Gregor Samarow
Held und Kaiser
Gregor Samarow

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Vierundzwanzigstes Kapitel

Frau von Rantow und Fräulein Anna Cohnheim hatten ihre Besuche bei dem Oberstleutnant von Buchenfeld täglich wiederholt und die Krankheit des alten Herrn hatte unter der sorgfältigen liebevollen Pflege der Damen einen zwar sehr langsamen, aber günstigen Verlauf genommen. Immer aber hatte er sein Bett noch nicht verlassen können und Fräulein Anna mit unermüdlichem Eifer ihm aus seinem Lieblingsbuche von den Taten des großen Friedrich und seiner ruhmvollen Armee vorgelesen, an denen der Geist des kranken und gebrechlichen alten Soldaten sich erfrischte und aufrichtete. Das junge Mädchen blieb täglich stundenlang bei dem alten Mann, wenn Frau von Rantow für die Bedürfnisse seiner leiblichen Pflege gesorgt hatte, sie erfreute den Oberstleutnant ebensosehr durch die Lektüre des Archenholz als durch ihr Geplauder und die Fragen, welche sie bald über diesen, bald über jenen militärischen Ausdruck stellte, und welche ihm Gelegenheit zu Erklärungen und Erläuterungen gab, denen sie mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zuhörte. »Bald werden Sie das alles ebensogut verstehen, als ob Sie ein Soldatenkind wären«, sagte der alte Herr dann, wohlgefällig lächelnd, und niemals entließ er sie am Abend, ohne die Hand auf ihr Haupt zu legen und des Himmels Segen auf sie herabzurufen dafür, daß sie so viel von ihrer Zeit der Pflege und Erheiterung eines alten einsamen Mannes widme. Und jedesmal von neuem durchschauerte es sie bei diesen Segensworten, – ebenso wie bei dem Klang und Tonfall der Stimme des Oberstleutnants, welche so oft gewisse Erinnerungen in ihr wachrief, – Erinnerungen, die sie für immer ertöten wollte und die sie doch immer noch mit zauberischer Gewalt bewegten und hier in dem kleinen stillen Zimmer neben dem alten gebrochenen und kranken Manne, der mit glücklichen Blicken ihren Worten lauschte, ein anderes Bild voll Jugend, Kraft und Leben erscheinen ließ, – ein Bild, das einst all ihr Glück in sich faßte und das aller Schmerz und Kummer nicht aus ihrem Herzen hatte reißen können.

Der Oberstleutnant hatte von seinem Sohne wenig gesprochen, – er hatte nur kurze Billetts und Postkarten von demselben erhalten, welche ihm mitteilten, daß der Leutnant noch unverwundet geblieben und dem Hauptquartier des Prinzen Friedlich Karl aggregiert sei. Jede solche Nachricht hatte den alten Herrn glücklich gemacht, mehr und mehr stärkte sich sein gläubiges Vertrauen, daß Gott sein Gebet erhören und den einzigen Sohn, das Einzige überhaupt, das ihn noch an die Welt und das Leben fesselte, ihm erhalten werde. Auch freudiger Stolz erfüllte ihn über die Auszeichnung, welche seinem Sohn widerfahren, – er erblickte in derselben in seinem frommen, einfachen Sinn einen Ersatz, den ihm die Vorsehung für sein in stiller, ruhmloser Pflichterfüllung hingebrachtes Leben geben wolle, und in diesem Gefühl verschwand die Erinnerung an seine enge, beschränkte Vergangenheit vor dem lichten Bilde der Zukunft seines Sohnes, welcher so jung schon das Glück hatte, die ersten Stufen militärischer Auszeichnung zu ersteigen.

Der Oberstleutnant teilte diese kurzen Nachrichten stets der Frau von Rantow mit, welche mit einigen herzlichen Worten ihre Teilnahme aussprach, während Fräulein Anna in eigentümlich gemischten Gefühlen mit tief herabgesenktem Haupt in ihrem Buche blätterte, um die Stelle zu finden, an der sie am Tage vorher ihre Lektüre beendet.

So waren Wochen auf Wochen hingegangen, und immer lieber war dem jungen Mädchen die Aufgabe des tätigen Liebeswerks an dem Krankenbette des alten Herrn geworden, welche ihr in dieser so ernsten und schweren Zeit einen Beruf und eine Pflicht gab, die sie mit Freude erfüllten, – immer mehr schloß sie sich mit wahrhaft kindlicher Liebe an diesen schlichten alten Soldaten, der in seinen einfachen Gesprächen, in den gelegentlich erzählten Erinnerungen aus seinem so ruhig und gleichmäßig verlaufenen Leben doch so viel tiefe, ergebene Frömmigkeit, so viel reine, mit Kleinem und Wenigem sich bescheidende Heiterkeit und dabei ein so fast erhaben ritterliches Gefühl für Ehre, für alles Große und Edle zeigte, daß oft eine tiefe Rührung ihr Herz erfüllte, wenn sie der Welt gedachte, in welcher ihr Vater lebte und in welcher sie aufgewachsen war, jener Welt, in der das Ringen nach Gold alles bewegte, in der der Besitz der einzige Maßstab war für Menschenwert und Menschenglück. Dann dachte sie mit dumpfem Schmerz auch an ihre Zukunft, welche ebenfalls nach diesem Maßstab des Glücks gemessen war, und unter diesen Eindrücken, die immer tiefer und tiefer sich in ihre Seele gruben, wurde ihr die Verbindung mit dem jungen Baron von Rantow zu einer drückenden Fessel, denn sie war gewiß, daß kaum etwas anderes als äußere Rücksichten den jungen Mann bestimmt hätten, – wie sie ja selbst auch nur in einer gewissen stumpfen Gleichgültigkeit sich entschlossen hatte, dem Baron ihre Hand zu reichen.

