Gregor Samarow
Held und Kaiser
Gregor Samarow

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Neunzehntes Kapitel

Von der Höhe der Vogesen herab, an den Wäldern und Schmelzhütten von Ravale und Goutterade vorbei, stürzt sich der Fluß Oignon in das Departement der Haute Saone herab; er verschwindet bei Froideterre unter der Erde, um etwa eine Meile weiter wieder zum Vorschein zu kommen und, sich durch mehrere Zuflüsse verstärkend, zwischen den Departements Haute Saone und Jura hinzufließen und sich endlich in die Saone zu ergießen.

Etwa vier Meilen von diesem Fluß entfernt liegt in der Nähe des Rhein-Rhone-Kanals die kleine Stadt Dole, eine einfache Landstadt von etwa elftausend Einwohnern, welche größtenteils Speditionshandel auf dem Kanal treiben und sich um alles, was nicht unmittelbar ihren Wirkungskreis berührt, namentlich aber um die große Politik und um die Händel in Frankreich und Europa sehr wenig gekümmert hatten, bis endlich dieser gewaltige Krieg, welcher alle bestehenden Verhältnisse zertrümmerte, sie aus ihrem friedlichen Stilleben aufschreckte. Lange hatten sie zwar unmittelbar nichts von dem Kriege gesehen, dafür sollten sie aber jetzt mitten in denselben hineinkommen; denn eines Tages, in der ersten Hälfte des Monats Oktober, erhielt der Maire von Dole ein Schreiben des Präfekten seines Departements, worin ihm angekündigt wurde, daß der General Garibaldi, der Chef aller irregulären Streitkräfte Frankreichs, die Stadt Dole zu seinem Hauptquartier erwählt habe, und daß man von dem Patriotismus der Bürger eine gute Aufnahme des Generals, seines Hauptquartiers und der ihn begleitenden Truppen erwarte.

Am Tage darauf war denn auch der General Garibaldi durch die von den neugierigen Einwohnern dicht besetzten Straßen eingezogen. Er kam in einem leichten offenen Wagen, da er seiner Fußwunde wegen nur noch selten zu Pferde stieg, in seinem roten Hemd, ein Tuch um den Hals, eine weiche Mütze auf dem Kopf, herangefahren.

Neben ihm ritten der polnische General Bosak mit seinem wilden Gesicht, dem vollen, etwas struppigen Bart und der roten, viereckigen polnischen Mütze auf dem Kopf; der italienische Oberst Tanara, welcher das Genueser Bataillon kommandierte; der Oberst Ravelli, der Führer der Jäger der Seealpen, und Barbarino Falcone, welcher ohne besonderes Kommando Adjutantendienste bei dem Hauptquartier tat; eine Reihe von Ordonnanzen folgte.

Die Einwohner von Dole waren ziemlich enttäuscht bei dem Anblick des Hauptquartiers dieses Generals, von welchem die Welt so viel gesprochen und welchem jetzt eine so wichtige Stelle in der Verteidigung Frankreichs gegeben worden war. Dieser ganze Einzug des gebückten, unscheinbaren Mannes auf dem kleinen Wagen, umgeben von diesen abenteuerlichen Reitern in roten Hemden, mit wuchtigen Schleppsäbeln und weichen, zusammengedrückten Hüten, entsprach sehr wenig den Vorstellungen, welche sie von einem hohen militärischen Kommando hatten und stimmte nicht mit den Erinnerungen überein, welche sie von dem gelegentlichen Erscheinen eines kaiserlichen Generals und seinem glänzenden Stabe bewahrten.

Der General Garibaldi war in der Mairie abgestiegen, wo der Maire die besten Zimmer für ihn eingerichtet hatte, die übrigen Führer bezogen Quartiere bei den Honoratioren des Ortes und umgaben sich mit jener geräuschvollen Vielgeschäftigkeit, welche allen militärischen Dilettanten eigentümlich ist, wenn sie einmal Gelegenheit finden, die Sphäre des wirklichen Krieges zu berühren.

Bald nach dem Einzuge des Hauptquartiers sahen die Bewohner von Dole auch die Truppen einrücken, welche zunächst in der Stadt und unmittelbaren Umgegend Quartier nehmen sollten. Und abermals wurden ihre Erwartungen getäuscht, und zwar in noch höherem Grade als bei dem Erscheinen des Generals und seines Hauptquartiers, denn diese Truppen boten in der Tat einen wenig soldatischen Anblick, sie waren zum Teil mit den roten Hemden bekleidet, zum Teil aber trugen sie ganz beliebig zusammengesetzte und oft sehr phantastische Anzüge. Auch war ihre Bewaffnung nicht gleichartig, und ihre Gesichter würden, wenn man ihnen in einem einsamen Walde begegnet wäre, wenig Vertrauen eingeflößt haben. Am besten sahen die Jäger von den Seealpen aus, aber auch unter ihnen herrschte nicht durchgängig gleiche Uniformierung, und alle diese Abteilungen, welche unter der Musik einiger Hörner einzogen, die sowohl an Takt als an Harmonie viel zu wünschen übrig ließen, schienen sich nicht übermäßig viel an die Befehle ihrer Offiziere zu kehren, die sich übrigens auch in ihrer ganzen Erscheinung wenig von den Soldaten unterschieden.

Eine Stunde nach seiner Ankunft versammelte General Garibaldi in der Mairie die mit ihm eingetroffenen Führer und seinen kurze Zeit nach ihm in Dole angelangten Sohn Menotti zu einem Kriegsrat. Garibaldi hatte sich auf ein Ruhebett zurückgelehnt und seinen schmerzenden Fuß auf demselben ausgestreckt. Auf dem Tisch vor ihm lag eine Karte des Departements des Jura und der nächsten Umgegend.

Neben ihm saß sein Sohn Menotti; der polnische General Bosak hatte sich einen Stuhl herangerückt, auf welchem er rittlings saß und in anscheinend tiefem Nachdenken die Karte betrachtete; die Obersten Tamara und Ravelli hatten sich in bequemen Fauteuils niedergelassen – Barbarino Falcone stand hoch aufgerichtet, die Hände auf seinen Säbel gestützt, da.

