Gregor Samarow
Held und Kaiser
Gregor Samarow

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Fünftes Kapitel

Am Saum eines Waldes, der einen sanft abfallenden Hügel in der Umgebung von Metz begrenzte, auf der der Festung entgegengesetzten Seite der Zernierungsarmee, war eine preußische Feldwache von einem Offizier und fünfundzwanzig Mann aufgestellt.

Die sinkende Nachmittagssonne beleuchtete mit ihren schrägen Strahlen die herbstlichen, gelb gefärbten Blätter der Bäume, und friedliche Stille herrschte an diesem ruhigen Platz, zu welchem nur von fern herüber das summende Geräusch der um die bisher unbezwungene Festung herum lagernden Armee herüberdrang.

Die Soldaten der Feldwache saßen am Abhang des Hügels, ihre Gewehre neben sich, aus dem Innern ihrer Brotbeutel hervorholend, was jeder an Nahrungsmitteln besaß und eifrig ihren Feldflaschen zusprechend, welche sie in den Kellern der verlassenen Landsitze der Umgegend mit Cognac fine Champagne und Bordeauxwein gefüllt hatten, von denen die früheren Besitzer sich wohl kaum hatten träumen lassen, daß diese vortrefflichen Getränke einst zur Stärkung der preußischen Soldaten dienen sollten, die man noch vor kurzem im schnellen Siegeslauf vor sich her nach Berlin zu treiben die Absicht hatte.

In den leise geführten Unterhaltungen der Soldaten machte sich vorherrschend der spezifisch märkische Dialekt bemerkbar, und der unverwüstliche Humor sprach aus den gewechselten Bemerkungen, die in ihrer Derbheit und Schlagfertigkeit wert gewesen wären, dem berühmten Sänger des Kutschkeliedes zu entstammen, dessen persönliche Existenz sich, wie einst diejenige des großen Homer, in den Nebeln der Mythe verliert.

Der Offizier, welcher die Feldwache kommandierte, ein junger, schlanker Mann, in der Uniform der Linieninfanterie, saß einige Schritte von den Soldaten entfernt unter einer mächtigen alten Eiche, an deren Stamm er sich lehnte und die ihre breiten Äste weithin über ihn ausbreitete, von Zeit zu Zeit ein gelb gewordenes, absterbendes Blatt dem Spiel des Windes überliefernd.

Der junge Offizier, dessen scharfgeschnittenes, bleiches Gesicht Willenskraft und mutige Entschlossenheit, aber auch eine stolz abwehrende Zurückhaltung ausdrückte, saß in tiefen Gedanken da und blickte in die einfache, aber anmutige Landschaft hinaus.

Ein kleiner, blonder Schnurrbart kräuselte sich über seinen fest aufeinander gepreßten Lippen, und in seinen hellen, grauen Augen lag eine solch sinnende Tiefe, daß ihre Farbe beinahe dunkel erschien.

»Da liegen wir«, sagte er in leisem Selbstgespräch, »hier vor der alten, mächtigen Festung, bis der Hunger und das Elend sie zwingen wird, sich uns zu übergeben – eine große, eine wichtige, eine entscheidende Aufgabe, aber doch traurig für das Herz des Soldaten, das nach frischem, fröhlichem Kampf auf offener Wahlstatt sich sehnt, und dem es widerstrebt, den Hunger zum Bundesgenossen zu haben, – für mein Herz besonders,« fuhr er seufzend fort, »das die Hoffnung hegte, im Getümmel des Krieges vergessen zu können, – vergessen, was es gelitten und was es verschuldet hat.«

Ein trockenes Blatt fiel aus der Krone des Eichbaumes zu seinen Füßen nieder. In leichtem, wirbelndem Spiel trieb es der Hauch des Herbstwindes vor sich her.

»Das ist das Spiel meines Lebens,« flüsterte der junge Mann leise, – »weiter und weiter geweht, verliert sich dies Blatt, das hoffnungsgrün in der blauen Himmelsluft hing, in unbekannter Ferne – vernichtet und vergessen! – Wenn mich das Verhängnis des Krieges dahinrafft, – wer wird meiner gedenken, wer wird mich beweinen? – Mein alter Vater, – er wird sich trösten, daß sein Sohn einen ehrenvollen Soldatentod fand. Er wird mir bald nachfolgen aus diesem Leben, das auch ihm wenig mehr geboten hat, als das Bewußtsein treu erfüllter Pflicht. Und wenn das Los des Todes mich verschont, was werde ich heimbringen für mich aus diesem Kampf, der so reiche Kränze des Ruhmes und der Ehre über alle ausschüttet, die das Glück haben, Gelegenheit zu kühnen Taten zu finden, – ich, der ich zu stiller und unbeachteter Pflichterfüllung verurteilt bin, – ich, dem die Blüte des Lebens geknickt wurde, noch ehe sie sich hat erschließen können.«

Trübe verschleierte sich sein Auge, matt ließ er das Haupt auf die Brust niedersinken, plötzlich aber erleuchtete sich sein Blick; – er sah zum Himmel empor, an welchem die Sonne tiefer und tiefer niedersank.