Da war eines Tages zugleich mit der Nachricht von der Kapitulation von Metz ein Brief des Kommerzienrats gekommen, der seine nahe Rückkehr ankündigte, und schon am Tage darauf, als Anna abends von ihrem Besuche bei dem Oberstleutnant zurückkam, fand sie ihren Vater, der eben angekommen war und seiner Frau in hastigen, abgebrochenen Sätzen von seinem Leben im Hauptquartier erzählte, wobei die Kommerzienrätin mit ganz besonderem Interesse vernahm, daß die patriotische Tätigkeit ihres Mannes die besondere Anerkennung des Prinzen gefunden habe, und daß sogar, wie der Kommerzienrat mit einer gewissen würdevollen Feierlichkeit versicherte, im großen Hauptquartier vor Seiner Majestät selbst von den Leistungen des Vereins, den Herr Cohnheim vertrat, gesprochen worden sei. Die Kommerzienrätin richtete sich höher auf und fühlte schon die Wonne des Augenblicks im voraus, in welchem sie von dieser höchsten und allerhöchsten Anerkennung würde in dem Damenverein sprechen können, in den sie durch Frau von Rantow eingeführt worden war.

Da trat Fräulein Anna in das Zimmer, und der Kommerzienrat, welcher sein Reisekostüm mit einem bequemen Schlafrock vertauscht hatte und im Lehnstuhl hinter der duftenden Teetasse saß, legte seine eben angezündete Regaliazigarre zur Seite, erhob sich, ging seiner Tochter entgegen, die mit freudiger Herzlichkeit zu ihm hineilte, und umarmte sie mit einer Miene voll feierlichen Ernstes.

Dann führte er sie zu einem Stuhl neben ihrer Mutter, und indem er sich wieder niederließ, begann er, ein Bein über das andere schlagend, nach kurzem Räuspern:

»Ich habe deine Rückkehr erwartet, mein Kind, um nach den erhebenden Mitteilungen über unsere herrliche Armee, nach den hocherfreulichen Nachrichten über die so reiche Anerkennung, welche meiner aufopfernden Mühe zuteil wurde, – nun auch von einem traurigen – einem peinlichen Ereignis zu sprechen, – das dich vor allem angeht.«

Betroffen blickte Fräulein Anna auf.

»Der Baron von Rantow –« fuhr Herr Cohnheim fort.

»Mein Gott,« rief die Kommerzienrätin, – »dem Baron ist doch kein Unglück widerfahren? – er ist doch nicht krank – verwundet?«

Um die Lippen des Kommerzienrats spielte ein höhnisches Lächeln, das nicht recht zu seinem so freundlichen, selbstzufrieden-heitern Gesicht paßte.

»Er befindet sich ganz wohl – ganz wohl,« sagte er achselzuckend, – »aber,« fuhr er fort, indem er die Falten seines Schlafrocks enger zusammenzog und einen langen Zug aus seiner Zigarre tat, – »für uns ist er tot – und ich hoffe, daß meine Tochter die Sache ebenso aufnehmen wird als ich, – und sich über den Abbruch einer Verbindung trösten wird, die wir leicht durch eine andere ersetzen werden –« fügte er hinzu, indem er langsam schlürfend einen Schluck aus seiner Teetasse nahm.

»Welch ein Unglück! – welch ein Unglück!« rief die Kommerzienrätin, – »um Gottes willen, was ist geschehen? – erzähle, – was hast du getan?«

Sie sank an die Lehne des Sofas zurück und drückte ihr Taschentuch an die Lippen.

»Mein armes Kind, – fasse dich, meine Tochter,« sagte sie dann, indem sie ihrem Gesicht den Ausdruck zärtlicher mütterlicher Teilnahme und Besorgnis zu geben versuchte, – »wie kannst du so unvorbereitet –«

»Vorbereitet oder unvorbereitet, – einmal muß sie es doch erfahren,« fiel der Kommerzienrat ein, – »fassen muß sie sich, – und ein armes Kind ist sie gar nicht, sondern die Tochter des Kommerzienrats Cohnheim, die jeden Tag statt des Barons einen Grafen haben kann.«

Fräulein Anna sah übrigens durchaus nicht so aus, als ob sie des mütterlichen Trostes bedürfe. Sie war wohl erstaunt und verwundert, aber kein Zug von Schmerz oder Jammer lag auf ihren Zügen, ja es schien, als ob ein Schimmer von Freude in ihrem Blick aufleuchtete, und wie erleichtert hob sich ihre Brust, als sie den Mantel, welchen abzulegen ihr der Kommerzienrat keine Zeit gelassen hatte, auf ihren Sessel zurückfallen ließ.

Auf die drängenden Fragen seiner Frau begann nun der Kommerzienrat seine Erlebnisse im Schloß von Villebois zu erzählen, oft von den zornigen Ausrufungen der so plötzlich aus allen Himmeln ihrer vornehmen Verbindungen gestürzten Kommerzienrätin unterbrochen, während Fräulein Anna in stiller, fast lächelnder Ruhe zuhörte.