»Wir haben«, sagte der General Garibaldi, indem er sich auf den Ellbogen stützte, »nunmehr – ich danke euch für euren Eifer, meine Freunde, der dies ermöglicht hat – die ersten Schritte zur militärischen Organisation unserer Kräfte getan, die Brigade Bosak ist operationsfähig –«

Er richtete den Blick auf den polnischen General.

»Vollkommen, mein General,« rief Bosak schnell, indem er sich den Schnurrbart strich, »vollkommen, und ich erwarte nur den Augenblick, sie an den Feind zu bringen; – es sind lauter unerschrockene Leute, zu den verzweifeltsten Anstrengungen fähig, im kleinen Krieg geübt und imstande, eine doppelt so große feindliche Macht zu beschäftigen und allmählich aufzureiben.

Garibaldi neigte den Kopf.

»Ebenso ist es mit Menottis Brigade,« sagte er, sich an seinen Sohn wendend.

»Ich bin so weit,« erwiderte dieser, »um, wenn es sein muß, ein Gefecht annehmen zu können.«

»Die Brigade Marie ist ebenfalls operationsfähig,« sagte Barbarino Falcone, »soeben ist die Meldung darüber eingegangen.«

»Wir haben also über drei Brigaden zu verfügen,« sagte Garibaldi, – »und täglich wachsen uns neue Kräfte zu, die wir nur zu formieren haben, um binnen kurzem über eine beträchtliche und weithin ausgedehnte Truppenmacht verfügen zu können. Es ist also der Augenblick gekommen, um in Aktion zu treten und dem französischen Volk zu zeigen, daß wir wirklich imstande sind, ihm eine reelle und ernste Hilfe zu bringen –«

»Wovon man sich bis jetzt hier noch sehr wenig überzeugt zu haben scheint,« fiel der Oberst Tanara mit bitterem Lachen ein. »Ich habe auf meinem Marsch mit dem Genueser Bataillon von Chambery hierher außer einigem Jubel der Straßenbevölkerung in den Städten sehr wenig Zeichen von Sympathie bemerkt, – das Landvolk sogar schien sich mit einiger Furcht vor uns zurückzuziehen.«

»Wir müssen sehr strenge Disziplin halten,« sagte Garibaldi in ernstem Ton, »damit diese Furcht verschwindet, übrigens wird das alles anders werden, sobald wir nur erst einen durchschlagenden Erfolg für die Sache der französischen Republik aufzuweisen haben werden, und dahin werden wir hoffentlich nun bald gelangen. – Hört mich an, meine Freunde,« fuhr er fort, indem er die Karte zu sich heranzog und den Blick auf dieselbe heftete, »ich habe über unsere Stellung und über unsere gegenwärtige Aufgabe nachgedacht, ich habe alle einlaufenden Meldungen geprüft und miteinander verglichen und mir einen Plan gebildet, um unsere gegenwärtig verfügbaren Kräfte sehr wirksam zu verwenden.«

Alle hörten mit gespannter Aufmerksamkeit zu.

»Es geht, wenn auch unser Vorpostendienst noch nicht vollständig organisiert ist, dennoch aus allen hierher gelangten Meldungen klar hervor, daß eine preußische Abteilung die kleine Stadt Gray besetzt und ihre Vorposten bis in geringe Entfernung von Dole, unserem gegenwärtigen Hauptquartier, vorgeschickt hatte; gestern nun ist Gray verlassen und alle preußischen Vorposten zurückgezogen worden; dagegen hat man Kavallerieabteilungen auf der Straße gegen Vefoul hin gesehen, diese Truppenteile müssen zu dem Korps des Generals von Werder gehören und demselben muß besonders daran liegen, die Wege nach Besançon zu besetzen, um seine Operationen zu decken. Diese feindlichen Bewegungen machen es aber fast mit mathematischer Gewißheit notwendig, daß das Korps des Generals Werder mit den Truppen des französischen Generals Cambriel zusammenstoßen muß, welcher die Aufgabe hat, die Linie des Oignon, diesen letzten und leicht zu verteidigenden Abschnitt auf dem Wege nach Besançon zu halten. Unsere Aufgabe muß es nun sein, mit dem General Cambriel zusammen zu operieren und ihn in der Verteidigung der wichtigen Oignonlinie zu unterstützen –«

»Und dazu werden wir von hier aus ganz besonders in der Lage sein,« rief Menotti, indem er sich über die Karte beugte und mit dem Finger den Lauf des Oignon verfolgte, »hier steht der General Cambriel – hier muß das Werdersche Korps heranrücken, wir sind gerade auf der richtigen Stelle, um eingreifen zu können.«

»Ich habe deswegen das Hauptquartier hier in Dole gewählt,« sagte Garibaldi.

»Unsere Brigaden sind allerdings organisiert,« bemerkte der General Bosak, »aber wir müssen doch bedenken, daß wir mehr auf den kleinen Guerillakrieg eingerichtet sind und daß es vielleicht nicht ganz angemessen sein möchte, das noch etwas lose Gefüge unserer Brigaden regulären und festgeschlossenen Korps gegenüberzustellen.«

»Es ist das auch nicht meine Absicht,« sagte Garibaldi, »und ich war im Begriff, meinen Plan weiter zu entwickeln.«

Bosak verneigte sich leicht, und Garibaldi fuhr fort:

»Es ist meine Absicht, alle Franktireurs, über welche wir hier verfügen und welche täglich und stündlich sich an Zahl vermehren, in die Berge zu detachieren, von dort aus die Eisenbahnverbindungen der Preußen zu bedrohen und so viel als möglich Schienen aufzureißen, Waggons und Lokomotiven zu zerstören.«

»Das ist es, das ist es,« rief General Bosak, »das wird vortreffliche Dienste leisten.«

»Die drei geschlossenen Brigaden,« fuhr Garibaldi fort, »welche wir bis jetzt haben, und diejenigen, welche sich in kurzem formieren werden, will ich zunächst hier behalten, um, wo es angeht, je nach den Umständen den General Cambriel zu unterstützen.«