»Aber ich werde meine Pflicht erfüllt haben,« sagte er, »und ist das nicht das Höchste, das Edelste, das Unvergänglichste? – die Blume blüht und duftet, aber sie versinkt zu Staub, – die Sonne aber, die Sterne des Firmaments sie ziehen in kalter, stiller Einsamkeit auf den Bahnen dahin, die das Gebot Gottes ihnen vorgezeichnet hat, sie blühen nicht, sie duften nicht, aber sie leuchten in ewigem Glanz, und ihr unvergänglicher Strahl weckt die Keime des blühenden Lebens in dem irdischen Staub. Auch ich will meine Bahn gehen, mag sie mich im schnellen Abfall zum dunklen Horizont hinabführen oder hinauf zur Mittagshöhe der Ehre, – wenn ich mir nur selbst sagen kann, daß ich die Pflicht erfüllt habe, welche der Wille der Vorsehung mir vorschrieb, denn in diesem Zeugnis der eigenen Brust allein liegt der wahre Friede, das wahre Glück.«

Er schloß die Augen, lehnte den Kopf an den Stamm der Eiche und versank in tiefes, schweigendes Nachdenken.

»Was ist das für ein Vogel,« rief einer der Soldaten, »der von der Festung gerade hierher geflogen kommt?«

Er deutete mit der Spitze seiner kurzen Pfeife in die Höhe. Die übrigen folgten mit ihren Blicken der angegebenen Richtung.

Man sah in einiger Entfernung, scharf sich abgrenzend, an dem vom Abendlicht beleuchteten Himmel einen dunklen, kleinen Punkt, der sich rasch näherte und immer tiefer hinabsank.

»Wer fliegt da in der Luft herum,« rief einer der Soldaten lachend, »das ist doch nicht Napoleum?«

»Der kann es ja nicht sein, – den haben wir ja bei Sedan erwischt, und der sitzt in Nummer Sicher.«

»Aber in Ordnung ist das nicht,« rief ein anderer, »das ist irgendein neuer Witz von den Franzosen, irgendso eine neue Erfindung wie die Kugelspritzen, von denen sie so viel gesprochen haben. Zu Land und zu Wasser haben sie uns nichts tun können, vielleicht versuchen sie es, uns durch die Luft beizukommen.«

Der dunkle Gegenstand näherte sich, stets größere Dimensionen annehmend, immer mehr, und schien gerade auf die Stelle zuzukommen, auf welcher die Feldwache lagerte.

Der junge Offizier war durch die Stimmen der Soldaten aus seinem Nachdenken erweckt worden, richtete sich ein wenig in die Höhe und erhob die Hand, um den Leuten Ruhe zu gebieten.

Der Unteroffizier der Wache stand auf, näherte sich dem Leutnant in dienstlicher Haltung und sprach:

»Da kommt ein unbekannter Gegenstand durch die Luft hierher, Herr Leutnant, und hier vor dem Feind müssen wir als Feldwache auch auf die Luft achten, denn diese Franzosen sind zu allem fähig,« fügte er halb scherzend, halb im Ton ernster Besorgnis hinzu.

Der junge Offizier nahm seinen Krimstecher aus dem über seiner Schulter hängenden Futteral und blickte in die Luft empor.

»Ihr habt recht,« sagte er nach einigen Augenblicken, indem er rasch aufsprang, »das müssen wir beachten, das ist ein Luftballon, den man jedenfalls aus der Festung hat aufsteigen lasten, um irgendeine Verbindung mit dem Lande herzustellen. Wir müssen die Richtung verfolgen, die er nimmt, – wenn es möglich wäre, ihn zu erlangen –«

»Er kommt hierher, er kommt hierher!« riefen die Soldaten, welche alle aufgestanden waren und mit höchster Spannung den Lauf des Luftballons verfolgten.

»Er kommt hierher! Wir müssen ihn haben!«

Der Ballon näherte sich in der Tat, vom Winde getrieben, immer mehr und senkte sich mit großer Schnelligkeit tiefer und tiefer herab. Man konnte deutlich seine Umrisse und ein unter ihm herabhängendes viereckiges Paket erkennen.

»Sollen wir darauf schießen, Herr Leutnant? Wir können ihn erreichen!« riefen die Soldaten, ihre Gewehre anschlagend.

»Nein, nein,« sagte der Offizier, »das dürfen wir nur im äußersten Fall tun. Die Schüsse würden alles alarmieren.«

Der Ballon schwebte, tiefer und tiefer sich senkend, fast unmittelbar über den Köpfen der Soldaten. Noch einige Augenblicke, und er streifte die obersten Zweige eines schlanken, hochragenden Baumes am Waldrand. Die Stricke verwickelten sich in das Geäste und hielten den Ballon, der sich in zitternden Schwingungen bewegte, fest.

»Den wollen wir bald haben!« rief einer der Soldaten, indem er sein Gewehr niederlegte, »ich bin nicht umsonst als Junge in meines Vaters Garten auf die höchsten Kirschbäume geklettert.«

Geschickt und behend stieg er von Zweig zu Zweig in den Wipfel des Baumes. Nach einiger Mühe gelang es ihm, die schwanke Höhe zu erreichen, auf welcher der Ballon in den Zweigen festsaß. Mit dem einen Arm den Stamm des Baumes umschlingend, zog er mit der andern Hand ein Taschenmesser hervor, durchschnitt die Stricke und warf den an dem Ballon befestigten Gegenstand herab. Die Soldaten fingen denselben, noch ehe er den Boden erreicht hatte, auf und brachten ihn triumphierend dem Offizier. Es war eine Art von kleinem Lederkoffer, ähnlich wie die Gondeln bei den großen Ballons mit Stricken befestigt.