»Aber, mein Gott,« rief die Kommerzienrätin, als die Erzählung beendet, – »wie hast du so vorschnell handeln, – alles so rücksichtslos abbrechen können, – in unserem Stande, – in der vornehmen Welt muß man alles sanft, ruhig und behutsam anfassen, – keinen Eklat machen! – Was ist es denn am Ende auch gewesen, – eine kleine Gefühlsverirrung, – eine vorübergehende Courmacherei, – die vielleicht gar keine Konsequenzen gehabt hätte! – Was wird Frau von Rantow sagen, – wie wird unsere Stellung erschüttert werden!«

»Unsere Stellung?« rief der Kommerzienrat, sich hoch aufrichtend und die Arme untereinanderschlagend, – »unsere Stellung? Die Stellung des Hauses Cohnheim ist eine sehr feste und respektable, – so fest und respektabel,« fuhr er fort, – »daß ich nicht nötig habe, mich an den Baron von Rantow zu halten, um meinen Platz in der Welt zu behaupten; Seine Königliche Hoheit der Prinz Friedrich Karl haben mich nicht darum ausgezeichnet, weil der Baron Rantow mein Schwiegersohn ist, sondern weil ich der Kommerzienrat Cohnheim bin, der sein gutes Geld, – sein ehrlich erworbenes Geld hergegeben – und mit Freuden hergegeben hat zur Erquickung und Stärkung der braven Soldaten, und Seine Majestät, als er seine Zufriedenheit über meinen Eifer aussprach, – hat gewiß nicht gewußt, daß der Baron von Rantow meine Tochter heiraten sollte –«

»Was wird die Baronin sagen,« sprach die Kommerzienrätin, welche die Worte ihres Mannes kaum gehört hatte, – »man muß versuchen, das wieder in Ordnung zu bringen.«

»Nichts wird man in Ordnung bringen,« rief der Kommerzienrat, purpurrot vor Zorn, – »ich habe alles in Ordnung gebracht, wie es sein muß, und so bleibt es, – und du, meine Tochter, sollst nichts verlieren, – tröste dich über den Baron, – ich werde dir einen Grafen kaufen!«

Und mit großen Schritten, mächtige blaue Wolken emporblasend, ging er auf und nieder, während die von seinen heftigen Bewegungen aufgegangenen Quasten seines Schlafrockes lang hinter ihm her zogen.

»Ich glaube,« sagte Fräulein Anna, indem sie aufstand und den Arm sanft auf die Schulter des Vaters legte, – »ich glaube, daß ich wohl ein wenig mitzusprechen habe, da mich doch die Sache am nächsten angeht, – und ich, mein Vater, bin ganz mit dir einverstanden, – ich danke dir, daß du so schnell und entschlossen gehandelt hast.«

»Aber, mein Kind, bedenke –« sagte die Kommerzienrätin.

»Ich finde nichts dabei zu bedenken, Mama,« erwiderte Anna kurz und fest, – »daß der Baron nicht aus Liebe sich mit mir verbunden hat, weiß ich, – auch würde ich ihm kleine Gefühlsverirrungen –« sagte sie mit einem flüchtigen Lächeln, – »gerne nachgesehen haben, – wenn er aber selbst ausspricht, daß er mich nicht liebt, – wie er es getan, – wenn er die Entscheidung über die Erfüllung seines Versprechens in meine Hände legt, – dann bleibt mir nichts zu tun, als ihm sein Wort zurückzugeben, – ich danke dir nochmals, mein Vater, daß du dies sogleich in meinem Namen getan – und«, fügte sie in heiterem Ton hinzu, – »ich verspreche dir, daß ich mich trösten werde, auch wenn du mir keinen – Grafen kaufst.«

»Du bist ein braves, gutes Kind,« sagte der Kommerzienrat, indem er einen kräftigen Kuß auf die Stirn seiner Tochter drückte, – »du weißt, was du dir und deinem Vater schuldig bist; – morgen werde ich mit dem alten Baron sprechen, – seinetwegen tut es mir leid,« sprach er seufzend, – »wir hätten vortreffliche Geschäfte miteinander machen können; – und nun – kein Wort weiter über die Geschichte, – sie ist abgetan und aus, – sie soll aus sein!« fügte er zu seiner Frau gewendet mit einem befehlenden Blick hinzu, der jedoch auf die sinnend in die Sofaecke gelehnte Kommerzienrätin nicht ganz den Eindruck zu machen schien, den er von demselben erwarten mochte. Doch sagte sie nichts, und bald zog sich die Familie zur Ruhe zurück, – die Kommerzienrätin und Fräulein Anna mit ihren sehr wenig ähnlichen Gedanken beschäftigt; – der Kommerzienrat allein, mit sich selbst vollständig im klaren und müde von seiner Reise, schlief fest und ruhig, und in seinem Traum sah er ein weiß und orange Band aus einer glänzenden Wolke herabwehen, und ein silberblinkendes Kreuz mit einem roten Adler senkte sich auf seine Brust nieder. Immer weiter führten ihn die wunderbar verschlungenen Traumbilder, und endlich sah er sich vor seinem Schreibtisch stehen, – er verschloß einen Brief mit hellrotem Siegellack, der wunderbar aromatisch, Myrrhen und Weihrauch ähnlich, das Zimmer durchduftete, dann stieß er ein großes, goldenes Petschaft mit Diamanten und Rubinen besetzt, auf die weiche, rote Masse nieder, und als er es wieder emporhob, sah er ein schön und scharf aufgedrücktes Siegel mit einem gekrönten Helm. Er blickte auf die Feder des von diesem Helm überragten Wappens, – aber ein heller Glanz strömte von demselben aus, der sein Auge blendete und ihn erweckte. Unmutig drückte er sich in die Kissen zurück und versuchte das schöne Traumbild festzuhalten, aber der wiederkehrende Schlaf brachte dasselbe nicht zurück.