Bosak blickte finster vor sich nieder. »Es würde meiner Ansicht nach besser sein,« sagte er, »unsere ganze Macht in die Berge zu verteilen und in kleinen Abteilungen den Feind zu reizen und zu irritieren.«

»Ich glaube das nicht,« sagte Garibaldi, indem er sich ganz aufrichtete und den polnischen Parteigänger mit einem strengen Blick ansah, »ich glaube das nicht und habe deshalb meine Dispositionen so getroffen, wie ich sie eben vortrug; – ich habe mein Leben der Freiheit gewidmet, aber im Krieg ist der Gehorsam die erste Pflicht – der Gehorsam des freien Mannes, der sich mit Bewußtsein der notwendigen Regel unterwirft – denn nur ein Wille kann die Truppenmassen zu zusammenhängender und geordneter Wirkung bewegen. Mein Plan steht fest, und ich kann nicht von demselben abgehen, wenn mir nicht ganz entscheidende und überwiegende Gründe gegeben werden –«

»Und der Plan ist gut,« rief der Oberst Ravelli, – »meine Jäger der Seealpen werden sich freudig in die Waldschluchten begeben, und ich stehe dafür, daß, wo sie streifen, keine Eisenbahn mehr gehen wird.«

Die übrigen stimmten ebenfalls dem von Garibaldi entwickelten Plan bei.

Bosak neigte finster den Kopf auf die Brust und biß auf seinen Schnurrbart.

»Es kommt nun darauf an,« fuhr Garibaldi fort, »um mit dem General Cambriel in Verbindung zu treten und mit ihm gemeinsam zu operieren, uns zu vergewissern, daß unsere Dispositionen ihm genehm sind. Es muß deshalb einer von euch, meine Freunde, in das Hauptquartier des Generals abgehen, und ich möchte Barbarino Falcone, der hier kein Kommando und keine unmittelbare Diensttätigkeit hat, ersuchen, diesen Auftrag zu übernehmen, dem General Cambriel unsere Stellung und meine Dispositionen mitzuteilen und so schnell als möglich dessen Antwort hierher zurückzubringen. Der Weg dorthin ist sicher, und dennoch wird es gut sein, wenn Barbarino eine Abteilung von hundert Mann mit sich nimmt, um gegen etwaige vorgeschobene Streifpatrouillen geschützt zu sein. Die Zeit bis zu Barbarinos Rückkehr wollen wir dazu benützen,« sagte er, sich an die übrigen wendend, »die Ordnung und vor allen Dingen die Disziplin in unseren Korps immer mehr zu befestigen; – ich mache jeden Kommandeur dafür verantwortlich, es in dieser Beziehung an nichts fehlen zu lassen.«

Der General Bosak und die Obersten zogen sich zu ihren Korps zurück.

Barbarino Falcone ließ sich von Garibaldi eine Ordre geben, hundert Jäger zu seiner Begleitung auswählen zu dürfen und mit den besten verfügbaren Pferden beritten machen zu lassen, und ging hinaus, um so schnell als möglich alles für die Ausführung seiner Mission an den General Cambriel vorzubereiten.

Menotti blieb bei seinem Vater zurück, welcher trüb und traurig auf die Karte blickte, ohne daß seine Gedanken auf derselben zu haften schienen. Menotti sah ihn einen Augenblick forschend an.

»Hast du noch immer Glauben an die Erreichung unseres Zieles, mein Vater,« fragte er, »und hast du noch immer die Hoffnung, Frankreich und durch Frankreich die republikanische Idee zu retten? Ich sehe es, ich fühle es bei jeder Berührung mit dem französischen Volk und mit den französischen Behörden, daß man uns hier fremd, fast feindlich entgegentritt und daß wir ihnen eher lästig sind, als daß sie uns als befreiende und rettende Freunde willkommen heißen. Gambetta hat seine Befehle erlassen, aber sie werden nur widerstrebend, bis zur Grenze der absoluten Notwendigkeit ausgeführt, und namentlich die militärischen Autoritäten ziehen sich mit einer fast beleidigenden Kälte von uns zurück. Ich glaube, daß unser Unternehmen ein verfehltes ist, und daß wir besser täten, es aufzugeben, bevor wir dazu gezwungen werden.«

Garibaldi richtete den Kopf empor. In seinen Augen leuchtete jenes eigentümliche Feuer des Fanatismus, und mit ruhiger Stimme und Haltung, aber doch mit einem gewissen theatralischen Pathos sprach er:

»Wenn man einer großen Sache dient, wie wir, wenn man für die Befreiung der Menschheit kämpfen will, darf man vor keinen Schwierigkeiten zurückschrecken. Ich sehe und empfinde wie du alle Hindernisse, welche sich uns entgegenstellen, ich empfinde das Übelwollen der französischen Behörden, und vor allem der französischen Generale, welche noch alle von dem Geist einer zwanzigjährigen despotischen Regierung erfüllt sind; ich fühle auch das geringe Entgegenkommen des Volkes, das noch nicht zum Verständnis unserer Idee erwacht ist, aber – habe Geduld, mein Sohn, das alles wird vorübergehen. Frankreich ist lange krank gewesen und muß erst die Nebel seines Fiebers abschütteln und dann – um an uns und unsere Mission zu glauben, dazu gehören Zeichen, sichtbare Taten. Laß uns nur den ersten und kräftigen Schlag führen, laß uns nach einer Reihe von so schwer drückenden Niederlagen diesem armen Volk nur einmal wieder einen Sieg zeigen, so wird das alles anders werden, und begeistertes brüderliches Entgegenkommen wird uns von allen Seiten umgeben. Bald wird sich ja dazu Gelegenheit finden, wenn wir an die Ausführung meines Planes herantreten werden.«

Menotti schüttelte langsam den Kopf.

