Gregor Samarow
Held und Kaiser
Gregor Samarow

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Erstes Kapitel

Die große Katastrophe von Sedan war vorüber, das kaiserliche Frankreich war niedergeworfen, aber die Hoffnung, welche die deutschen Truppen erfüllt hatte, als sie den gefangenen Kaiser über das Schlachtfeld dahinziehen sahen, diese Hoffnung, welche die Zurückgebliebenen in Deutschland teilten, daß ihnen nun endlich nach so furchtbarem Ringen zweier großen Nationen der Friede wiedergegeben werden würde, – sie hatte sich nicht erfüllt.

Die Regierung der nationalen Verteidigung organisierte überall den Krieg bis aufs Messer. Der Fanatismus des Volks wurde auf das Höchste entzündet, indem man überall wiederholen ließ, daß der König von Preußen nur gegen den Kaiser Napoleon Krieg geführt habe, und daß er nun, nachdem der kaiserliche Thron zusammengestürzt, nicht gegen das französische Volk weiter kämpfen werde, – daß aber, wenn er dies doch tun sollte, wenn er Ländergebiet oder Festungen von Frankreich verlangen möchte, das deutsche Volk sich erheben werde, um über den König und die Generale hin dem zur demokratischen Republik wiedererstandenen Frankreich die Hand zu reichen.

So war das Losungswort, welches man überall ausgab und an welches wohl kaum einer der so plötzlich entstandenen neuen Souveräne Frankreichs glaubte, welches aber in den Massen mit jener dem französischen Volk eigenen, oft so unbegreiflichen Naivität Glauben fand. Man hatte mit kleinlichem Eifer alle Embleme und Chiffern des Kaiserreichs von den öffentlichen Gebäuden entfernt, und jedermann tat in Paris, als ob dies Kaiserreich, das zwanzig Jahre lang so stolz und glänzend dagestanden, dem noch vor so kurzer Zeit so viele Millionen ihr zustimmendes Votum im Plebiszit gegeben hatten, – als ob dies Kaiserreich nie bestanden hätte und nur ein flüchtig vorüberrauschender Traum gewesen sei.

Der König von Preußen war siegreich in Rheims, der alten Krönungsstadt der französischen Könige, eingezogen und seine Armeen näherten sich der Hauptstadt, dem »heiligen« Paris, wie man nach Viktor Hugos Vorgang diese merkwürdige Stadt zu nennen begann, die man früher so oft als das moderne Babel bezeichnet hatte, solange sie die glänzende, fröhliche, lachende und übermütige Residenz Napoleons III. war. Das Spartanertum wurde Mode, wie ja in Paris alles, auch der leidenschaftlichste Aufschwung, bis zu einem gewissen Punkt Modesache ist und sein muß, wenn es überhaupt für einige Zeit Bestand und Bedeutung gewinnen will.

Der Kaiser Napoleon war nach Wilhelmshöhe gekommen, nachdem er von Donchery aus unter preußischer Kavalleriebedeckung in wildem Unwetter, unter zuckenden Blitzen und rollendem Donner die französische Grenze überschritten hatte, dieselbe Grenze, welche er schon dreimal flüchtig hinter sich zurückgelassen. Zum erstenmal als Kind, nach dem Sturz seines großen Oheims, dann nach seiner Begnadigung durch Louis Philipp, als er ins Exil nach Amerika ging, und endlich in der Verkleidung des Maurergesellen Badinguet, als er das Schloß von Ham verließ, in welchem er während langer, einsamer Jahre über seinen Zukunftsplänen gebrütet hatte.

Damals, das letztemal, war er davongezogen unbeachtet und unerkannt, aber mit stolzer Zuversicht im Herzen, erfüllt von dem Glauben an seinen Stern. Dann war er zurückgekommen, um den Thron aufzurichten, von welchem herab er der lauschenden Welt seine Orakel verkündete.

Jetzt zog er in das Ausland, mit allem kaiserlichen Pomp umgeben; seine Piqueurs ritten ihm voran, seine Adjutanten folgten ihm in den glänzenden Equipagen des kaiserlichen Marstalls, die feindlichen Truppen rührten das Spiel und präsentierten die Waffen, wenn er an ihnen vorbeikam, und mit allen kaiserlichen Ehren wurde er an den Bahnhöfen empfangen.

Aber hinter ihm her schallten die Verwünschungen seiner Feinde aus allen Teilen Frankreichs. Seine Freunde schwiegen in dumpfer Bestürzung und viele, die sich am lautesten seine Freunde genannt hatten, stimmten jetzt am eifrigsten in das Verdammungsurteil über ihn ein.