Am nächsten Morgen erhielt Fräulein Anna den Brief des Barons von Rantow, den dieser unmittelbar nach der Abreise des Kommerzienrats von Villebois an sie abgesendet. Der Brief war herzlich, offen und würdig geschrieben, er gab ihr vollkommen den ruhigen Gleichmut dieser ihre Mutter so tief bewegenden Katastrophe gegenüber wieder und söhnte sie mit ihrem bisherigen Verlobten vollständig aus, – sie schrieb an denselben sogleich ebenso offen, klar und freundschaftlich, und während der Kommerzienrat in seinen länger als sonst fortgesetzten Morgenträumen noch immer den glänzenden Wappenschild auf dem roten Siegel wiederzufinden suchte, – während die Kommerzienrätin bei ihrer komplizierten Morgentoilette darüber nachsann, wie sie nach dem Vorgefallenen ihre Stellung zu nehmen habe, und wie sie das von ihrem Mann so leichtfertig abgebrochene Verhältnis in angemessener Weise wieder anknüpfen könne, – war Fräulein Anna bereits mit dem Brief des Barons und mit ihrer Antwort zu Frau von Rantow hinabgeeilt und hatte ihr dieselben vorgelesen.

Die Baronin hatte sie in ihre Arme geschlossen, ihr völliges Einverständnis mit der Antwort an ihren Sohn ausgesprochen und zugleich gesagt, daß sie stets mit Sorge und Unruhe das kühle und fremde Verhältnis zwischen den jungen Leuten beobachtet habe, und daß ihr diese Lösung für die Zukunft beider glücklich und heilsam erscheine. Zugleich aber hatte sie das junge Mädchen gebeten, in ihr stets wie bisher eine treue, mütterliche Freundin zu sehen. Auch der Baron, dem seine Gemahlin sogleich die Sache mitteilte, nahm dieselbe sehr ruhig auf, und als er von den Vorgängen auf dem Schloß des Grafen von Villebois hörte, schien ihm die dort sich entwickelnde Zukunft seines Sohnes sehr einleuchtend, – er schlug in einem französischen Adelslexikon nach, das er mit einer reichen Anzahl heraldischer und genealogischer Werke in seiner Bibliothek besaß, – er fand die Familie des Grafen von Villebois als eines der ältesten und vornehmsten Geschlechter Lothringens verzeichnet, welches vielfache Verbindungen mit fürstlichen Häusern aufzuweisen hatte, und bald begann er die Auflösung der Verbindung mit dem Hause Cohnheim als ein durchaus glückliches und befriedigendes Ereignis zu betrachten.

Als die Kommerzienrätin steif und verlegen und der Kommerzienrat mit zurückhaltender Würde bei Herrn und Frau von Rantow erschienen, fanden sie die schwierigen und peinlichen Erörterungen vollständig geebnet und geordnet, – der Baron versicherte Herrn Cohnheim, daß das Vorgefallene auf ihre beabsichtigten gemeinschaftlichen Geschäftsunternehmungen keinen Einfluß haben dürfe, und Frau von Rantow bat die Kommerzienrätin, ihre freundschaftlichen Beziehungen fortzusetzen und gemeinschaftlich im Kreise ihrer Bekannten die Auflösung der Verlobung ihrer Kinder mitzuteilen, um allem Geschwätz und aller Kritik im voraus die Spitze abzubrechen. So war denn alles heiter und zufrieden, – nur Fräulein Anna blieb ernst und still und brachte nach wie vor einen großen Teil des Tages bei dem Oberstleutnant von Büchenfeld zu, dem die Nähe des jungen Mädchens ein unentbehrliches Bedürfnis geworden war.

Die Kommerzienrätin versuchte zwar zuweilen von neuem gegen diese Besuche Einsprache zu erheben, – aber die Berufung auf Frau von Rantow, von welcher sie nun, da die künftige Verwandtschaft nicht mehr bestand, in Betracht ihrer Stellung ganz abhängig war, brachte sie zum Schweigen.

So war die Weihnachtszeit herangekommen.

Der Oberstleutnant war langsam zur Genesung fortgeschritten, – er hatte allmählich wieder aufstehen können, – Frau von Rantow hatte trotz seiner Protestationen einen großen, weichen und bequemen Lehnstuhl gesendet, in welchem der alte Herr, obwohl er es nicht einräumen wollte, sich äußerst behaglich befand. Nur zu der Bequemlichkeit eines Schlafrocks, welchen er eine unmännliche Verweichlichung nannte, hatte er sich nicht verstehen wollen, und seit er wieder aufstehen konnte, hatte er stets den schwarzen Militärüberrock getragen, denn wenn er auch, wie er sagte, als unnützer Invalide hier im Lehnstuhl sitze, so sei es ihm doch eine heilige Freude, in dieser großen Zeit neuer Ruhmestaten der Armee des Königs Rock zu tragen.

Frau von Rantow war seit einiger Zeit unpäßlich und konnte das Zimmer nicht verlassen. Als am Nachmittag des Weihnachtsabends die frühe Dunkelheit hereinbrach, erschien Fräulein Anna in dem Zimmer des alten Herrn, während der sie begleitende Diener mit Friedrich, des Oberstleutnants Burschen, mit einiger Unruhe, welche durch ihre mühsam zu leisem Geflüster gedämpften Stimmen noch bemerkbarer wurde, verschiedene Gegenstände vom Wagen die Treppe hinaufschaffte.

Der Oberstleutnant wollte sich erheben, aber Fräulein Anna drückte ihn sanft in seinen Lehnstuhl zurück und bot ihm ihre Stirn dar, welche er leise mit den Lippen berührte, indem sein Blick glücklich und verklärt auf dem jungen Mädchen ruhte.