»Ich fürchte, wir werden bei dem General Cambriel dieselbe kalte Zurückhaltung finden, der wir überall begegnet sind, und er wird nicht mit uns zusammenwirken wollen, damit man nicht nachher sagt, der möglicherweise errungene Erfolg sei unser Verdienst.« »Nun,« rief Garibaldi, »wenn das der Fall sein sollte, so werden wir allein schlagen und allein siegen, wie wir in Italien allein gesiegt haben. Ich werde den Mut und das Vertrauen in die Sache, der ich mein Leben gewidmet habe, nur mit dem letzten Atemzug verlieren! – Jetzt geh hinaus, sorge dafür, daß alles geschieht, um unsere Truppen so schlagfertig zu machen, daß sie es nicht zu scheuen haben, sich an der Seite der regulären französischen Korps zu zeigen. Ich kann mich leider«, sagte er, auf seinen kranken Fuß deutend, »mit allen diesen kleinen und doch so wichtigen Dingen nicht beschäftigen und muß meine Kraft für die großen Augenblicke aufsparen.«

Menotti ging hinaus, und Garibaldi vertiefte sich, über die Karte geneigt, in seine Pläne.

Nach etwa einer Stunde trat Barbarino Falcone in sein Zimmer und meldete, daß er eine Abteilung von hundert berittenen Jägern formiert habe, in deren Begleitung er bereit sei, zur Überbringung der Botschaft an den General Cambriel aufzubrechen.

Garibaldi entwickelte ihm noch einmal in kurzen Worten seinen Plan zur Kooperation mit dem französischen General, schärfte ihm ein, so schnell als möglich zurückzukehren und entließ ihn dann mit einem herzlichen Händedruck und den Worten:

»Der Geist der Freiheit geleite dich und schütze dich, mein Freund.«

Barbarino Falcone verließ finster und ernst wie immer die Mairie und fand auf dem Platz vor derselben sein Korps aufgestellt, das allerdings dafür zeugte, daß er es verstand, sich seine Leute auszuwählen. Es waren die kräftigsten, am besten gekleideten und bewaffneten Jäger auf kräftigen, gut genährten Pferden – von allen diesen wettergebräunten Gesichtern, aus allen diesen blitzenden Augen strahlte frischer Kriegsmut und Lust an kühnen Abenteuern. Einen Augenblick erhellten sich die düsteren Züge Barbarinos, als er diese kleine Schar musterte, er mochte sich bei ihrem Anblick an seine Leute aus den Waldschluchten Italiens erinnern, mit denen sie allerdings mehr Ähnlichkeit hatten als mit einer regelrechten Kriegstruppe. Dann schwang er sich in den Sattel und ritt, während die Einwohner von Dole ihn und seine kleine Truppe erstaunt und ängstlich betrachteten, zum Tor hinaus auf der Straße hin, welche in der Richtung über Rochefort nach Besançon führt, und auf welcher er nach den eingegangenen Meldungen den Vorposten des Generals Cambriel bald begegnen mußte.

Nicht weit von Dole wurde das Terrain hügelig und waldig. Barbarino sandte zwei Eclaireurs voraus und folgte in kurzem Trabe dem breiten Wege, zu dessen beiden Seiten der Wald sich immer mehr verdichtete.

Plötzlich trat etwa zehn Schritt vor dem Zuge zwischen diesem und den vorreitenden Eclaireurs ein Mann in einer blauen Bluse, einen grauen Hut tief in das Gesicht gedrückt, aus dem Gebüsch und blieb an der Seite des Weges stehen.

Barbarino Falcone parierte sein Pferd bei dieser unerwarteten Erscheinung und fuhr mit der Hand nach seinem Säbel.

Der ganze Zug hielt an. Im nächsten Augenblick schien der junge Freischarenführer über die Erscheinung dieses einzelnen Mannes beruhigt, der ein Landbewohner der Umgegend sein mochte, welcher ruhig durch den Wald seinen Geschäften nachging. Mit einigen Sätzen seines Pferdes war er neben ihm und fragte in ziemlich fremdartigem, aber verständlichem Französisch:

»Wer seid Ihr, und wohin wollt Ihr gehen?«

»Ihr seid Barbarino Falcone?« fragte der Mann zurück.

Barbarino stutzte, er betrachtete das Gesicht des vor ihm Stehenden mit forschendem Blick – dasselbe war ihm durchaus unbekannt.

»Mein Name ist Barbarino Falcone,« sagte er dann, – »doch woher kennt Ihr mich – und was –«

»Mir ist gesagt worden,« fiel der Mann ein, »daß ich Euch hier auf diesem Wege begegnen würde, und ich bin beauftragt, Euch diesen Brief zu geben.«

Er zog ein zusammengefaltetes Papier aus seiner Bluse und überreichte es Barbarino.

Immer erstaunter sah dieser den rätselhaften Unbekannten an, der ihn hier mitten auf einsamer Waldstraße mit solcher Sicherheit aufgefunden hatte.

»Und wer seid Ihr?« fragte er.

»Ich bin ein Mitglied der Internationale,« erwiderte der Mann, »und der Chef unserer Abteilung hat mir den Auftrag erteilt, Euch hier zu erwarten und diesen Brief zu übergeben. Mein Auftrag ist erfüllt, lebt wohl.«

Und ebenso plötzlich, wie er erschienen war, verschwand der Mann im dichten Waldgebüsch.

Einen Augenblick machte Barbarino eine Bewegung, um ihm zu folgen – doch es wäre unmöglich gewesen, zu Pferde durch das dichte Gestrüpp vorzudringen. Kopfschüttelnd blickte ihm Barbarino nach.

»Was kann das sein? Was soll das bedeuten?« sagte er, – »doch der Brief muß Aufklärung bringen.«

Er faltete das ungesiegelte Papier auseinander und las:

»Im Auftrage des Meisters der Verbündeten Italiens und zur Erfüllung des von diesem gegebenen Versprechens erhält Barbarino Falcone die Nachricht, daß derjenige, den seine Rache sucht, in Begleitung einer Munitionskolonne mit geringer Bedeckung auf der Straße, welche sich von Gray nach dem Oignon hinzieht, in der Nähe des Fleckens Rioz zu finden ist.«

Eine dunkle Röte färbte das Gesicht Barbarinos, sein Blick verdunkelte sich durch den nach seinem Kopf emporschießenden Blutstrom, seine Hände zitterten, und er bedurfte einiger Augenblicke der Sammlung, um das Papier, das keine Unterschrift trug, noch einmal durchzulesen.