Und in ihm selbst, – in ihm, der früher so fest an seinen Stern und sein Glück glaubte, lebte keine Hoffnung mehr, die Flamme war erloschen, die Kraft gebrochen und nur eine Sehnsucht erfüllte ihn, die Sehnsucht nach Ruhe und Stille, welche ihm die Gefangenschaft in Wihelmshöhe fast wie eine Erlösung erscheinen ließ.

Die Kaiserin Eugenie, welche so kühn und siegesgewiß die Regentschaft übernommen hatte, als Napoleon zu diesem Feldzug voll so unerhörter Niederlagen auszog, war auf dem gastlichen Boden Englands angekommen und hatte ihren Aufenthalt im Marinehotel in Hastings genommen, am Fuß des hochragenden Felsens, zu welchem die Wellen des Meeres heranrollen. Und während der müde Imperator in durstigen Zügen die duftige Waldluft von Wilhelmshöhe einatmete, blickte die Kaiserin hinaus auf die rollenden Wellen, und tausendfältig, wie diese, wogten die Gedanken in ihr auf und nieder, Entwürfe durch Entwürfe verdrängend und zuweilen aufschäumend in der Sturmflut wilder Verzweiflung.

In Hastings hatte sich auch der kaiserliche Prinz zu seiner Mutter gefunden, dies arme Kind, das so ganz betäubt war von den Schlägen, die urplötzlich die Welt zertrümmert hatten, in welcher er geboren und aufgewachsen war und welche ihm so unerschütterlich fest begründet geschienen hatte.

So schienen in dieser kurzen Zeit fast die Spuren und Erinnerungen des Kaiserreichs verweht und vergessen.

Und doch gab es einen Punkt in Frankreich, der noch nicht berührt war von der gewaltigen Wendung des Völkerschicksals. Dieser Punkt war Metz, hinter dessen Wällen sich der Marschall Bazaine mit einer Armee von hunderttausend Mann auserlesener Truppen, mit dieser ganzen prächtigen kaiserlichen Garde befand, welche so oft die Bevölkerung von Paris mit Stolz und Bewunderung erfüllt hatte und welche den fremden Souveränen vorgeführt worden war als ein schimmerndes Bild der französischen Waffenmacht.

Metz, diese alte, noch nie genommene Festung, stand da wie ein hochragender Felsen in dem ringsum flutenden Meer der feindlichen Armee, und jedermann fühlte, daß hier ein großer Teil der Entscheidung über die Zukunft Frankreichs läge.

Auf Metz richteten sich daher die Blicke von allen Seiten her, teils mit Angst und Besorgnis, teils mit Mut und Hoffnung.

Der siegreiche König von Preußen und sein großer, schweigsamer Generalstabschef blickten nach Metz zurück auf ihrem schnellen Vormarsch nach Paris, denn für den endlichen Erfolg des Krieges war es von der höchsten Wichtigkeit, diese jungfräuliche Festung durch den festen Eisengürtel, mit dem der Prinz Friedrich Karl sie einschloß, zur Übergabe zu zwingen.

Nach Metz blickten die regierenden Advokaten in Paris hin, denn sie trauten dem festen und entschlossenen Marschall nicht und Gerüchte drangen von dort her, daß in der eingeschlossenen Festung noch immer die Fahnen des Kaisers wehten, – des Kaisers, den auch der Feind noch immer ausschließlich als die einzige legale Regierung Frankreichs betrachtete.

Nach Metz richteten sich hoffnungsvoll die Blicke der Kaiserin von Hastings aus. Sie kannte den starren, entschlossenen Sinn des Marschalls Bazaine, und wenn irgendeine Transaktion zum Frieden führen konnte, so würde diese einzige organisierte und intakte Armee, die Frankreich noch besaß, der kaiserlichen Regierung gehören.

Und der gefangene Kaiser? – Schwer wäre es zu sagen, was er dachte. Er ging in den Alleen des Parks von Wilhelmshöhe spazieren. Auf dem Tisch in seinem Kabinett lag eine Kriegskarte ausgebreitet. Sein vertrauter Sekretär Pietri studierte alle Zeitungen, welche Nachrichten vom Kriegsschauplatz brachten, und wenn der Kaiser von seinem Spaziergang zurückkehrte, so markierte er mit Nadeln die Bewegungen der Truppen und besprach mit den Generalen seiner Umgebung die strategische Lage des Marschalls Bazaine.

Aber er tat dies alles mit einer so kalten, fast gleichgültigen Ruhe, als ginge ihn das Schicksal des Krieges, der dort geführt wurde und noch immer Tausende und Tausende von Menschenleben verschlang, gar nichts an, als wäre er ein einfacher Privatmann, der lediglich mit der Neugier eines interessanten Studiums die Ereignisse seiner Zeit verfolgte.

So war die Lage am 14. September, etwa zwei Wochen nach der Schlacht von Sedan.