Der Offizier öffnete den mit einem Knoten verschlossenen Deckel und nahm aus dem Innern des Behälters ein in starkes Papier geschlagenes Paket heraus. Auf diesem Umschlag klebte ein amtlich untersiegeltes Dekret der Platzkommandantur von Metz, welches jedem, der den Ballon finden würde, aufgab, den Inhalt desselben bei der nächsten Poststation abzugeben und für diese Dienste bei dem Maire des betreffenden Orts die Summe von hundert Franken sich auszahlen zu lassen. In dem Umschlag selbst befanden sich eine sehr große Anzahl von kleinen Zetteln von Seidenpapier, welche auf der einen Seite die Adresse, auf der andern kurze, persönliche Bemerkungen der Offiziere und Mannschaften von der in Metz eingeschlossenen Armee enthielten.

Neugierig umstanden die Soldaten ihren Offizier, welcher einige der Zettel durchlas und dann das Paket wieder zusammenband.

»Es ist eine neue Art von Korrespondenz der belagerten Armee mit ihren Verwandten, weiter scheint nichts darin zu sein. Wir werden die Sache aber dem Kommando zur näheren Untersuchung abgeben müssen, – es könnten doch auch wichtigere Nachrichten darin enthalten sein, als ob Monsieur Charles oder Monsieur Louis sich wohl und munter befinden.«

Er gab den kleinen Koffer mit dem darin wieder eingeschlossenen Paket dem Unteroffizier der Wache zur Aufbewahrung, und die Mannschaften wollten sich eben wieder an ihren Lagerplatz begeben, als fernher aus der Tiefe des Waldes, an dessen Lisière sich die Feldwache befand, ein Ton wie ein Hilferuf erscholl, verworrenes Stimmengeräusch folgte darauf.

Der Offizier sprang empor. Die Soldaten blieben unbeweglich stehen. Alle lauschten in atemloser Spannung. Da hörte man in derselben Richtung, von welcher die Stimmen gekommen waren, durch die Entfernung und das dichte Gesträuch sehr gedämpft, den Schall eines Schusses.

»Was geht da vor?« rief der Offizier, indem er den Degen zog, »wir müssen dorthin, – es hat jemand um Hilfe gerufen. Drei Mann bleiben hier,« kommandierte er, »um den Posten besetzt zu halten. Die übrigen folgen mir.«

Im Laufschritt drang er auf der in den Wald hineinführenden Straße vor. Die Soldaten folgten ihm, trotz der raschen Bewegung sorgfältig rechts und links zwischen die Bäume und das Gestrüpp hineinspähend.

Das verworrene Geräusch laut durcheinander sprechender menschlicher Stimmen wurde immer deutlicher und deutlicher.

Immer schneller eilte der Offizier mit seinen Leuten auf der Straße in den Wald hinein.

Endlich an einer Biegung des Weges zeigte sich, etwa zwanzig Schritt voraus, ein Zug von drei bis vier bepackten Wagen, neben welchen sich eine Gruppe von etwa zwanzig bis dreißig Männern in den blauen Blusen der französischen Landbewohner befand, die, mit Karabinern und Hirschfängern bewaffnet, mehrere Personen umringten, welche eng zusammengedrängt waren und, wie es schien, jeden Versuch eines Widerstandes aufgegeben hatten.

Der Offizier schwang seinen Degen, und mit lautem Hurra stürmten die Soldaten der Feldwache gegen die bewaffneten französischen Bauern vor.

Diese stoben auseinander und waren in wenigen Augenblicken nach allen Seiten hin im Dunkel des Waldes verschwunden. Der Offizier verbot ihre Verfolgung, zu welcher die Soldaten sich anschickten.

Noch einige Schüsse knallten aus den Büschen hervor, – aber sie waren schlecht gezielt. Die Kugeln pfiffen durch die Luft, ohne jemanden zu treffen. Der Offizier wendete sich nun zu den Befreiten. Es waren Trainknechte, welche die Gespanne vor den mit Lebensmitteln, Wein und Zigarren bepackten Wagen geführt hatten. Sie waren, nur mit einem kleinen Seitengewehr ausgerüstet, nicht imstand gewesen, den mit Karabinern bewaffneten Bauern Widerstand zu leisten.

In ihrer Mitte stand, im Zustand höchster Aufregung, ein kleiner Herr von etwa fünfzig Jahren, von voller und untersetzter Gestalt. Sein eleganter Reiseanzug war etwas in Unordnung gekommen, sein Hut war ihm vom Kopf gefallen, und der Wind wehte durch sein leicht ergrautes, kurzes und kraus gelocktes Haar, sein Gesicht, mit der vorspringenden, leicht gebogenen Nase, den etwas aufgeworfenen Lippen und den schärfen, dunklen Augen, war bleich, und er zitterte vor tiefer Erregung.

Neben ihm stand ein langer, hagerer Mann von etwa vierzig Jahren, einen breitkrämpigen Hut tief in die schmale Stirn gedrückt, das glatte Haar fast bis zum Kragen seines Rockes hinabfallend und aus den tiefliegenden Augen seines blassen, bartlosen Gesichts um sich her blickend mit dem Ausdruck so tiefen Entsetzens, als könne er sich kaum klare Rechenschaft von der Lage geben, in der er sich befand.