»Es ist gar so freundlich von Ihnen.« sagte er, »daß Sie auch heute gekommen sind, – heute am Weihnachtsabend, – wo Sie doch gewiß viel Freude zu Hause haben, – um mir –«

»Still, still, Herr Oberstleutnant,« rief Anna, indem sie die Spitzen ihrer Finger auf den Mund des alten Herrn legte, – »sollte ich denn heute nicht kommen, – heute, wo man ja allem, was man lieb hat, Freude machen möchte? – Und meine Gesellschaft macht Ihnen ja ein wenig Freude, – nicht wahr? – Sie haben es mir wenigstens gesagt –«

»Sie bringen lichten Sonnenschein in meine stille, dunkle Einsamkeit,« sagte der Oberstleutnant bewegt, – »aber Sie dürfen nicht zu viel –«

»Nun,« fiel Fräulein Anna ein, – »wenn ich Ihnen nur ein wenig Freude mache, so bin ich zufrieden! – Nun aber«, fuhr sie fort, »muß ich Sie noch ein wenig plagen, – Sie müssen für eine kurze Zeit da hinein in Ihr Schlafzimmer und mir das Terrain hier überlassen, damit ich ein wenig mit dem Weihnachtsmann hier verkehren kann –«

»Nein, nein,« rief der alte Herr abwehrend, – »das ist zu viel –«

»Herr Oberstleutnant,« sagte Anna, indem Sie sich gerade aufgerichtet vor ihn hinstellte, – »Sie haben mir von dem stummen Gehorsam erzählt, den ein Soldat dem militärischen Befehl gegenüber beobachten müsse, – darf ich«, fuhr sie mit schmeichelndem Ton fort, – »heute für meine Bitte auch einmal den stummen Gehorsam in Anspruch nehmen?«

»Ihnen kann ich nicht widerstehen,« sagte der alte Herr lächelnd, – und mühsam suchte er sich zu erheben.

Fräulein Anna eilte hinaus und rief Friedrich, um den Lehnstuhl in das Schlafzimmer zu tragen, – dann führte sie den Oberstleutnant dorthin, – ermahnte ihn zu kurzer Geduld und schloß die Tür.

Mit Hilfe ihres Dieners und unter sprachlosem Erstaunen Friedrichs bedeckte sie den Tisch im Wohnzimmer mit weißem Leinen, stellte einen grünen, waldduftenden Tannenbaum auf denselben und legte daneben eine große Pfeife mit prachtvoller Bernsteinspitze und mächtigem silberbeschlagenem Meerschaumkopf mit dem kunstvoll geschnitzten Wappen des Oberstleutnants, – einen in feiner Seide, Gold und Silber gestickten Tabaksbeutel, – ein spanisches Rohr mit schwerem goldenen Knopf und einen silbernen Trinkbecher; – neben den Tisch auf die Erde ließ sie einen großen geflochtenen Korb stellen, den der Diener vorsichtig hereinbrachte, – dann entzündete sie selbst die Lichter, befahl Friedrich, den Lehnstuhl seines Herrn wieder hereinzubringen, führte dann den Oberstleutnant, ihn sorgsam unterstützend, in das vom hellen Lichterglanz erfüllte Zimmer zu dem unmittelbar neben den Tisch gestellten Lehnstuhl.

Der alte Herr ließ sich langsam nieder und blickte, die Hände faltend, in die lichtdurchfunkelten grünen Zweige des Weihnachtsbaums.

»Hier,« rief Fräulein Anna in hastiger Geschäftigkeit, – »diese Pfeife sendet Ihnen Frau von Rantow, damit Sie sich nie wieder scheuen, in ihrer Gegenwart zu rauchen, – als galanter Mann müssen Sie ihrem Geschenk ja Ehre antun, – diesen Stock der Baron, um sich darauf zu stützen, wenn Sie nun bald wieder ausgehen, – dazu diesen Becher und diesen Korb mit altem Bordeaux und Madeira – und hier,« fuhr sie ein wenig zögernd fort, – »Sie haben oft gescholten über die moderne Zeit und die Zigarren, statt deren die Soldaten früher den Tabaksbeutel bei sich trugen, – da hab' ich Ihnen denn diesen Tabaksbeutel gestickt, – ich habe gedacht, Sie würden sich darüber freuen, – und Tabak ist auch darin, – so gut ich ihn finden konnte, ich – verstehe mich nicht darauf, – Sie müssen ihn aber gleich probieren.«

Sie nahm, während der alte Herr immer noch schweigend in das Licht des Baumes blickte, die Meerschaumpfeife, stopfte sie aus dem Tabaksbeutel langsam und sorgfältig und brachte sie dann mit einem brennenden Fidibus dem Oberstleutnant, der sie wie mechanisch nahm und einige Züge daraus tat.

»Wie schön ist das,« sagte er dann, immer in die Lichter blickend, – »wie schön, – und wie gut sind Sie! Kommen Sie her,« sagte er dann, die Hände ausstreckend und Fräulein Anna zu sich heranziehend, – »kommen Sie her, – recht nahe zu mir, – um mich so recht über diese Lichter freuen zu können, muß ich den Glanz derselben in Ihren Augen wiederleuchten sehen.«

Das junge Mädchen, deren Hand er immer in der seinen hielt, ließ sich zu seinen Füßen in die Knie sinken und blickte glücklich und liebevoll zu ihm auf, – der Glanz der hellen Weihnachtslichter schien wirklich aus ihren Augen zurückzustrahlen, und eine helle Träne rann über die bleiche, welke Wange des Oberstleutnants in seinen grauen Bart hinab.

Rasch dann, als schäme er sich dieser Schwäche, fuhr er mit der Hand über die Augen und rief mit lauter Stimme:

»Friedrich!«

Der Bursche trat herein und sah mit glücklichem, frohem Gesicht auf den brennenden Weihnachtsbaum und auf seinen Herrn, der in großen Zügen aus der neuen Pfeife rauchte.