Einen Augenblick ließ er sinnend den Kopf auf die Brust sinken, dann wandte er sein Pferd und ritt zu seinen Gefährten zurück, welche in einiger Entfernung hielten und den Ausgang dieser Unterredung erwarteten.

»Meine Freunde,« sagte er, »ich erhalte soeben die Nachricht, daß eine Kolonne mit Munition und Proviant unter schwacher Bedeckung in diesem Augenblick etwa zwei Meilen von hier auf der Straße von Gray sich bewegt. Das führt uns ein wenig von unserem Wege ab, aber ich glaube, wir werden die Zeit wieder einholen, wenn wir schnell dorthin reiten und sie nehmen. Wir werden dem Feind einen erheblichen Schaden tun und immer noch zur rechten Zeit bei dem General Cambriel ankommen. Seid ihr bereit, diesen Streich mit mir zu wagen.«

Die helle Freude erglänzte auf allen diesen wilden Gesichtern. Ein solcher Handstreich lag vielmehr in den Gewohnheiten dieser Männer und war für sie ein viel erfreulicheres Unternehmen als der Dienst im regelrechten Krieg.

»Es lebe Barbarino Falcone!« ertönte es aus den Reihen. »Eilen wir, den Feind zu suchen und diese günstige Gelegenheit zu benützen.«

»Alle zogen ihre Säbel und schwenkten sie mit lautem Jubel in der Luft.

»Wohlan denn, meine Freunde,« rief Barbarino, »folgt mir – wir werden uns anstrengen müssen, denn wir haben nicht viel Zeit.«

Er zog eine kleine Karte der Gegend aus seinem Portefeuille, breitete dieselbe aus dem Sattelknopf seines Pferdes aus und orientierte sich einen Augenblick.

»Ich werde den Weg finden,« rief er dann, steckte die Karte wieder fort und drückte seinem Pferde die Sporen ein, daß es in mächtigen Sätzen vorwärtsflog.

Rasselnd folgte ihm die Reiterschar. Bald hatten sie die langsam voranreitenden Eclaireurs eingeholt. Barbarino ließ sie in die Reihen zurücktreten und allen übrigen weit voran, mit seinem scharfen, flammenden Auge vorausspähend, ein düsteres Lächeln auf den Lippen, jagte er auf dem Wege dahin, dem Ziel seines Lebens, seiner Rache entgegen.

Bald wurde die große Straße durch einen schmäleren Landweg gekreuzt, welcher von den Höhen hinab in ein Thal hinunterführte, das am Eingang des Waldes sich nach einer größeren Ebene hin öffnete.

Barbarino wandte sich zu diesem Weg und folgte dem Lauf desselben durch das immer mehr sich lichtende Gehölz an Feldern und Äckern vorbei durch einzelne kleine Dörfer hin, deren Einwohner scheu und staunend diese wilde Reiterschar in den phantastischen roten Blusen vorbeisausen sahen.

Endlich hielt Barbarino an einer Wendung des Weges an, von welcher aus das Terrain noch schärfer abfallend herabstieg.

Man sah unten in der Ebene das silberne Band eines fließenden Wassers zwischen noch fast grünen Wiesen blinken.

»Das ist der Oignon«! rief Barbarino – und während sein Pferd schnaufend vom scharfen Ritt dastand, nahm er noch einmal seine Karte hervor und verglich mit derselben den Lauf des Flusses.

»Bald sind wir am Ziel,« sagte er, »wir müssen im Schritt reiten, damit die Pferde sich erholen und für den entscheidenden Augenblick Kräfte behalten.«

Langsam ritt er die Anhöhe hinab und verfolgte den Weg, der sich bis zum Fluß herunterzog und dann nahe dem schnell dahinströmenden Wasser weiterführte.

Nach einer halben Stunde kam man an die große Straße von Vesoul nach Besançon. Eine breite Brücke führte über den Fluß. In einiger Entfernung davon lag unmittelbar am Wege das Dorf Rioz.

»Hier muß es sein,« rief Barbarino, indem er auf der Brücke hielt, »von dorther müssen sie kommen.«

Er deutete mit der Spitze seines Säbels auf die Häuser des Dorfes Rioz.

»Dort zur Seite muß die Straße gehen, – sie kommen wahrscheinlich von Gray und werden auf diesem Wege zu dem Korps stoßen, welches von Gray nach Vesoul zurückgegangen ist, um sich gegen Besançon zu wenden.«

Er ritt vor und erreichte nach kurzer Zeit das Dorf Rioz.

Die Einwohner, welche durch die von allen Seiten gebrachten Nachrichten sich bereits in der Befürchtung der Annäherung des Feindes befanden, flohen beim Anblick dieser Reiter, welche sie in ihrer fremdartigen Erscheinung nicht für Franzosen hielten. Mit Mühe konnten einige der Flüchtigen zum Stehen gebracht werden, und man erfuhr von ihnen, daß noch keine Munitions- und Proviantkolonne hier gesehen worden sei.

»Dann entgehen sie uns nicht!« rief Barbarino, »auf, ihnen entgegen!«

Und ungeduldig sprengte er auf dem Wege vor, der nach Angabe der Einwohner nach Gray führte.

Bei einer scharfen Wendung des Weges erschienen plötzlich in einer Entfernung von etwa vierzig Schritten zwei Reiter, welche hinter dem vorstehenden niedrigen Gebüsch hervorkamen und beim Anblick Barbarinos und seiner kleinen Truppe schnell wieder verschwanden.

»Da sind sie,« rief Barbarino mit wildem Jubelton, indem er seinen Säbel hoch in der Luft schwang. »Auf, meine Freunde, die Bedeckung wird nicht stärker sein als wir – wir werden sie vernichten.«

Er drückte die Sporen in die Flanken seines Pferdes, und in mächtigen Sätzen schoß das Tier auf der Straße hin. Mit lauten Rufen folgte die Schar der berittenen Jäger.

