Gregor Samarow
Held und Kaiser
Gregor Samarow

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Dreizehntes Kapitel

Der Kaiser Alexander ging nachdenklich in seinem einfachen Arbeitszimmer im Winterpalais in St. Petersburg auf und nieder. Er hielt eine Nummer der russischen Börsenzeitung in der Hand, in welche er von Zeit zu Zeit einen Blick warf. Er las dann aufmerksam mit halblauter Stimme einen Satz und ging wieder, in immer tieferes Sinnen versinkend, im Zimmer hin und her, wahrend seine ohnehin schon so ernsten, fast melancholischen Gesichtszüge eine peinliche innere Unruhe verrieten.

»Der General Fadiejeff«, sagte der Kaiser endlich, indem er das Zeitungsblatt auf den Schreibtisch legte und die Hand darauf stützte, »spricht mit einer scharfen und klaren Logik über die Stellung Rußlands den Verhältnissen nach dem deutsch-französischen Krieg gegenüber, und diese Logik zieht ihre Schlüsse aus Ausgangspunkten, welche durchaus russisch, durchaus patriotisch sind! – Wem könnte die Größe, das Wohl und die Macht Rußlands inniger und heiliger am Herzen liegen«, rief er dann, den Blick aufwärts richtend, »als mir, der ich in meiner Jugend emporgeblickt habe zu dem gewaltigen Heldenbild meines Vaters, und der ich für die Entwicklung des Reichs meiner Ahnen gearbeitet habe mit aller Mühe und Sorge, seit die Manneskraft meinen Arm spannt. Und doch kann ich dem, was hier der General Fadiejeff in so beredten, so feurigen und so patriotischen Worten sagt, nicht zustimmen, da es meinem Gefühl und meiner Überzeugung widerspricht. Ich kann aber auch die schlagenden Gründe nicht finden, die ich doch finden möchte, um die Ausführungen des Generals zu widerlegen, um klar und fest die Überzeugung in mir aufrechtzuerhalten, daß das Bündnis mit Preußen und Deutschland, zu welchem mein Herz mich hinzieht, auch für das Wohl und die Zukunft Rußlands notwendig und heilsam sei.«

Er warf wieder einen Blick auf die Zeitung.

»Österreich«, las er, »konnte nicht mit Preußen, das siebenzehn Millionen Einwohner zählte, fertig werden; Frankreich kann mit dem deutschen Bunde, der vierzig Millionen Einwohner zählt, nicht fertig werden; wenn aber nach Frankreichs Niederwerfung Rußland an die Reihe kommt, so wird es mit einem Deutschland von sechzig Millionen Einwohnern zu tun haben. Und dieser Tag wird erscheinen,« las er, immer die Augen auf das Blatt gerichtet, weiter, »sobald zum Jubel und zur Freude aller seiner Söhne Rußland die Lösung der slavischen Frage in seine Hand nimmt. – –«

»Aber will ich denn die slavische Frage lösen,« sprach der Kaiser, wieder auf und nieder schreitend, »kann denn eine Aufsaugung dieser dem Wesen des russischen Reichs in seiner Ordnung und scharfen Konzentration teilweise so fremdartigen slavischen Stämme eine richtige Aufgabe einer wohldurchdachten russischen Politik sein? Gewiß nicht, nach meiner Überzeugung. Die Beziehungen der slavischen Nationalitäten können einen bedeutungsvollen Hebel für unsere Politik unter gewissen Umständen bilden, aber die panslavistischen Ziele können doch wahrlich nicht in unserem Interesse liegen. Indessen«, sprach er dann, unruhig und wieder unsicher den Kopf schüttelnd, weiter, »wird die Zeit, in welcher unsere Geschichte sich bewegt, von den Ideen der nationalen Agglomeration beherrscht, und kein Regent, kein Fürst, keine Regierung kann auf die Dauer den die Zeit bewegenden Ideen entgegenarbeiten. Die Geschichte Deutschlands in der letzten Zeit lehrt das am klarsten, – und wenn es so käme, wenn Deutschland jemals Rußland feindlich gegenüberträte, – dann allerdings würde eine spätere Zeit mit großen Vorwürfen auf die heutige Politik zurückblicken, weil Rußland heute Frankreich hat niederwerfen lassen, das bei der Lösung der slavischen Nationalfrage und bei einer künftigen Koalition gegen Deutschland, wie Fadiejeff mit Recht sagt, unser einziger Alliierter sein könnte! – – Können Gedanken«, fuhr er fort, »welche so viele meiner treuen Untertanen begeistern, welche bis unmittelbar zum Thron hinauf ihre glühenden Anhänger und Vertreter finden – können solche Gedanken ganz falsch sein? Sollte nicht in ihnen wirklich etwas liegen, das der Beherrscher eines großen nationalen Reichs zu berücksichtigen verpflichtet wäre? – Haben nicht die Nationen ihren Instinkt wie die einzelnen Menschen?«