Der Offizier trat zu den beiden Herren heran und sagte:

»Ich freue mich, noch zur rechten Zeit gekommen zu sein, meine Herren, um Sie gegen einen so feigen und hinterlistigen Überfall zu schützen. Ich bitte Sie, schleunigst weiterzufahren, in kurzer Zeit werden Sie in Sicherheit sein. Hier im Wald bleiben wir immer noch einigen Kugeln ausgesetzt, die, so schlecht sie auch immer gezielt sein mögen, dennoch gefährlich werden können.«

»Herr Leutnant,« sagte der kleine, starke Herr mit bebender Stimme, indem er die Hand des Offiziers ergriff und gegen seine Brust drückte, »Herr Leutnant, Sie haben mir das Leben gerettet, Sie können über mich gebieten; wenn Sie einen Wunsch haben, den zu erfüllen in meiner Macht steht, so soll er erfüllt werden. Ich habe«, fuhr er, schnell sprechend und in lebhafter Gestikulation seine Hand bewegend, fort, »ich habe es übernommen, im Auftrag unseres Vereins in Berlin, einen Transport von Liebesgaben hierherzuführen. Wir fanden die Eisenbahn so besetzt, daß wir einige Tage hätten warten müssen, und haben diesen Weg genommen, um schneller das Hauptquartier Seiner königlichen Hoheit des Prinzen Friedrich Karl zu erreichen. Man hatte uns gesagt, daß hier gar keine feindlichen Truppen wären, daß der Weg ganz sicher sei, und nun find wir hier doch von diesen bewaffneten Bauern überfallen, die uns ganz gewiß füsiliert hätten, wenn Sie uns nicht noch gerade im letzten Augenblick zu Hilfe gekommen wären.«

Der junge Offizier, dessen Gesicht halb vom Schild seines Helms bedeckt war, hatte den lebhaft sprechenden alten Herrn, dessen Wangen sich allmählich wieder röteten, mit einem eigentümlichen Ausdruck, der halb aus feindlicher Bitterkeit, halb aus einer gewissen Verlegenheit gemischt war, betrachtet.

»Ich bin der Kommerzienrat Cohnheim,« fuhr der Überbringer des Liebesgabentransports fort, »wenn Sie nach Berlin kommen, Herr Leutnant, wird es mir die höchste Freude und Ehre sein, Sie in meinem Hause zu sehen und Ihnen zu zeigen, wie dankbar ich und die Meinigen es erkennen werden, daß Sie mir hier in dieser drohenden Kriegsgefahr das Leben gerettet haben. Der Herr hier«, fuhr er fort, indem er mit einer gewissen vornehmen Herablassung auf seinen Begleiter zeigte, »ist der Doktor Meierfeld, Redakteur und Korrespondent vieler Zeitungen, der unsere Gefahr und unsere Rettung durch Sie, Herr Leutnant, mit seiner geschickten Feder für die Öffentlichkeit darstellen wird.«

Herr Meierfeld nickte bestätigend mit dem Kopf, doch schien er noch nicht ganz seine volle Fassung wiedergewonnen zu haben und blickte noch fortwährend mit starren, gläsernen Augen auf die rings umher stehenden Soldaten und das Gebüsch des Waldes, aus welchem die französischen Freischärler hervorgekommen waren.

Nach einem kurzen, unschlüssigen Zögern schien der junge Offizier einen Entschluß gefaßt zu haben und sprach mit fester, ruhiger Stimme:

»Ich habe die Ehre, Sie zu kennen, Herr Kommerzienrat, und auch Sie werden sich vielleicht meiner erinnern, wenn auch wohl«, fügte er, die Augen niederschlagend, in dumpfem Ton hinzu, »nicht in freundlicher Weise. Ich bin der Leutnant von Büchenfeld.«

Herr Cohnheim fuhr bei Nennung dieses Namens zurück. Eine dunkle Wolke flog über sein Gesicht, das nach der überwundenen Angst bereits wieder den Ausdruck selbstzufriedener Heiterkeit angenommen hatte, und forschend blickte er unter den Helm des jungen Offiziers in dessen Gesicht.

»In der Tat, Herr von Büchenfeld,« sagte er mit einiger Verlegenheit, – »ich hatte Sie nicht sogleich erkannt, die Strapazen verändern das Gesicht. – Nicht freundlich an Sie gedacht, sagten Sie? – nun, Herr von Büchenfeld, – Sie werden mir zugeben, daß ich dazu ein wenig Ursache hatte. Es war nicht hübsch von Ihnen, so von meiner Tochter zu sprechen, wie Sie es getan haben, – doch, Sie waren aufgeregt, ich weiß es, junge Herren lassen sich leicht fortreißen. Ich war recht böse auf Sie, das ist wahr, – aber hätte ich vorher wissen können, was geschehen würde, – hätte ich wissen können, daß – Herr von Büchenfeld!« rief er, nahe zu dem jungen Mann herantretend und ihm die Hand hinstreckend, während gutmütige und herzliche Freundlichkeit den Blick seiner kleinen, scharfen Augen erleuchtete, – »Herr von Büchenfeld, Sie haben mir heute das Leben gerettet, Sie haben mich aus den Händen dieser barbarischen Freischärler errettet, welche mich am nächsten Baum erschießen wollten, – damit ist alles, was je zwischen uns hat treten können, gut gemacht, mehr als gut gemacht, – ich bin in Ihrer Schuld, Herr von Büchenfeld, und wenn Sie je eines aufrichtigen und dankbaren Freundes bedürfen, so denken Sie zuerst an den Kommerzienrat Cohnheim.«

Er hielt noch immer die ausgestreckte Hand hin.

Der Leutnant reichte ihm die seinige und sprach mit leichter Verwirrung:

»Sie rechnen einen Dienst zu hoch an, den ich zufällig geleistet; ich erfüllte nur meine Pflicht, indem ich hierher kam, die Gefahr dabei war wahrlich nicht groß.

– Doch jetzt lassen Sie uns aufbrechen. Ich werde Sie sicher nach dem Hauptquartier führen, die Zeit meiner Ablösung ist da.«

Die Trainknechte bestiegen wieder ihre Pferde, der Kommerzienrat und der Doktor Meierfeld schritten neben dem Leutnant voran, die Soldaten umgaben den Zug, und nach kurzer Zeit kam man an die Stelle am Eingang des Waldes, an welcher die von Herrn von Büchenfeld kommandierte Feldwache vorhin den Ballon mit den Briefschaften aufgefangen hatte.