Aus dem Vormittags von London in Hastings ankommenden Eisenbahnzug stieg ein Mann im Alter von etwa fünfzig bis sechzig Jahren in einem einfachen, saubern Reiseanzug. Das regelmäßige, scharf und kräftig geschnittene Gesicht dieses Mannes war gesund und voll, sein Mund und sein Kinn, von einem starken Schnurr- und Knebelbart bedeckt, zeigten willenskräftige Entschlossenheit, seine Augen blickten unter krustigen Brauen hervor, mehr mit dem Ausdruck eines schlichten, klaren Verstandes, als mit dem Licht hoher, außergewöhnlicher Intelligenz.

Doch lag in dem Blick dieser Augen eine gewisse unstäte fast ängstliche Bewegung, welche nicht ganz mit der ruhigen Physiognomie und Haltung des Mannes zusammenpaßte. Einen ganz besondern Charakter gab dieser Erscheinung die weißgraue Farbe des Haares und des Bartes, welche so eigentümlich gemischt war, daß es schien, als läge weißer Puder über dunklem Haar, – der ganze Mann sah aus wie der Haushofmeister eines alten, vornehmen Hauses.

Während die übrigen Angekommenen sich nach verschiedenen Seiten verteilten, übergab dieser Mann sein einfaches Handgepäck einem Kofferträger und ließ sich von demselben nach dem großen Marinehotel führen, in welchem die Kaiserin Eugenie ihr vorläufiges Quartier genommen hatte.

Der Fremde fragte einen der auf dem Vestibül wartenden kaiserlichen Lakaien nach Madame Lebreton, der Vertrauten der Kaiserin.

Der Lakai betrachtete ihn prüfend und entfernte sich mit der Karte, welche der Unbekannte ihm reichte.

Nach einigen Augenblicken kehrte er zurück und führte den Fremden durch den Korridor in einen im hintern Teil des Gebäudes liegenden Salon, in welchem unmittelbar darauf Madame Lebreton erschien, eine Dame von mittlerem Alter, aber noch jugendlich frischen, regelmäßigen Gesichtszügen mit scharfen, klugen Augen.

Sie hielt noch die Karte, welche der Lakai gebracht hatte, in der Hand und sprach mit einer artigen Verneigung gegen den Fremden:

»Sie sind selbst gekommen, Herr Regnier, – das freut mich. Es wird mir besonders angenehm sein, mich mit Ihnen zu unterhalten, da Sie an dem Schicksal Frankreichs und des Kaisers ein so großes Interesse nehmen.«

»Ich wünsche«, erwiderte Herr Regnier, »das Unglück, das mit so erschütterndem Schlage unser Vaterland getroffen, auf das möglichst geringste Maß einzuschränken und zugleich Frankreich die Regierung zu erhalten, unter welcher es zwanzig Jahre lang glücklich gewesen ist, unter welcher es nach meiner Überzeugung für die Zukunft allein glücklich sein und an seine innere und äußere Wiederaufrichtung denken kann.«

»Die Regierung zu erhalten?« erwiderte Madame Lebreton ein wenig erstaunt. »Es muß Ihnen doch bekannt sein, daß diese undankbaren Pariser die kaiserliche Regierung für abgesetzt erklärt haben –«

»Das ist gleichgültig!« rief Herr Regnier, »was in Paris in diesem Augenblick wilder Trunkenheit geschehen ist, hat keine verbindende Kraft für das Volk, für die Armee und für die Flotte,« fügte er mit Betonung hinzu. »Auch für die auswärtigen Mächte besteht in diesem Augenblick nur die kaiserliche Regierung. Aber es muß schnell, schnell gehandelt werden,« fuhr er mit einer Art nervöser Unruhe fort, »wenn nicht die vollendete Tatsache sich befestigen und unüberwindlich werden soll. Haben Sie meinen Brief Ihrer Majestät der Kaiserin mitgeteilt?«

»Gewiß, mein Herr,« erwiderte Madame Lebreton, »wie hätte ich wagen können, ein so wichtiges Schreiben der Kenntnis meiner Gebieterin vorzuenthalten!«

»Und was hat die Kaiserin gesagt? Wie hat sie meine Vorschläge aufgenommen?« fragte Herr Regnier, zitternd vor Ungeduld.