»Friedrich,« sagte der Oberstleutnant, indem er seine Börse aus der Tasche zog, – »hier ist ein Taler für den Diener des Fräuleins und ein Taler für dich, – und für diesen dritten Taler holst du eine Flasche Wein, die ihr trinken werdet auf das Wohl –«

Er hielt inne.

»Nein,« sagte er leise, – »das ist nicht das Rechte, ihr werdet sie trinken auf das Wohl unseres allergnädigsten Königs und Herrn –«

Friedrich richtete sich stramm empor.

»Und dann,« fuhr der Oberstleutnant fort, – »du hast in der Schule dein Abendgebet gelernt?«

»Zu Befehl, Herr Oberstleutnant,« erwiderte der Bursche, – »aber ich vergesse es zuweilen,« fügte er in zögernder Verlegenheit hinzu.

»Du wirst es nicht vergessen,« sagte der Oberstleutnant, »und wirst jeden Abend den lieben Gott um seinen Segen für diese Dame bitten, – wie ich es tue.«

Er legte seine Hand auf das in tiefer Rührung niedergebeugte Haupt des jungen Mädchens.

»Zu Befehl, Herr Oberstleutnant!« rief Friedrich, indem er die Absätze schallend aneinander schlug und die kleinen Finger vorschriftsmäßig hinter die Seitennaht seiner Beinkleider brachte, – »und tausend Donnerwetter sollen mich verschlagen, wenn ich das vergesse!« Und auch über sein breites Gesicht rollte ein Tränentropfen herab, den er, da seine Hände dienstmäßig festgelegt waren, nur mit der Zunge aufzufangen wußte.

Dann machte er militärisch Kehrt und verließ, scharf auftretend, das Zimmer.

»Nun, mein liebes Kind,« sagte der Oberstleutnant, »habe ich noch eine Bitte, – ihre Erfüllung soll diesem schönen Feste der Liebe und der Freude die wahre Weihe geben.«

Anna blickte fragend zu ihm empor, bereit aufzuspringen, um seinen Wunsch zu erfüllen.

»Doch zuerst«, sprach er mit weichem Ton weiter, »nehmen Sie dort jenes bekränzte Bild herab und stellen Sie es hier auf den Weihnachtstisch, – diese lieben treuen Augen, die ich hier auf Erden nur noch in jenem Abbild sehen kann, das ihr warmes Licht nicht wiederzugeben vermag, – diese lieben Augen werden sich im Strahl dieser Weihnachtskerzen beleben, und ich werde glauben, daß sie bei mir sei, meine treue Gefährtin in Freud und Leid, – und sie wird bei mir sein, – ihr Geist wird aus der Ewigkeit, wo sie mich erwartet, herabblicken, hat sie doch auch ihren Teil an dem, was mir jetzt die höchste Weihnachtsfreude bereiten soll.«

Fräulein Anna war schon hingeeilt und hatte vorsichtig das Bild über dem Schreibtisch von seinem Nagel genommen; dann breitete sie die Zweige des Weihnachtsbaumes auseinander und lehnte das Bild zwischen dieselben an den Stamm, so daß es von einem frischgrünen Kranz umschlossen war und der zitternde Lichterschein dem Gesicht und den Augen Bewegung zu verleihen schien.

Der Oberstleutnant blickte wehmütig auf diese geliebten Züge, – er nickte leise mit dem Kopf, als wolle er die Dahingeschiedene begrüßen, – dann sprach er zu Fräulein Anna, welche erwartungsvoll vor ihm stand:

»Nun müssen Sie mir – und meiner lieben Frau da etwas vorlesen, das ich von Ihrer Stimme am liebsten höre; – ich habe«, fuhr er fort, – »heute in der Früh einen Brief von meinem Sohn erhalten, – den ersten langen und ausführlichen Brief seit langer Zeit, – ich habe aus der Aufschrift gesehen, daß er lebt und schreiben kann, – aber meine schwachen Augen erlauben mir noch nicht selbst zu lesen, – und von meinem Friedrich wollte ich mir das nicht vorbuchstabieren lassen, – da habe ich denn den Brief aufbewahrt, bis Sie kämen, – freilich erwartete ich Sie heute nicht, – nun Sie aber doch gekommen sind und mir so große Freude gemacht haben, – nun müssen Sie mir auch den Brief meines Sohnes vorlesen, – hier unter dem brennenden Weihnachtsbaum, – vor dem Bilde seiner Mutter.«

Er zog einen noch versiegelten Brief aus der Brusttasche seiner Uniform und reichte ihn dem jungen Mädchen.

Eine dunkle Glut zog über Annas Gesicht, – mit zitternder Hand, fast widerstrebend, nahm sie den Brief, den er ihr reichte, eine schmerzliche Bitterkeit zuckte einen Augenblick durch ihre Züge.

»Es könnten Geheimnisse darin stehen,« sagte sie unschlüssig, – »die für mich« –

»Lesen Sie, – lesen Sie, – ich bitte Sie darum,« sagte der alte Herr dringend, »was mein Sohn mir schreibt, können Sie alles lesen.«

Fräulein Anna zögerte noch einen Augenblick, dann erbrach sie das Siegel, und sich dem Oberstleutnant gegenüber in das Licht des Weihnachtsbaumes setzend, begann sie zu lesen. Zwar zitterte ihre Summe merklich, aber der alte Herr war selbst zu bewegt, um darauf zu achten.