Das Ablösungskommando war bereits dort, und der Offizier desselben schickte sich eben an, seinem Kameraden in den Wald zu folgen. Die Ablösung erfolgte, und Herr von Büchenfeld führte mit seiner Abteilung den Zug mit Liebesgaben nach dem Hauptquartier, welches sich im Schloß von Corny befand.

Der Kommerzienrat Cohnheim und der Doktor Meierfeld wurden mit ihren willkommenen Gaben auf das beste empfangen und so gut als möglich einquartiert. Der Leutnant von Büchenfeld erstattete seinen Rapport und erhielt den Befehl, die erbeutete Luftpost dem Höchstkommandierenden, Prinzen Friedrich Karl, selbst abzugeben.

Voll Stolz und Freude begab sich der junge Mann mit dem kleinen erbeuteten Briefkoffer über den Hof des Schlosses von Corny nach dem Bureau des Generalkommandos.

Dieses Schloß, ein Bau aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts und im Stil jener Zeit gehalten, erhebt sich auf einer Hügelkette über dem wunderbar schönen Moseltal und gehört den Herren de Rougy et de Corny. An den einstöckigen Mittelbau, dessen Hauptfront sich nach einer kleinen, in den Park hinabführenden Freitreppe öffnet, schließen sich zwei lange Seitenflügel und bilden, in zwei halbkreisförmigen Vorbauten auslaufend, einen Hof, durch dessen Eingangstor man in einer schönen Allee zum Schlosse gelangt.

Ein reges und buntes Leben herrschte auf diesem Hof, Ordonnanzen kamen und gingen, französische Gefangene und Überläufer wurden eingebracht, Offiziere vom Generalstab gingen in einzelnen Gruppen auf und nieder, die Chancen der militärischen Ereignisse diskutierend. Dazwischen sah man Ärzte und Johanniter mit dem roten Kreuz auf der weißen Binde, barmherzige Schwestern und Diakonissinnen, die still und bescheiden aus den Seitenflügeln und Küchen kamen und von den Offizieren und Soldaten mit ehrerbietiger Höflichkeit gegrüßt wurden.

Durch all dies bunte, bewegte und doch so ernst bedeutungsvolle Leben hindurch schritt der Leutnant von Büchenfeld dem Eingang des Schlosses zu und trat in das Bureau des Generalkommandos.

Hier herrschte, ganz im Gegensatz zu der regen, lebendigen Bewegung draußen, die tiefste Stille und Ruhe, während doch die sichere, geordnete, rastlose Tätigkeit hier in diesen Räumen all das vielgestaltige Leben da draußen regelte und bestimmte.

Hier sah man an einem großen, runden Tisch die Korpsschreiber ihre Ausarbeitungen unter der Leitung des Majors Schmidt vom großen Generalstab, eines frühern hessischen Offiziers, anfertigen. Daneben, an einem kleinen Arbeitstisch, saß der Major Graf Häseler, ein Mann mit einem scharf geschnittenen, außergewöhnlich ernsten und gedankenvollen Gesicht; seine schlanke, geschmeidige Gestalt mit den etwas hoch heraufgezogenen Schultern machte einen so jugendlichen Eindruck, daß man bei seinem Anblick durch den tiefen, ernsten Blick seiner großen, klaren Augen und durch die strenge Miene seines Gesichts fast überrascht wurde.

Der Leutnant von Büchenfeld wandte sich zunächst an den Major Schmidt, an welchen, als den Chef des Bureaus, alle Meldungen gerichtet werden mußten, und erstattete demselben seinen Bericht.

Major Schmidt hörte mit der größten Aufmerksamkeit zu, führte den jungen Offizier sodann in ein anstoßendes kleines Zimmer, in welchem der Oberquartiermeister der zweiten Armee, Oberst von Herzberg, mit Schärpe und Säbel, den Helm neben sich auf einem Stuhl, eifrig beschäftigt war, nach den mit kurzen Marginalien versehenen zahlreichen Papieren vor ihm, in schneller und sicherer Schrift die nötigen Befehle zu entwerfen.

Während derselbe den Bericht anhörte, öffnete sich rasch eine Seitentür, und dieselbe hinter sich offen lassend, erschien ein auffallend hochgewachsener, schlanker Mann in der preußischen Generalsuniform. Sein elastischer Schritt, seine sichere und feste Haltung ließen ihn für den hohen Rang, welchen seine Uniform anzeigte, fast zu jung erscheinen. Es war der Chef des Generalstabs des Prinzen Friedrich Karl, General von Stiehle, welcher sich aus einem Linien-Infanterieregiment heraus zum Flügeladjutanten des Königs und zu einem der hervorragendsten Generalstabsoffiziere der preußischen Armee heraufgearbeitet hatte.

Der General sah heiter aus, er mußte zufrieden sein über die genaue Übereinstimmung seiner scharfen Berechnungen mit den Ereignissen und den Bewegungen des Feindes. Ein feines Lächeln spielte um seinen ernsten und streng geschlossenen Mund. Herzlich drückte er dem Oberst von Herzberg die Hand und erwiderte mit kameradschaftlicher Höflichkeit den militärischen Gruß des Leutnants von Büchenfeld.