»Die Kaiserin,« erwiderte Madame Lebreton, indem sie sich auf einen kleinen Lehnstuhl niederließ und Herrn Regnier ersuchte, neben ihr Platz zu nehmen, »die Kaiserin hat Ihren Brief zweimal durchgelesen und lange Zeit über den Inhalt desselben ernstlich nachgedacht, aber ich muß Ihnen sagen, daß sie nicht imstande gewesen ist, sich vollständig Ihre Ideen anzueignen. Sie hat in denselben die Interessen der Dynastie zu sehr betont gefunden, und es widerstrebt dem Gefühl Ihrer Majestät, diesen Interessen der Dynastie den Vorzug vor denjenigen Frankreichs zu geben. Die Kaiserin ist mit ihrem ganzen Herzen Französin, und gerade, weil sie es durch die Geburt nicht ist, möchte sie sich auch nicht dem Verdacht aussetzen, aus persönlicher Rücksicht für die Dynastie einen Schritt zu tun, der leicht zu einem Bürgerkrieg führen könnte, ja einen solchen Bürgerkrieg, das höchste Unglück, das Frankreich in seiner jetzigen Lage noch treffen könnte, fast wahrscheinlich macht.«

Herr Regnier sprang auf.

»Mein Gott!« rief er, »welch' ein Unglück, welch' ein Unglück! – Wenn die Kaiserin nicht handeln will, wer soll dann in diesem Augenblick etwas tun, um Frankreich zu retten, das sich in sichern Ruin stürzt, während die siegreichen Heere des Feindes auf Paris marschieren! – Und der Kaiser ist in Gefangenschaft auf Wilhelmshöhe, – er hat den Frieden nicht schließen wollen, durch den er sich und Frankreich hätte retten können, – was ich nicht habe begreifen können, – aber es ist geschehen, er ist für den Augenblick nicht in Berechnung zu ziehen, – also muß die Kaiserin für ihren Gemahl, für ihren Sohn handeln, sie hat ja die Vollmacht der Regentschaft, – hat denn Ihre Majestät nicht erwogen, wie ich in meinem Brief vorgestellt habe, daß die französische Flotte französischer Boden ist, und daß sie von einem Kriegsschiff aus ebensogut Frankreich regieren, ebensogut Frieden schließen kann, als wenn sie sich in den Tuilerieen befände? Ein ebenso sicherer Zufluchtsort als die Flotte würde Korsika sein, wo sich jede Hand zum Schutze der Kaiserin und der kaiserlichen Rechte erheben würde.«

»Aber, mein Herr,« sagte Madame Lebreton, »glauben Sie denn, daß die Kaiserin mit voller Sicherheit auf die Flotte würde zählen können? – auf Korsika vielleicht, aber was würden Dekrete, was würden Verhandlungen von Korsika aus nützen?«

»Sie würden das nützen,« rief Herr Regnier, »daß die Kaiserin sich auf französischem Territorium befände und also alle ihre Dekrete, alle ihre Verhandlungen völkerrechtliche Gültigkeit hätten. Man müßte den General Fleury benachrichtigen. Sobald die Kaiserin auf französischem Boden sich befindet, würde der Kaiser Alexander mit ihr verhandeln, seine Vermittlung eintreten lassen, und ich bin fest überzeugt, daß der König von Preußen – selbst ohne die Vermittlung des ihm befreundeten russischen Kaisers – lieber mit der kaiserlichen Regierung Frieden schließen würde, als den Krieg gegen jene Wahnsinnigen in Paris fortsetzen.«

»Aber wenn Frankreich«, erwiderte Madame Lebreton, welche von den bewegten Worten des Herrn Regnier lebhaft berührt zu sein schien, – »wenn Frankreich einen solchen Frieden nicht anerkennen und gutheißen würde, wenn Paris –«

»Paris!« rief Herr Regnier. »Was ist Paris? Haben wir nicht Metz? Haben wir nicht Bazaine mit seiner Armee und mit der kaiserlichen Garde, diesem einzigen großen Truppenkörper, der noch fest dasteht? Wenn die Kaiserin Frieden schließt, wird Bazaine frei, sie und der Prinz können' sich in die Mitte dieser Armee begeben und alles wird wieder zur ruhigen und festen Ordnung zurückkehren, – zweifeln Sie an der Treue und Ergebenheit des Marschalls Bazaine?«

»Nein,« sagte Madame Lebreton; »die Kaiserin ist überzeugt,« fügte sie hinzu, »daß der Marschall dem Kaiser ergeben ist und als ein einfacher Soldat streng an der Fahne hält, zu der er geschworen.«

»Nun denn,« rief Herr Regnier, »wo ist eine Schwierigkeit? Wo ist ein Grund der Zögerung? Wenn die Kaiserin über einen Marschall von Frankreich, über eine große Armee gebieten kann, – wer wollte ihr Widerstand leisten? Wer wollte ihr vorwerfen, die Interessen des Landes hinter diejenigen der Dynastie zurückgestellt zu haben? O, ich bitte Sie, Madame, ich bitte Sie, gehen Sie noch einmal zu Ihrer Majestät, machen Sie, daß sie mich anhört. Meine Überzeugung steht felsenfest, daß noch alles gerettet werden kann. Mein feuriger Eifer, dem Kaiser und dem Lande zu dienen, verzehrt mich. Oft schon hat ja die Vorsehung in der Weltgeschichte geringe Personen ausgewählt, um Großes zu vollbringen –«