Der Leutnant von Büchenfeld erzählte zuerst frisch und lebendig von den Operationen der Armee des Prinzen Friedrich Karl, klar und scharf die militärisch-technischen Gesichtspunkte präzisierend, – wobei dann der Oberstleutnant immer stolz mit dem Kopf nickte, obwohl ihm manchmal doch nicht alles völlig klar zu sein schien und er solche Stellen noch einmal zu lesen bat, – dazwischen waren Episoden hübsch und fesselnd erzählt, – kleine Züge aus dem Humor und dem Heldentum des Soldatenlebens, die den Alten höchlich erbauten und ergötzten, – und endlich erzählte der junge Offizier bescheiden, fast beiläufig, daß er das Eiserne Kreuz erhalten, dann, daß er zum Premierleutnemt ernannt und dem Generalstab zum Hilfsdienst beigegeben sei.

Der Oberstleutnant breitete die Arme nach dem Bilde unter dem Weihnachtsbaum aus.

»Du hörst es, Alte,« rief er mit bebender Stimme, – »er hat das Kreuz, dieses herrliche Ehrenzeichen, um das ich die Kämpfer aus den großen Freiheitskriegen stets beneidet habe, – er ist beim Generalstab, – er macht uns Ehre, –du darfst stolz auf ihn herabblicken,– danke du Gott dort oben, wie ich es tue mit Herz und Mund!«

Er blieb einige Augenblicke schweigend in sich versunken dasitzen, – zuweilen nur den leuchtenden Blick voll inniger Empfindung über die Lichter des Baumes hinauf zu dem ewigen Herrn alles Lichtes und aller Herrlichkeit erhebend.

So rauschte der gewaltige Hauch der großen Zeit mächtig hinein in den stillen, engen Kreis eines in sich abgeschlossenen Lebens, und von den Wogen der sturmbewegten Völkergeschichte her trug dieser Hauch das Hochgefühl und die Begeisterung der Jugend in das alte Herz, das fast schon für das Leben abgestorben war.

Nach einiger Zeit las Fräulein Anna weiter:

»Du siehst also, mein lieber Vater, daß meine Aussichten und Hoffnungen gut sind, bis hierher hat mich die Vorsehung behütet, – und wenn nicht noch eine feindliche Kugel mich trifft, worauf man ja immer gefaßt sein muß, so darf ich die Zuversicht haben, daß die Pflichterfüllung meines Dienstes, den ich mir zur einzigen Lebensaufgabe gesteckt habe, auch der äußeren Anerkennung nicht entbehren wird. Die Hauptsache bleibt freilich, sich selbst sagen zu können, daß man mit der ganzen Kraft und dem ganzen Ernst nach dem Großen und Guten strebt, – und dies Streben mit seiner edlen Arbeit soll die Blüte sein, welche mein Leben schmückt, – sie ist weniger duftig und farbenreich als so manche andere, – dafür aber um so reiner und unvergänglicher. Diese Blüte werde ich hegen und pflegen, und durch sie wirst du, mein Vater, stets glücklich sehen

Deinen treuen und gehorsamen Sohn.«

»Wie traurig!« rief Fräulein Anna wie unwillkürlich aus ihrem inneren Gefühl heraus, indem sie den Brief zusammenfaltete und vor das Bild unter dem Weihnachtsbaum legte.

»Ja, ja, – das ist traurig, – eine traurige Geschichte!« sagte der Oberstleutnant, dessen Augen fieberhaft glänzten und auf dessen Wangen eine brennende, scharf abgegrenzte Röte erschien, – die heftige Erregung dieses Abends begann seine noch so schwachen Kräfte zu erschöpfen.

»Eine traurige Geschichte?« fragte Fräulein Anna zitternd, indem sie schnell wieder abbrach, als wolle sie keine Neugier zeigen, während doch ihr auf den Oberstleutnant gehefteter Blick das ganze Interesse verriet, das sie an dieser Geschichte nahm.

»Ja, ja,« sagte der Oberstleutnant, indem er den Kopf, der ihm schwer zu werden schien, auf den Arm stützte, – »mein armer Sohn, – ich hätte ihm wohl auch andere Blumen in seinem Leben gegönnt, – als die Pflichterfüllung und den Ehrgeiz, – aber ich kenne ihn, er fühlt so tief, – er hat geliebt, – sehr geliebt, – eine Dame, – die ihn verhöhnt, – verachtet, betrogen –«

»Betrogen!?« rief Fräulein Anna in lautem Aufschrei, indem sie die Hände auf ihr Herz drückte, – »betrogen, verachtet –« fuhr sie dann mit gewaltsamer Mäßigung fort, – »wie ist das möglich? – wie kann man ein Herz verachten, das uns liebt? – wie kann –«

»Sie verstehen das nicht, mein Kind,« sagte der Oberstleutnant, indem er müde den Kopf gegen die Lehne seines Sessels sinken ließ, – »weil Sie gut und brav sind, – Sie würden niemand weh tun, – niemand kränken, aber es gibt so viele leichtfertige Koketten, – die mit den Herzen spielen, die sie angelockt –«

»Und einer solchen Kokette«, sagte Fräulein Anna bitter, – »hat Ihr Sohn sein Herz geschenkt?«

»Ich wußte das nicht so,« sagte der Oberstleutnant, – »ich war unzufrieden mit ihm, – es war eine unangenehme Sache, er hatte in einem öffentlichen Lokal im Rausch eine Dame schwer beleidigt, – ihr Liebhaber, – ihr Verlobter sendete ihm seinen Sekundanten, – ich wurde von den Herren, da ich sie zufällig empfing und die Sache entdeckte, zum Urteilsspruch aufgefordert, – und ich mußte meinen Sohn unrecht geben, – ich mußte von ihm verlangen, daß er die geforderte Ehrenerklärung gebe, – denn eine Dame zu beleidigen ist unverzeihlich.«

»Ja, unverzeihlich,« sagte Fräulein Anna, finster vor sich hinblickend.