»Das muß Seine königliche Hoheit sogleich erfahren!« rief der General dann, als der Oberst von Herzberg ihm die Bedeutung des kleinen Briefkoffers erklärt hatte. »Folgen Sie mir, Herr Kamerad,« sagte er zu dem Leutnant von Büchenfeld, und das Briefpaket in der Hand, kehrte er mit dem jungen Offizier in das Vorzimmer der Wohnung des Prinzen zurück.

Dies Vorzimmer schien von der zerstörenden Hand des Krieges noch unberührt. Man hätte sich hier in der Ruhe und dem Komfort des tiefsten Friedens wähnen können. Holzschnitzereien bedeckten die Wände, an denen hohe, prachtvolle Spiegel hingen, welche die chinesischen Vasen, mit frischen Blumen gefüllt, die alten Kristallkronleuchter und die mit eleganten Stoffen überzogenen Divans widerstrahlten.

In dem zweiten Saal befand sich, in der Uniform der Adjutanten, die Schärpe über der Schulter, der Major von Krosigk, der persönliche Adjutant des Prinzen, ein kräftiger, schlanker Mann, in der Armee berühmt als kühner und geschickter Reiter.

Auf ein Wort des Generals eilte derselbe schnell in das Kabinett des Prinzen und kehrte nach wenigen Augenblicken aus demselben zurück, die Tür für den General offen haltend, welcher dem Leutnant von Büchenfeld winkte, ihm zu folgen.

Der junge Offizier trat mit einer gewissen ehrfurchtsvollen Scheu in das Zimmer des siegreichen fürstlichen Heerführers, zu dessen Armee er gehörte, für den sein Herz mit Bewunderung erfüllt war, den er aber bisher noch niemals näher gesehen hatte.

Das Zimmer war das einfachste des Schlosses. Ein kleiner Tisch stand in der Mitte desselben, die Fensterflügel waren offen und gewährten einen weiten Blick über das Moseltal, das sich vom Schlosse abwärts im gelblichen Schimmer der Herbstsonne ausdehnte, und weit hinüber erhob sich das Fort St. Quentin, eines der Bollwerke von Metz, von welchem von Zeit zu Zeit ein dumpfer Kanonenschuß seinen Donner über das Tal hinrollte, als wolle der Marschall Bazaine ein Zeichen seiner Anwesenheit und seiner ungebeugten Kampfbereitschaft geben.

Der Prinz Friedrich Karl, in der Uniform des Ziethenhusarenregiments, vollkommen dienstmäßig adjustiert, den Säbel an der Seite, Mütze und Handschuhe auf einem Stuhl neben seinem Tisch, trat dem General, dem bewährten Chef seines Generalstabs, freundlich entgegen und warf, leicht den Kopf neigend, einen fragenden Blick auf den Leutnant von Büchenfeld, welcher in dienstlicher Haltung in der Nähe der Tür stehen blieb.

Nach einigen erklärenden Worten des Generals von Stiehle erstattete Herr von Büchenfeld auf Befehl des Prinzen seinen Rapport, den Seine königliche Hoheit mit großem Interesse bis zum Schluß anhörte.

»Sie haben einen wichtigen Fang gemacht, Herr Leutnant,« sagte der Prinz, indem er den kleinen Koffer öffnete und die Briefe flüchtig durchblätterte.

»Der Inhalt dieser Korrespondenz wird kaum von Bedeutung sein. Es scheinen lauter Mitteilungen an die Angehörigen der Offiziere und Soldaten zu sein. Indessen ist dies die erste Anwendung eines neuen Kommunikationsmittels, welches die eingeschlossenen Festungen mit der Außenwelt herzustellen suchen, und diesem ersten Versuch werden, wie ich voraussetze, bald mehrere folgen. Es wird notwendig sein, eine Überwachung dieser neuen Luftpost zu organisieren. Unseren Ulanen«, fügte er lächelnd hinzu, »wird da eine neue Aufgabe erwachsen.

Er hatte flüchtig einen der kleinen Zettel nach dem andern durch die Hände gleiten lassen und auf den Tisch geworfen. Plötzlich wurde er sehr ernst und durchlas mit großer Aufmerksamkeit einen längern Streifen Seidenpapier, welcher sich unter den anderen befand.

»Wollen Sie einen Augenblick im Vorzimmer warten, Herr Leutnant,« sagte er zu Herrn von Büchenfeld, der sich augenblicklich zurückzog.

»Hier ist«, fuhr der Prinz fort, als er mit dem General von Stiehle allein war, »ein Brief des Generals Coffinières, des Kommandanten der Festung Metz, welcher wichtiger ist als alle diese Versicherungen der französischen Offiziere, daß sie sich wohl und munter befinden und daß sie«, fügte er achselzuckend hinzu, – »in soundsoviel Schlachten siegreich gewesen seien. Der General schildert in seinem Schreiben die Zustände in Metz als vollständig verzweiflungsvoll, erklärt, daß die Stadt und Besatzung physisch und moralisch zugrunde gerichtet sei, und beklagt sich bitter über den Marschall, daß derselbe mit seiner Armee die Vorräte aufzehre und die Rettung der Festung unmöglich mache, statt einen Ausfall zu wagen und sich durchzuschlagen. Der Marschall weiß besser«, fuhr der Prinz fort, »wie dieser General Coffinières, daß ein solcher Ausfall unnütz sein würde und den Untergang seiner Armee, der letzten, welche Frankreich noch besitzt zur sichern Folge haben müßte.«

Er reichte den feinen, durchsichtigen Brief dem General von Stiehle hin, welcher denselben rasch und aufmerksam durchlas, während der Prinz weiter die übrigen Briefschaften durchforschte und die Adressen derselben betrachtete.