»In der Tat, mein Herr,« sagte Madame Lebreton, ein wenig zögernd, »Ihre Zuversicht muß auf einer sehr festen Überzeugung beruhen, und ich glaube es nicht verantworten zu können, die Sache damit beendet sein zu lassen. Wollen Sie mich einen Augenblick hier erwarten, ich will noch einmal mit Ihrer Majestät über die Sache sprechen.«

»Tun Sie das, Madame,« rief Herr Regnier, »tun Sie das und geben Sie mir, wenn ich Sie bitten darf, einen Bogen Papier und eine Feder, damit ich meine Gedanken noch einmal niederschreiben kann; hoffentlich wird es mir gelingen, eine noch klarere und überzeugendere Form für dieselben zu finden.«

Madame Lebreton öffnete einen neben dem Fenster stehenden Schreibtisch, legte einen Bogen Papier auf denselben und verließ das Zimmer.

»Der gute Genius Frankreichs gebe Ihren Worten Kraft!« rief Herr Regnier, indem er wie beschwörend die Hand gegen sie ausstreckte.

Dann ging er in heftiger Bewegung auf und nieder, leise Worte vor sich hinsprechend.

Nach einigen Augenblicken setzte er sich an den Schreibtisch, ergriff die Feder, und in hastiger Eile flog seine Hand über das Papier hin.

Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein, als Madame Lebreton wieder eintrat, begleitet von Herrn Fillion, dem Erzieher des kaiserlichen Prinzen, einem noch jungen Mann mit bleichem, regelmäßigem Gesicht von ernstem, fast strengem Ausdruck, und zwei anderen Herren in eleganter Zivilkleidung, aber von militärischer Haltung.

Der eine derselben mochte etwa dreißig Jahre alt sein, war hoch und schlank gewachsen, sein schönes, regelmäßiges Gesicht mit militärischem Bart und sorgfältig frisiertem Haar war leicht gebräunt und der Blick seiner dunklen Augen streifte hochmütig über Herrn Regnier hin.

Der andere war älter, sein Haar und Bart begann leicht zu ergrauen und seine Züge zeigten den Ausdruck gleichgültig verschlossener Höflichkeit, den man häufig bei höheren Hofbeamten findet.

Madame Lebreton stellte Herrn Regnier vor und sagte dann: »Herr Fillion, der Erzieher des kaiserlichen Prinzen, ist von Ihrer Majestät mit diesen Herren beauftragt, mit Ihnen über Ihre Ansichten und Pläne zu sprechen. –«

Und diese Herren?« sagte Herr Regnier, etwas betroffen, in fragendem Ton.

»Namen tun nichts zur Sache,« erwiderte der jüngere der beiden Eingetretenen, »kommen wir auf den Gegenstand, der Sie hierher geführt.«

Der ältere der beiden Herren nickte bestätigend.

Herr Regnier zuckte zusammen. Eine heftige Entgegnung schien auf seinen Lippen zu schweben.

Herr Fillion trat zu ihm heran und sprach mit einer wohltönenden, ruhigen und sanften Stimme:

»Sie sind hieher gekommen, mein Herr, um, von treuem Eifer für das kaiserliche Haus und für Frankreich geleitet, Ihrer Majestät der Kaiserin Ratschläge zu geben und Ihre Dienste zu Ausführung derselben anzubieten –«

»Guter Rat und gute Dienste,« fiel Herr Regnier mit einem scharfen Seitenblick auf die beiden Herren ein, finden nicht immer Anerkennung und vielleicht ist es besser, mit denselben zurückzuhalten.«

»Jede gute Absicht findet die Anerkennung, die sie verdient,« sagte Herr Fillion freundlich, »Sie werden aber auch begreifen, daß ein jeder Rat in einer so ernsten Lage, wie die gegenwärtige, auf das Sorgfältigste und Vorsichtigste geprüft werden muß, denn jede Übereilung kann die verderblichsten Folgen haben –«

»Und die Zögerung führt sicher in das Unheil!« rief Herr Regnier.