Nach wenigen Minuten dieses rasenden Rittes hatte man das kleine Gebüsch an der Ecke des Weges erreicht.

In rascher Wendung bog Barbarino um diese Ecke, aber in scharfem Ruck parierte er sein Pferd bei dem Anblick, der sich ihm hier darbot.

Er sah keine Munitions- und Proviantwagen, sondern eine Abteilung badischer Dragoner, welcher die beiden zuerst hinter dem Gebüsch erschienenen Reiter als Eclaireurs vorangeritten waren, hielt auf der Mitte des Weges; – in einiger Entfernung hinter ihnen blitzten die Gewehre starker Infanteriekolonnen.

»Was ist das,« rief Barbarino, »sollten wir verraten sein? Hat man uns in eine Falle gelockt?«

Seine Begleiter drängten sich um ihn her. Von dem raschen Schritt und dem schnellen Parieren der Pferde war die Ordnung des Zuges aufgelöst.

»Zur Attacke! Marsch! Marsch!« ertönte das Kommando von den Feinden herüber.

Und die Erde erbebte unter den Pferdehufen der heranstürmenden Dragoner.

»Flucht ist nicht möglich,« rief Barbarino den Seinen zu, »wenigstens müssen wir diese erst zurückwerfen.«

Und er warf sich den Dragonern entgegen. In wenigen Augenblicken entspann sich ein wildes Gefecht. Die Freischaren kämpften mit dem Mut der Verzweiflung und mit der Erbitterung der an ein wildes Räuberleben gewöhnten Abenteurer – hin und her wogte das gewaltige Ringen. Die zurückstehende Infanterie konnte nicht eingreifen, weil Freunde und Feinde einen einzigen verworrenen Knäuel bildeten.

Viele der Jäger Barbarinos, viele der Dragoner lagen am Boden. Barbarino selbst focht mit rasender Wut. Er ließ seinen Säbel wie eine züngelnde Flamme um seinen Kopf kreisen. Er wollte nicht fallen, er wollte nicht gefangen werden – er mußte seine Rache haben, diese Rache, welcher er sein Leben gewidmet, welche ihn hierhergeführt hatte.

Nach einiger Zeit trat eine augenblickliche Pause der Erschöpfung ein. Kein Teil war einen Fuß breit gewichen, – die Dragoner sammelten sich und zogen sich eine kurze Strecke zurück, um sich wieder zu formieren. Die Infanterie rückte im Geschwindschritt auf der Straße heran.

»Jetzt gilt es einen Ritt auf Leben und Tod, meine Freunde,« rief Barbarino. »Wir müssen zurück auf den Weg, den wir gekommen; wenn wir den Oignon erreichen und die Waldhöhen hinter demselben, so sind wir gerettet. Dorthin werden sie uns nicht zu folgen wagen!«

Er wandte sein Pferd und sprengte auf der Straße nach Rioz zurück. Diejenigen seiner Reiter, welche noch lebend und unverwundet waren, folgten ihm, aber es waren nur wenig über die Hälfte der ursprünglichen Zahl.

Schüsse krachten hinter ihnen her, Kugeln pfiffen an ihnen vorüber, – dann ertönte der Hufschlag der verfolgenden Dragoner.

Aber unaufhaltsam, ohne rückwärts zu blicken, jagten sie weiter. Ihre Sporen röteten sich vom Blut ihrer Pferde. Es war eine wilde Jagd auf Leben und Tod – bald erblickten sie die Häuser des Dorfes Rioz.

»Noch kurze Zeit«, rief Barbarino, »haltet aus. Wenn wir das Dorf passiert haben, wenn wir die Brücke erreichen, sind wir gerettet!«

Weiter und weiter blieben die verfolgenden Dragoner zurück. Ferner und ferner krachten die ihnen nachgesandten Schüsse.

Da hatten sie die ersten Häuser des Dorfes erreicht. Sie sahen keinen der Einwohner auf der Straße. Die Häuser waren verschlossen, sie beachteten es nicht und jagten weiter, bis sie die große Straße erreichten, von welcher sie vorhin hier abgebogen waren. Aber als sie auf dieser Straße ankamen, sahen sie auf derselben in der Richtung nach Vesoul hin in unmittelbarer Nähe neben sich dichte Infanteriemassen heranrücken.

Es waren die Truppen der Kolonne Degenfeld vom Korps des Generals Werder, welche von Vesoul hierher rückten, um nach Besançon vorzudringen.

Kaum erschien diese Reiterschar in den roten Blusen aus dem Wege, als die Infanterie ein scharfes Feuer auf sie eröffnete.

Abermals stürzten rings um Barbarino mehrere von seinen Leuten.

»Vorwärts!« rief er. »Vorwärts!« Nur noch wenige Augenblicke haltet aus!«

Auf den keuchenden, schaumbedeckten Pferden jagten sie von Rioz nach der breiten Brücke über den Oignon hin, immer verfolgt von den Salven der nachrückenden Infanterie.

Endlich erreichten sie diese Brücke, von welcher sie Rettung hofften, – aber kaum auf derselben angelangt, sahen sie unmittelbar davor auf der anderen Seite die französischen Infanterielinien des Generals Cambriel, welche von den Höhen von Cussey herabstiegen, um sich dem Korps des Generals Werder entgegenzustellen.

Diese hielten die wild heransprengenden Reiter für preußische Kavallerie und empfingen sie mit einem mörderischen Feuer. Zugleich warf eine auf den Höhen aufgefahrene französische Batterie Granaten auf die von allen Seiten mit Vernichtung bedrohte kleine Schar.

Barbarino sank im Sattel zusammen, nur noch wenige der Seinen waren um ihn aufrecht.

»Wir sind verloren,« rief er, »Freunde und Feinde verbinden sich zu unserem Untergang – verloren ohne meine Rache,« sagte er, mit den Zähnen knirschend.