»Das ist ein sehr wichtiges Zeugnis, Königliche Hoheit,« sagte der General, nachdem er zu Ende gelesen. »Auch von einzelnen Überläufern und Gefangenen wird uns ja Ähnliches bestätigt, – ich hoffe,« fügte er leuchtenden Blickes hinzu, »daß diese unbesiegbare Festung bald Eurer königlichen Hoheit ihre Schlüssel übergeben wird, die sie dem Kaiser Karl V. verweigerte.«

»Hier ist noch ein Brief,« sagte der Prinz, indem er dem General einen zweiten Streifen reichte, »der die Mitteilung des Generals Coffinières bestätigt. Er ist von einem englischen Korrespondenten, der in Metz eingeschlossen ist und diese Luftpost benützt, um die Nachricht nach London bringen zu lassen, daß die Festung sich nicht mehr halten könne und daß ihre Übergabe unmittelbar bevorstehe. Ein solcher Mensch«, fuhr er mit strengem Ton fort, »verdiente doch wahrlich, füsiliert zu werden, da er, um eine pikante Zeitungsnachricht in die Welt zu befördern, so mit der Ehre einer tapfern Armee spielt, – aber freilich, wenn der Kommandant der Festung ebenso schreibt, – so etwas ist empörend,« rief er, »für mein soldatisches Gefühl! Der Marschall Bazaine hat wahrlich keine leichte Aufgabe übernommen, ich habe hohe Achtung und Sympathie für ihn, er macht uns ernstlich zu schaffen, und wenn wir ihn überwinden, so können wir in der Tat stolz darauf sein, – wie traurig aber, daß gerade ein solcher General auf diese Weise von seiner Umgebung behandelt wird! Welch ein Beweis für die Zustände in Frankreich! Fast scheint es, als ob dort jeder nicht mehr an die Erfüllung seiner Pflicht, sondern nur daran denkt, wie er demnächst seine Verantwortung und die Schuld für das Unglück und die Niederlagen irgendeinem andern aufbürden könnte. Ich betrachte es als eine militärische Ehrenpflicht gegen den Marschall Bazaine, der mir im ehrlichen, ritterlichen Kampf gegenübersteht, ihm von diesen Dingen Kenntnis zu geben und dem Marschall diese Briefe zuzusenden.«

Der General von Stiehle verneigte sich mit einer Miene, welche ausdrückte, daß er den ausgesprochenen Entschluß des Prinzen vollkommen billigte.

Prinz Friedrich Karl nahm die beiden Briefe, durchflog dieselben noch einmal und unterstrich mehrere Stellen derselben mit einem auf dem Tische liegenden Rotstift. Dann schrieb er ein kurzes Billet von einigen Zeilen und legte dasselbe mit den Briefen in ein Kuvert, das er mit seinem Siegel verschloß.

»Der junge Offizier gefällt mir,« fügte er dann zu dem General von Stiehle, »er hat einen offenen, freien Blick und eine jener Physiognomien voll bewußter und doch bescheidener Kraft und Energie, wie ich sie an Soldaten liebe. Senden Sie ihn mit diesen Briefen an den Marschall zu den Vorposten, und erkundigen Sie sich nach seiner Führung. Ich möchte ihn dem Hauptquartier attachieren, wir können tüchtige Leute gebrauchen.«

Der General verneigte sich, nahm den Brief des Prinzen an den Marschall und ging hinaus.

»Ich habe eine Ehrenpflicht erfüllt,« sagte der Prinz, indem er an das Fenster trat und seine Blicke über das schöne, im sinkenden Sonnenstrahl daliegende Moseltal hingleiten ließ, »ich will meine ganze Kraft, meine ganze Tätigkeit daransetzen, um dies herrliche Lorbeerblatt zu pflücken, auf welchem die Einnahme der alten deutschen Feste steht, die bisher noch niemandem ihre Tore öffnete.

Aber ich will mit der Feigheit und dem Verrat keine Gemeinschaft haben, Auge in Auge, freien Blickes, die unbefleckte Waffe in der Hand, will ich dem Gegner gegenüberstehen und ihn bezwingen. Kein schmutziger Flecken soll an jenem Lorbeerblatt haften, nach dem ich meine Hand erhebe. Wie sie alle abfallen von den Fahnen,« sagte er finster, »zu denen sie geschworen haben, wie diese Generale alle hineilen zu dieser neuen Advokatenregierung, die den von uns überwundenen Kaiser abgesetzt hat und ihr Land in eine Revolution stürzt in dem Augenblick, da wir vor den Toren der Hauptstadt stehen! Welcher tiefen Zerrüttung geht ein Land entgegen, in welchem das Höchste und Heiligste, die militärische Fahnentreue, aus den Herzen der Soldaten verschwunden ist! Dieser Marschall Bazaine ist wahrlich ein anderer Mann. Er hält fest an der Fahne und steht auf seinem Posten, und ich danke Gott, daß ich ihm gegenüberstehe.«

Langsam rollte der Schall eines Kanonenschusses vom Fort St. Quentin her, als wolle der französische Marschall mit militärischem Gruß für die Anerkennung aus dem Munde seines fürstlichen Gegners danken.

Einige Augenblicke noch stand der Prinz in sinnendem Nachdenken am Fenster.

Dann trat, nach einem kurzen Schlag an die Tür, der Major von Krosigk ein und meldete:

»Es ist ein Mann von Ferrières gekommen, Königliche Hoheit, ein Franzose namens Regnier, mit einem vom Grafen Bismarck und dem Generalquartiermeister unterzeichneten Geleitschein. Er trägt eine Binde mit dem roten Kreuz und wünscht Eure königliche Hoheit selbst zu sprechen. Der General von Stiehle hat ihn kurz angehört und mir aufgetragen, ihn zu melden.«

Der Prinz neigte den Kopf, als käme ihm die Meldung nicht unerwartet.