»Kommen wir also zur Sache!« rief der ältere der beiden Herren, die Herrn Fillion begleiteten, im Ton ruhiger, kalter Höflichkeit. »Sie haben, mein Herr«, fuhr er fort, »Ihrer Majestät den Vorschlag unterbreitet, sich auf die Flotte oder nach Korsika zu begeben und von dort aus, kraft ihrer Vollmacht als Regentin, mit den Feinden über den Frieden zu unterhandeln. Wir haben über die Sache eingehend mit Ihrer Majestät gesprochen und können der Kaiserin nicht dazu raten, Ihre Vorschläge zu genehmigen. In der augenblicklichen Lage weiß ich nicht, ob man mit Sicherheit auf die Flotte rechnen könnte. Die neue Regierung, welche sich allerdings eigenmächtig eingesetzt hat, der aber die Armee von Paris gehorcht, hat auch an die Flotte bereits ihre Befehle gesendet, und Herr Duperré ist nicht mehr Kommandant des Taureau –«

»Aber, mein Gott«, rief Herr Regnier, »wenn auch Herr Duperré nicht mehr Kommandant des Taureau ist, so wird er doch irgendein Schiff zu seiner Verfügung haben! Und wenn die Kaiserin auf dem Verdeck eines französischen Schiffes ist, so ist sie in Frankreich. Die Befehle und Ernennungen der neuen Regierung werden nicht ermangeln, unter den Admiralen Eifersucht zu erregen, und das wird gerade dem Unternehmen, das ich der Kaiserin anrate, förderlich sein.«

»Das wäre der Bürgerkrieg,« erwiderte der ältere der beiden Herren ruhig und kalt, »und gerade die Wahrheit Ihrer Bemerkung muss nach meiner Ansicht die Kaiserin vor allem abhalten, den durch Ihre Vorschläge angedeuteten Weg zu betreten.«

Herr Regnier blickte wie Hülfe suchend zu Herrn Fillion, der sinnend und ernst dastand, während Madame Lebreton flüchtig das Papier überlas, das Herr Regnier beschrieben hatte.

»Mein Gott«, rief dieser, »so soll denn alles verloren sein, so soll denn durchaus nichts geschehen, um das Kaisertum zu retten gegen den Angriff dieser verwegenen Abenteurer, welche in der allgemeinen Bestürzung sich der Regierung bemächtigt haben! Ich bitte Sie, meine Herren,« sagte er, indem er schnell das Papier aus der Hand der Madame Lebreton nahm, »ich bitte Sie um Frankreichs willen, um des Kaisers willen, dem Sie ja ergeben sein müssen, da ich Ihnen in diesem Augenblicke hier begegne: bestimmen Sie Ihre Majestät, noch einmal über die Sache nachzudenken, bestimmen Sie die Kaiserin, wenigstens dies Resumé noch zu lesen, das ich soeben niedergeschrieben habe.«

Er reichte das Papier dem ältern der beiden Herren.

Dieser nahm es nach kurzem Zögern und sagte:

»Ich werde nicht ermangeln, Ihr Resumé der Kaiserin zu übergeben. Ich glaube Ihnen jedoch sagen zu müssen, dass ich nicht voraussetzen kann, Ihre Majestät werde ihren Entschluß ändern, – ich wenigstens«, fügte er, sich kalt verneigend, hinzu, »werde derselben nicht dazu zu raten imstande sein. Sollte aber Ihre Majestät in den Ausführungen, die Sie mir geben, etwas finden, was sie bestimmen möchte, aus ihrer wohlerwogenen und festbeschlossenen Zurückhaltung herauszutreten, so werden Sie darüber Nachricht erhalten.«

Mit artigem Gruß verließ er das Zimmer. Sein junger Begleiter folgte ihm mit leichtem Neigen des Kopfes gegen Herrn Regnier, der den beiden traurig nachsah und wie gebrochen in einen Lehnstuhl zusammensank.

»Ist es denn der Fluch aller sinkenden Dynastien«, rief er in tiefer Traurigkeit, »dass sie in ihrer Umgebung keine klaren Gedanken und keinen kräftigen Willen finden und dass sie den Rat und die Dienste ergebener Freunde zurückwerfen?«

Madame Lebreton blickte den zusammengebrochenen Mann teilnehmend an.

Herr Fillion, der bisher fortwährend in tiefem Nachdenken dagestanden hatte, trat zu ihm und sprach freundlich:

»Es tut mir aufrichtig leid, mein Herr, dass Ihr Eifer und Ihre Ergebenheit für eine von so vielen verlassene und aufgegebene Sache keinen Raum zur Tätigkeit findet. Es liegt in Ihren Gedanken vieles«, fuhr er fort, »was mich anzieht. Oft schon sind große Dinge geschehen durch eine kühne Benützung des Augenblicks. Aber ein solch' kühnes, rücksichtsloses Erfassen des Moments ist zum Erfolg nötig, und Sie werden begreifen, wie ich es anerkenne, dass die Kaiserin so zu handeln kaum imstande ist. Bedenken Sie die Verantwortlichkeit Ihrer Majestät, – würde das Unternehmen, das Sie anraten, üble Folgen haben, so würde alle Welt, auch die Freunde des Kaiserreichs, die Kaiserin verurteilen, welche die Vollmacht der Regentschaft doch nur für die ruhige Fortführung der Regierung erhalten hat und es nicht wagen darf, Schritte zu tun, welche in einem kühnen und vielleicht gefährlichen Spiel die Zukunft ihres Gemahls und ihres Sohnes einsetzen. – – Ja, – wenn der Kaiser frei wäre,« fügte er sinnend hinzu, »wenn er hier wäre, er könnte –«