Da traf eine Kugel seine Brust. Einen Augenblick fuhr er empor und umfaßte mit einem Blick voll grimmigen, entsetzlichen Hasses den Himmel, den Fluß und die waldbegrenzten Berge. Dann sank er vorwärts vom Pferd herab und auf seine am Boden liegenden Gefährten hin, und bald war die Brücke von einem starren Leichenhaufen bedeckt. Nur wenigen der Freischärler gelang es, lebend die heranrückenden Kolonnen des Generals Cambriel zu erreichen und dort verständlich zu machen, daß sie zur irregulären Armee Frankreichs gehörten.

Dies war jedoch nur das Vorspiel eines größeren Kampfes. Die französischen Truppen rückten heran, von der anderen Seite drang die badische Kolonne Degenfeld, die Kolonne Keller und die Kolonne Prinz Wilhelm vor, und am Oignon kam es zu einem heftigen und mörderischen Gefecht.

Die Franzosen leisteten tapfern Widerstand, aber unaufhaltsam drang die badische Truppe mit dem Bajonnett vor. Die Brücke, auf welcher die Freischaren Barbarinos vernichtet waren, wurde die Stätte eines verzweifelten Kampfes. Aber sie wurde von dem dritten badischen Infanterieregiment mit Sturm genommen und die Franzosen auf die Höhen von Cussey zurückgeworfen.

Hier aber begann die wie auf einem Amphitheater postierte französische Artillerie ein vernichtendes Feuer auf die verfolgenden Dragoner und die nachrückenden Truppen, so daß von dem kommandierenden General das Gefecht aufgehoben wurde. Die Truppen blieben an der Oignonlinie stehen, und die Ruhe trat nach dem entsetzlichen Toben der Schlacht wieder ein, während nur von Zeit zu Zeit einzelne Kanonenschüsse von den Höhen herabdröhnten.

Während die einzelnen Truppenteile sich sammelten, um auf dem gewonnenen und behaupteten Terrain ihre Biwaks zu beziehen, war in Rioz eine von Gray herkommende Munitions- und Proviantkolonne angekommen, welche, bestimmt, den Truppen zu folgen, durch das schnelle Vordringen und die geänderte Marschrichtung derselben nun hier mitten in das Gefecht geriet und in Rioz anhielt, den erschöpften Soldaten sehr erwünschte Lebensmittel zuführend.

Bei diesem Provianttransport befand sich eine hierher detachierte Johanniterkolonne, welcher der Graf von Spangendorf beigegeben worden war, nachdem die Lazarette in und um Sedan zum größten Teil aufgehoben waren und nur noch eine geringe Anzahl von Personen zu ihrer Leitung und Bedienung erforderten. Der Graf war mit den übrigen Johannitern und einer Anzahl von Ambulanzen und Krankenträgern sogleich nach dem Ort des Gefechtes hinausgeeilt, um die Pflicht seines Berufes zu erfüllen. Er war unerschrocken und mutig den vordringenden Truppen gefolgt und hatte mitten im Kugelregen vielen Verwundeten Hilfe gebracht.

Als das Gefecht beendet war und man das Feld zu durchsuchen begann, um von all diesem blühenden Leben, welches der eherne Schritt des Todes niedergeworfen hatte, zu retten und wieder aufzurichten, was noch möglich war, wandte sich der Graf Spangendorf nach der breiten Brücke über den Oignon, die mit ganzen Hügeln von Leichen, von Sterbenden und von jammernden Verwundeten bedeckt war. Er ließ durch seine Krankenträger die Leichen, welche bereits kalt und starr waren, zur Seite tragen, während die Ärzte den Verwundeten die erste und notwendigste Hilfe brachten, um sie dann auf Wagen und Bahren nach den in den zurückliegenden Dörfern gebildeten Notlazaretten führen zu lassen.

Der Graf hatte einen schwer verwundeten Offizier von den französischen Mobilgarden seinen Leuten übergeben, um ihn auf den Verbandplatz nach der Brücke zu tragen, als er die Leichen der Garibaldischen Freischärler in ihren roten Blusen erblickte, welche von den Toten und Verwundeten aus dem späteren Gefecht vollständig bedeckt worden waren. Erstaunt sah er auf die eigentümlichen Uniformen, denen man bisher in der französischen Armee noch nicht begegnet war, und wollte eben einen in der Nähe stehenden badischen Offizier herbeirufen, um ihn über diese Truppe zu befragen, als sein Blick auf den starr und leblos daliegenden Barbarino fiel.

Der Graf stutzte beim Anblick dieses Gesichtes, – einen Augenblick schien er in seinen Erinnerungen zu suchen, dann wurde er bleich wie die Toten neben ihm. Ein Schauer zitterte durch seinen Körper, und mit einer Bewegung voll Abscheu und Entsetzen schien er sich wegwenden zu wollen. Aber im nächsten Augenblick hielt er an, und mit einer gewaltsamen Anstrengung beugte er sich wieder zu dem leblos vor ihm Liegenden hin.

»Liebet eure Feinde,« flüsterte er leise, »tut wohl denen, die euch verfolgen, so spricht der Herr, dessen heiliges Kreuzeszeichen ich auf mich genommen habe. Seinem Gebot will ich folgen. Die Rache und das Gericht gehört Gott allein.«

Er schlug die Augen nieder, als könne er den Anblick dieses Gesichtes, das er zuletzt in einem so entsetzlichen Moment gesehen und das jetzt kalt und starr vor ihm lag, nicht ertragen. Dann öffnete er das rote Hemd Barbarinos und legte seine Hand auf dessen Brust.

»Das Herz zuckt noch,« sagte er, »es ist noch Leben in ihm – man muß versuchen, ihn zu retten – zur Reue, zur Buße,« fügte er hinzu, – »wenn Gott es will.«

Er nahm seine Feldflasche, öffnete die Lippen des Verwundeten und ließ einige Tropfen Wein in dessen Mund rinnen.

