßbares, – »aber –«

»Still, mein General,« fiel der Graf Chaudordy ein, »wir sind in Zeiten angekommen, in denen das Wort ›aber‹ nicht mehr an der Tagesordnung ist. Kommen Sie, ich werde für eine Wohnung für Sie sorgen – und wir werden dann ein wenig plaudern. Es wird mich im hohen Grade interessieren, zu hören, was Sie dort oben gemacht haben und wie die Sachen nach jener Seite hin stehen.«

Er nahm den Arm des Generals und führte denselben hinaus, wahrend von unten herauf die lärmenden Rufe der Menge ertönten, die den Diktator begrüßten, wie man ihn auch schon unter dem Volk zu nennen begann, als er in seinen Wagen stieg und den Befehl gab, nach der Wohnung Garibaldis zu fahren, wohin ihm die Volksmassen voraneilten.


 << zurück weiter >>