»Ich tat ihm wohl unrecht,« sagte der Oberstleutnant mit immer matterer Summe, – »und das schmerzt mich heute noch, – denn wenn er sich auch nicht so weit hätte fortreißen lassen sollen, – so hatte er doch gerechten Grund zu seiner Entrüstung. – Er hatte geschwiegen, – lange geschwiegen über die ganze Sache,« fuhr er fort, während Fräulein Anna mit hochatmender Brust zuhörte, – »er hatte es still für sich getragen, – aber als er zum Feldzuge ausrücken sollte, – da kam er zu mir und sprach mir aus, was er in seinem Heizen trug, – weil er nicht wollte, daß ich eine falsche Meinung über ihn behielte, während er dem Tode vielleicht entgegenginge, – er erzählte mir, daß er eine Dame sehr, sehr geliebt habe, – daß sie ihm wieder ihre Liebe versprochen, – daß er sich entfernt gehalten, weil sie reich und verwöhnt sei, – und er ihr nichts zu bieten hatte; – da habe ihm diese Dame geschrieben, um ihm ein Rendezvous zu geben, – das Herz voll Glück und Liebe sei er dorthin geeilt, – und habe sie begegnet mit einem andern, – ihrem nachherigen Verlobten, – so habe sie sich von einem ihr wahrscheinlich überlästigen Verhältnis befreien wollen, – und da sei er denn in Gesellschaft einiger Kameraden – vom Wein erhitzt – von Zorn und Verzweiflung zernagt, dazu gekommen, in halber Bewußtlosigkeit eine schwere Beleidigung gegen jene Dame auszustoßen, – die er durch jene Ehrenerklärung gesühnt. – Da habe ich ihm alles verziehen,« sprach der alte Herr, »und kein dunkler Punkt war zwischen uns, als er zum Kriege auszog.«

»Und die Dame?« fragte Fräulein Anna mit erstickter Stimme.

»Ich kenne sie nicht,« sagte der Oberstleutnant, – »mein Sohn hat sie mir nicht genannt, – in solchen Dingen darf ein Kavalier niemand – selbst seinem Vater nicht – Namen nennen, – und ich will sie nicht kennen, – denn ich könnte ihr nicht verzeihen, was sie meinem Sohn Böses getan, – und«, fügte er, die Hände faltend, hinzu, – »der Herr, der uns heute seinen Sohn zur Sühne unserer Sünden gesendet, – will doch, daß wir vergeben und diejenigen segnen, die uns Böses getan.«

»Und haben Sie – hat Ihr Sohn«, fragte Fräulein Anna mit niedergeschlagenen Augen in leisem Ton des Vorwurfs, – »nie daran gedacht, daß jene Dame unschuldig sein könne, – daß ein Mißverständnis habe stattfinden können? – Wie man vergeben soll, – so soll man auch nicht vorschnell – nicht ungehört verurteilen!«

»Ein Mißverständnis?« fragte der Oberstleutnant, – »woher hätte das kommen sollen? – ich habe nie wieder über die Sache gesprochen, – und zum erstenmal heute kommt sie über meine Lippen, Ihnen gegenüber, – die mir armem alten Mann so viel Teilnahme gezeigt, – zu Ihnen habe ich davon gesprochen, – es hat mein Herz erleichtert, – vielleicht war es gut für meinen Sohn, daß es so gekommen ist, – jetzt lebt er ohne Sorge und Unruhe nur seinem Beruf, – er wird allein bleiben, – denn – er hat mir gesagt, – er habe jene Dame zu sehr geliebt, – und – wenn das so ist, – ich kenne ihn, so wird er sie immer lieben, so viel Böses sie ihm getan, – und keine andere wird in seinem Herzen Platz finden.«

Er lehnte sich erschöpft zurück und schloß die Augen.

Die Lichter des Weihnachtsbaumes waren herabgebrannt, und nur die Lampe auf dem Seitentisch erleuchtete das Zimmer, – aber heller, lichter Glanz erfüllte die Seele des jungen Mädchens, und jubelnde Stimmen riefen die frohe Botschaft seliger Hoffnung in ihrem Herzen: »Er liebt mich, – er liebt mich, – es war ein finsterer, verhängnisvoller Irrtum, – alles wird klar und hell werden!« – Sie wußte nicht wie, – aber sie wußte, daß es gut werden müsse, – denn er hatte sie ja nur beleidigt aus zu großer Liebe, – weil er sich verachtet und verschmäht wähnte, – wenn er einen Blick tat in ihr Herz, – so mußte er sich wieder zu ihr wenden –

Sie schauerte in sich zusammen vor dem Glück, das hier unter dem Weihnachtsbaum in so hellem Hoffnungsschimmer ihr entgegenleuchtete.

»Ich bin recht müde geworden,« sagte der Oberstleutnant nach einiger Zeit, indem er die Augen wieder aufschlug, – »auch die Freude greift an, – kehren Sie zurück nach Hause, mein Kind, – ich will zu Bett gehen, – Gott beschere Ihnen ebenso glückliche Weihnachten, als Sie mir bereitet.«

In rascher Bewegung ergriff Anna seine Hand und küßte sie ehrfurchtsvoll, ehe er es abwehren konnte.

Dann rief sie den Burschen, der seinen Herrn in das Schlafzimmer führte, nachdem dieser noch, wie immer, seine Hand mit einem innigen Segensspruch auf das Haupt des jungen Mädchens gelegt hatte.

Fräulein Anna fuhr nach Hause, und in ihrem Herzen brannten hellere Lichter als auf dem von reichen Geschenken umgebenen Weihnachtsbaum in dem glänzenden Salon ihres Vaters.


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