Ein leises Beben fuhr durch die Glieder Barbarinos. – Seine Nasenflügel begannen sich zu bewegen, ein leichter Hauch drang aus denselben hervor, – dann färbten sich seine gebräunten Wangen, welche eine wachsgelbe Farbe angenommen hatten, ein wenig dunkler, und langsam schlug er die Augen auf, während sich seine Brust von einem tiefen Atemzug hob. Verwundert und fragend blickte er zum Himmel empor, – dann auf die Toten neben sich – er schien seine Gedanken zu sammeln unter der wunderbaren Einwirkung des neu zurückkehrenden Lebens. Dann fiel sein Blick auf den über ihn gebeugten Maltheserritter, und plötzlich schien seine ganze Lebens- und Willenskraft in ihn zurückzukehren. Seine Augen öffneten sich groß, so daß das ganze Rund seiner Pupille sichtbar wurde, seine Lippen zogen sich zurück, so daß die weißen spitzen Zähne hervortraten. Wie eine Feuergarbe flammenden Grimmes schoß es aus seinen Blicken auf, und mit zitternder Stimme rief er:

»Der Meister hat doch recht gehabt, er hat mir meine Rache versprochen – hier finde ich sie, die Hölle selbst soll sie mir nicht entreißen.«

Mit einer Bewegung wie die Schlange, die sich auf ihre Beute stürzt, schnellte er empor, seine beiden Hände umfaßten den Hals des Grafen Spangendorf und preßten denselben wie in einen eisernen Schraubstock zusammen.

Der Graf hatte keine Zeit, einen Schrei auszustoßen, und von Entsetzen gelähmt sahen die in der Nähe befindlichen Ärzte und Krankenträger diesen eben noch unter den Toten starr daliegenden, gespenstisch bleichen Mann über den helfenden Maltheser herstürzen und sich mit ihm in fürchterlichem Ringen auf der Brücke herumwälzen.

Einige Augenblicke vergingen, bis sie hinzusprangen. Der Graf hatte mit seiner ganzen Kraft versucht, sich des unvermuteten Angriffes zu erwehren, aber Barbarino hielt ihn mit übermenschlicher Anstrengung fest. Sie waren auf dem Boden, über die Leichen hin miteinander ringend, bis zum Rande der Brücke gekommen, von der die einschlagenden Kanonenkugeln das Geländer fortgerissen.

Einige Krankenträger und badische Soldaten sprangen hinzu.

Mit gellendem Hohnlachen machte Barbarino eine sprungartige Bewegung, und immer seine Beute festhaltend, stürzte er sich über den Rand der Brücke in die scharfe Strömung des Oignonflusses. Seine Wunde war von dem mächtigen Ringen wieder aufgegangen, er und der Graf waren mit Blut überströmt, das die Wellen des Flusses rotfärbte, in denen der entsetzliche Kampf auf Leben und Tod sich fortsetzte.

»Welch ein Ungeheuer! Welch eine wilde Bestie!« riefen die Soldaten, die an das Ufer eilten.

»Man muß ein Boot suchen! Rettet den Johanniter!«

Kein Boot war in der Nähe zu entdecken. Aber einige Leute hatten sich bereits in die Wellen gestürzt und schwammen den abwärts treibenden, in entsetzlicher Umschlingung aneinander hängenden Männern nach, deren wilden Kampf sie kaum begreifen konnten.

Der Sturz und die Kälte des Wassers hatten einen Augenblick die erschöpfte und überreizte Kraft Barbarinos gelähmt und die eiserne Umschlingung seiner Hände ein wenig gelöst.

Der Graf hatte einen freien Atemzug tun können, er hatte seine Hand auf den Gürtel herabgesenkt und seinen Revolver hervorgezogen. Die Waffe war mit Wasser gefüllt und durchnäßt, – der Graf ergriff sie bei den Läufen, hob sie, während er mit der anderen Hand seinen Feind zurückdrängte, hoch empor und führte in der Kraft der Verzweiflung mehrere wuchtige Schläge mit dem stahlbeschlagenen Griff des Revolvers gegen die Stirn Barbarinos.

Dieser sank zurück, – eine Blutwelle überströmte seine Stirn, und beide versanken in den Fluten.

Einige von den Soldaten hatten die Stelle erreicht, – sie tauchten unmittelbar darauf nieder, und bald kam einer derselben wieder hervor, indem er den anderen freudig zurief:

»Ich habe ihn! Ich werde ihn retten!« Schnell schwamm er unter den freudigen Zurufen der Zuschauer dem nahen Ufer zu, den Grafen Spangendorf an seinen dichten Haaren hinter sich herziehend.

Zahlreiche Hände streckten sich ihm entgegen, andere ergriffen den Grafen, welcher mit geschlossenen Augen leblos aus dem Wasser auftauchte – sie zogen ihn ans Ufer – ein entsetzlicher und wunderbarer Anblick zeigte sich ihnen, denn mit dem Grafen Spangendorf zog man auch den Körper Barbarinos mit zerschmetterter Stirn aus dem Wasser. Er hatte in dem Augenblick, in welchem seine schwindende Kraft ihn zwang, die Hände von seinem Opfer zurücksinken zu lassen, im letzten Aufblitzen seines Lebens mit den Zähnen den Arm seines Opfers ergriffen, und sein im Todeskampf fest geschlossener Mund hielt ihn mit dem Gegenstand seines Hasses und seiner Rache verbunden.

Ein Ruf des Schauders und des Abscheues wurde laut – man versuchte den Mund des Toten zu öffnen – es war unmöglich, und mit Säbelklingen mußte man seine Zähne auseinanderbrechen. Man warf den toten Körper voll Abscheu auf die Seite. Ein Arzt war herbeigeeilt, – er flößte dem Kranken belebende Tropfen ein und wusch seine Stirn mit einer starken Essenz.

Bald schlug der junge Mann die Augen auf und blickte traurig umher.

»Ist er tot, der Unglückliche?« fragte er. Der Arzt deutete auf die blutige Leiche Barbarinos. Graf Spangendorf erhob sich mühsam und trat schwankenden Schrittes zu dem Toten hin; er faltete die Hände und sprach:

»Gott möge ihn gnädig richten und ihm vergeben, was er mir getan, – wie ich ihm vergebe –«

Dann schien ihn ein Schwindel zu erfassen. Er schloß die Augen und sank in die Arme des Arztes, der ihm gefolgt war. Vorsichtig legte man ihn auf einen der Krankenwagen und fuhr ihn nach dem Dorfe Rioz zurück.


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