»Führen Sie den Mann herein,« sagte er. »Ein diplomatischer Faden,« sprach er dann, als Herr von Krosigk sich entfernt hatte, indem er flüchtig ein auf seinem Schreibtisch liegendes Papier überflog, »ein diplomatischer Faden, wie sie so oft den Gang des Krieges durchziehen und wie sie so oft schon die Früchte der Kämpfe und Siege verkümmert haben. Lebten wir zu anderer Zeit und läge die Leitung unserer Diplomatie in anderen Händen, so würde ich diesen Faden kurz abschneiden. Aber der Mann, der unsere Politik führt, kennt den Wert und Preis deutschen Bluts, – er wird nichts verpfuschen lassen, was die Arbeit des Schwertes errungen, und die Fäden, deren Enden er in Händen hält, werden sich zu keinen Schlingen für uns zusammenziehen.«

Der Major von Krosigk öffnete die Tür und führte Herrn Regnier in das Kabinett des Prinzen.

Prinz Friedrich Karl stand in fester, ruhiger Haltung, hoch aufgerichtet, die Hand leicht auf seinen Schreibtisch gestutzt, in der Mitte des Zimmers und erwiderte mit artigem Kopfneigen die tiefe Verbeugung des Herrn Regnier.

»Sie kommen von Ferrières, mein Herr, und wünschen mich zu sprechen,« sagte er, indem sein scharfer Blick das Gesicht und die Gestalt des Eintretenden musterte.

»Ich bin von England gekommen, Monseigneur,« erwiderte Herr Regnier, indem er mit der Hand auf die an seinem Arm befindliche weiße Binde mit dem roten Kreuz deutete. »Man hat uns da so viel von den entsetzlichen Leiden erzählt, welche durch die große Zahl der Verwundeten in Metz entstanden sind und welche das Mitleid aller Welt erregen müssen, daß wir an einen großmütigen Feind die Bitte gerichtet haben, uns zu erlauben, den Leidenden zu Hilfe zu eilen.«

Ein flüchtiges Lächeln zuckte um die Lippen des Prinzen.

»Das ist sehr edelmütig, mein Herr,« sagte er, »und den Kranken und Verwundeten Hilfe zu bringen, ist unter allen Umständen sehr wünschenswert. Herr von Bismarck«, fuhr er ernst, mit festem, auf Herrn Regnier gerichteten Blick fort, »hat mich von Ihrem Wunsch in Kenntnis gesetzt, sich nach Metz zu begeben, und es mir zur Entscheidung überlassen, ob es möglich wäre, Ihren Wunsch zu erfüllen.«

»O, Monseigneur,« sagte Herr Regnier, »dann darf ich Eurer königlichen Hoheit offen mitteilen, welcher Wunsch mich beseelt und welche Ziele ich erreichen will? Ich wünsche«, fuhr er fort, »meinem Land den Frieden wiederzugeben; einen möglichst vorteilhaften und ehrenvollen Frieden aber halte ich allein für möglich, wenn die Regentschaft, welcher der gefangene Kaiser alle seine Gewalt übertragen hat, über die Friedensbedingungen in Unterhandlung tritt. Dazu muß die Regentschaft sich irgendwo auf französischem Boden konstituieren, wo sie die Kammer und den Senat einberufen kann. Dies ist aber nur erreichbar, wenn die Kaiserin sich auf eine französische Armee unter dem Kommando eines französischen Marschalls stützen kann. Es geschieht daher im Interesse meines Landes, im Interesse der französischen Dynastie und ebenso im Interesse Deutschlands, dem so sehr wie uns an einem schnellen, gesicherten Frieden liegen muß, wenn ich um die Erlaubnis bitte, mich nach Metz zu begeben und dem Marschall Bazaine meine Gedanken mitzuteilen.«

Prinz Friedrich Karl, welcher fortwährend durchdringenden Blickes Herrn Regnier gemustert hatte, erwiderte ruhig und ernst:

»Ich bin General, mein Herr, und habe den Krieg zu führen. Das Ziel des Krieges ist jedoch ein ehrenvoller und sicherer Friede. Wenn Sie glauben, einen Weg zu diesem Ziel zu kennen, und wenn der Graf von Bismarck kein Bedenken dabei findet, daß Sie diesen Weg verfolgen, so werde ich Ihnen meinerseits kein Hindernis in den Weg legen. Ich wünsche Ihnen Glück und guten Erfolg, und hoffe, Sie bei Ihrer Rückkehr zu sehen.«

Er trat rasch zur Tür und rief den diensttuenden Adjutanten.

»Ich glaube,« sagte er, »der Rittmeister von Willisen beabsichtigt, einen Besuch bei den Vorposten zu machen, lassen Sie Herrn Regnier einen Paß ausfertigen und bitten Sie Willisen, ihn bis zu den Vorposten zu führen. Auf Wiedersehen, mein Herr.«

Mit freudigem Dank verneigte sich Herr Regnier und verließ mit dem Major von Krosigk das Zimmer. Im Lauf einer Viertelstunde war ihm sein Passierschein eingehändigt, und er bestieg den leichten, offenen Jagdwagen des Rittmeisters von Willisen, des Kommandanten des Hauptquartiers der zweiten Armee, welcher seinerseits die Zügel ergriff, um die kräftigen, mutigen Pferde aus dem Dorf Corny heraus auf die nach Metz hin führende Straße zu lenken.


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