»Welch' ein Gedanke!« rief Herr Regnier, plötzlich aufspringend, »der Kaiser, – ja, das ist es, – wenn er meinen Gedanken billigte, – wenn er seine Ausführung guthieße –«

»Dann würde Ihre Majestät«, fiel Madame Lebreton ein, »gewiss keinen Augenblick zögern, auf Ihre Ideen einzugehen, in denen sie vieles findet,« fügte sie rasch hinzu, »was ihr sympathisch ist und ihrem zum entschiedenen Handeln geneigten Charakter entspricht.«

»Dann zum Kaiser!« rief Herr Regnier. »Es ist keine Zeit zu verlieren. Eine innere Stimme sagt mir, dass noch alles gerettet werden kann, wenn nur eine Autorität da ist, um die sich die Treuen scharen können und welche der angemaßten Regierungsgewalt in Paris entgegentreten kann. Doch«, sagte er plötzlich innehaltend und wieder ganz niedergeschlagen vor sich hinstarrend, »wie kann ich zum Kaiser gelangen? Werden mir dort nicht dieselben Schwierigkeiten entgegentreten, die sich hier unüberwindlich vor mir aufrichten?« fügte er mit bitterem Hohn hinzu. »O, mein Herr«, sagte er, die Hand auf den Arm des Herrn Fillion legend, »wenn Ihre Majestät die Kaiserin mir wenigstens Eingang zum Kaiser verschaffte, wenn sie mir einen Auftrag erteilte –«

»Das wird schwer sein,« sagte Herr Fillion kopfschüttelnd, »der Kaiser ist Gefangener und seine Lage erfordert dass die Kaiserin so zu handeln kaum imstande ist. Bedenken Sie die Verantwortlichkeit Ihrer Majestät, – würde das Unternehmen, das Sie anraten, üble Folgen haben, so würde alle Welt, auch die Freunde des Kaiserreichs, die Kaiserin verurteilen, welche die Vollmacht der Regentschaft doch nur für die ruhige Fortführung der Regierung erhalten hat und es nicht wagen darf, Schritte zu tun, welche in einem kühnen und vielleicht gefährlichen Spiel die Zukunft ihres Gemahls und ihres Sohnes einsetzen. – – – Ja, – wenn der Kaiser frei wäre,« fügte er sinnend hinzu, »wenn er hier wäre, er könnte –«

»Welch' ein Gedanke!« rief Herr Regnier, plötzlich aufspringend, »der Kaiser, – ja, das ist es, – wenn er meinen Gedanken billigte, – wenn er seine Ausführung guthieße –«

»Dann würde Ihre Majestät«, fiel Madame Lebreton ein, »gewiss keinen Augenblick zögern, auf Ihre Ideen einzugehen, in denen sie vieles findet,« fügte sie rasch hinzu, »was ihr sympathisch ist und ihrem zum entschiedenen Handeln geneigten Charakter entspricht.«

»Dann zum Kaiser!« rief Herr Regnier. »Es ist keine Zeit zu verlieren. Eine innere Stimme sagt mir, dass noch alles gerettet werden kann, wenn nur eine Autorität da ist, um die sich die Treuen scharen können und welche der angemaßten Regierungsgewalt in Paris entgegentreten kann. Doch«, sagte er plötzlich innehaltend und wieder ganz niedergeschlagen vor sich hinstarrend, »wie kann ich zum Kaiser gelangen? Werden mir dort nicht dieselben Schwierigkeiten entgegentreten, die sich hier unüberwindlich vor mir aufrichten?« fügte er mit bitterem Hohn hinzu. »O, mein Herr«, sagte er, die Hand auf den Arm des Herrn Fillion legend, »wenn Ihre Majestät die Kaiserin mir wenigstens Eingang zum Kaiser verschaffte, wenn sie mir einen Auftrag erteilte –«

»Das wird schwer sein,« sagte Herr Fillion kopfschüttelnd, »der Kaiser ist Gefangener und seine Lage erfordert ist eine photographische Ansicht von Hastings, unter welche der Prinz einige Worte geschrieben hat, welche völlig harmlos sind, aber doch – und vielleicht gerade dieser Harmlosigkeit wegen – imstande sein werden, Ihnen Gehör beim Kaiser zu verschaffen. Ich darf bemerken, fügte er hinzu, »dass ich Ihnen dies Blatt mit der Zustimmung der Kaiserin gebe, muss Ihnen aber auch ebenso sagen, dass Ihre Majestät mich dabei nochmals beauftragt hat, Ihnen zu bemerken, dass die Ausführung Ihres Vorhabens höchst gefährlich sei, und dass die Kaiserin Sie deshalb bitte, doch lieber von der ganzen Sache abzustehen.«

Herr Regnier ergriff hastig die Photographie und las atemlos die darunter stehenden Worte:

»Mon cher papa, je vous envoie ces vues de Hastings, j'espère, quelles vous plairont.
Louis Napoleon.«

j'espère, quelles vous plairont, wiederholte Herr Regnier mit freudigem Ton, – »das genügt, das wird mir den Weg öffnen. Diese Worte seines Sohnes werden zum Herzen des Kaisers dringen. Er wird verstehen, dass der Gedanke, der mich erfüllt, unter seinem guten Stern entstanden ist. Ich danke Ihnen, mein Herr,« rief er, Herrn Fillions Hand drückend, »augenblicklich werde ich mich auf den Weg machen, sagen Sie Ihrer Majestät, dass sie bald von mir hören soll.«

Er ergriff seinen Hut und eilte hinaus, während Herr Fillion ihm halb teilnehmend, halb verwundert nachblickte.

Herr Regnier ließ sich sein kleines Reisegepäck wieder nach dem Bahnhof tragen. Dort angekommen, löste er sein Billet zur Rückkehr nach London und ging, die Abfahrt des Zuges erwartend, auf dem Perron auf und nieder.

Soeben wurden die neuesten Zeitungen ausgeboten. Herr Regnier trat zu einem Verkäufer heran und kaufte eine Nummer des »Special Observer«. Flüchtig und gleichgültig überflog er die Spalten des Blattes, mehr mit seinen Gedanken als mit dem beschäftigt, was er las.

Plötzlich fuhr er zusammen.

»Mein Gott!« rief er so heftig, dass einige der mit ihm auf dem Perron Wartenden erstaunt aufblickten, – »das kann alle meine Pläne zerstören,« sprach er leiser weiter, »das böse Verhängnis Frankreichs überholt mich. Jules Favre soll eine Zusammenkunft mit dem Grafen Bismarck zu Meaux haben, – findet dort eine Verständigung statt, – die Anbahnung des Friedens, – dann ist das Kaiserreich verloren, – dann ist Frankreich auf lange hinaus der Anarchie preisgegeben, – die Zeit der Reise nach Wilhelmshöhe und hierher zurück kann alles wieder in Frage stellen. Was tun?« sagte er düster, das Zeitungsblatt in der Hand zerknitternd.

Nach einigen Augenblicken schien ein Gedanke in ihm aufzublitzen, er richtete sich empor. Mutiger Entschluß lag auf seinen Zügen.

»Ich muss diesem Sendboten der Pariser Regierung zuvorkommen. Ich will allein handeln, ich will mitten hinein in die Armeen der Feinde, zu diesem unbeugsamen Mann, der heute das Schicksal Frankreichs in seinen Händen hält. Das Blatt, das mir den Weg zu dem gefangenen Kaiser öffnen sollte, wird mich auch beim Grafen Bismarck einführen; und er wird mich verstehen, er wird begreifen, dass die kaiserliche Regierung die einzige ist, welche Garantien für einen sichern Frieden bieten kann. Jetzt ist mir leicht,« sagte er, tief aufatmend, »jetzt liegt klar vorgezeichnet in meinem Geist da, was ich zu tun habe. Ich habe nur mit mir allein, mit meinem Willen, mit meiner Kraft zu rechnen, und meine Kraft wird aushalten, mein Wille wird nicht matt werden!«

Der Zug fuhr zur Abfahrt an den Perron. Herr Regnier stieg ein, und einige Augenblicke darauf tönte das Pfeifen der Lokomotive.

Während die deutschen Armeen immer fester ihren eisernen Gürtel um die alte Festungsstadt Metz zusammenzogen und siegreich immer näher nach der Hauptstadt Frankreichs vordrangen, während in Paris der General Trochu die Verteidigung organisierte und hinter der Regierung der Herren Jules Favre und Gambetta die finsteren Gestalten der Faubourgs St. Antoine und Belleville langsam heraufstiegen, während ganz Europa in angstvoller Spannung auf den gewaltigen Völkerkampf blickte, dessen Flammen in immer neuer Lohe aufschlugen, fuhr einsam und schweigend dieser einfache Mann, dessen Namen niemand vorher genannt, der fernab von dem Treiben der großen Welt gestanden hatte, auf dem brausenden Eisenbahnzug dahin, um mit seiner Hand in das gewaltige Rad der Völkerschicksale zu greifen, das in seinem vernichtenden Umschwung Heere von Tausenden niederwirft, das aber oft auch durch ein Atom in rätselhaft unerforschlicher Fügung aufgehalten und gewendet werden kann.


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