Während er noch mit finsteren Blicken, das Zeitungsblatt leicht in den nervös zuckenden Fingern zusammendrückend, dastand, trat der diensttuende Kammerdiener durch das Vorzimmer herein und meldete den Reichskanzler Fürsten Gortschakoff.

Wie erleichtert atmete der Kaiser auf, warf einen raschen Blick auf seine Uhr und sagte halb für sich im Ton freudiger Befriedigung:

»Es ist in der Tat schon seine Stunde. Er ist so viel kälter und klarer, er wird mir ruhige Überzeugung und festen Entschluß geben, – wie er es schon so oft getan hat.«

Er winkte mit der Hand. Der Kammerdiener verschwand, und einige Augenblicke später trat der Fürst, eine kleine Mappe unter dem Arm, in das Kabinett seines kaiserlichen Gebieters.

»Sie kommen zur guten Stunde, Alexander Michailowitsch!« rief der Kaiser, indem sein Blick wohlgefällig mit einer Art von achtungsvoller Sympathie und Zuneigung auf seinem langjährigen vertrauten Diener ruhte. »Sie werden mir einige Fragen beantworten können, die mich mit Unruhe und Zweifel erfüllen.«

»Es wird ein besonderes Glück für mich sein,« erwiderte Fürst Gortschakoff, »wenn es mir gelingen möchte, meinem allergnädigsten Herrn einen Zweifel zu lösen. Doch hoffe ich kaum, daß mir dieses Glück zuteil werden könnte, denn in allen Zweifeln und unklaren Fällen hat bis jetzt Eurer Majestät klares und sicheres Gefühl stets so schnell den rechten Weg gefunden, daß es kaum möglich war, meinerseits noch etwas dazuzutun.«

»Es ist leicht, das Rechte zu treffen,« sagte der Kaiser, immer in seiner liebenswürdigen, milden Freundlichkeit, »wenn alle Fragen so scharf und klar auseinandergelegt werden, wie Sie das zu tun verstehen. Doch setzen wir uns, und hören Sie.«

Der Kaiser nahm in einem mit Leder überzogenen Lehnstuhl vor seinem Schreibtisch Platz, während sich Fürst Gortschakoff an der Seite desselben auf den für die Ministervorträge bereitstehenden Sessel niederließ.

Des Fürsten scharfes Auge war dem Blick des Kaisers gefolgt, welcher nach dem auf dem Tisch liegenden Zeitungsblatt hinüberstreifte. Er sah die Aufschrift am Kopf der Zeitung, und ein ganz leises, kaum bemerkbares Lächeln zuckte einen Augenblick um seine Lippen.

Schon streckte der Kaiser Alexander die Hand nach der Börsenzeitung aus, als Fürst Gortschakoff im ehrfurchtsvollsten Ton, aber ebenso entschieden und bestimmt sprach: »Dürfte ich mir erlauben, Eurer Kaiserlichen Majestät alleruntertänigst eine Bitte vorzutragen?«

Verwundert schlug der Kaiser Alexander sein großes, tiefes Auge auf, ließ die ausgestreckte Hand auf seinen Schoß sinken und sagte:

»Sprechen Sie, Alexander Michailowitsch, Sie wissen, daß Ihre Bitten im voraus gewährt sind, wenn es möglich ist, – und Unmögliches verlangen Sie nicht.«

»Eure Kaiserliche Majestät sind zu gnädig,« rief Fürst Gortschakoff, »doch habe ich mich nicht richtig ausgedrückt. Die Bitte, die ich Eurer Majestät aussprechen wollte, bezieht sich nur auf die heutige Geschäftsordnung. Ich habe nur wenige Gegenstände Eurer Majestät vorzutragen, dieselben sind aber so äußerst dringend und wichtig, daß ich es als eine besondere Gnade betrachten würde, wenn Eure Majestät es mir gestatten wollten, jene Gegenstände zunächst ihrer Erledigung zuzuführen und dann meine schwachen Kräfte der Lösung derjenigen Zweifel zuzuwenden, welche Eure Majestät beunruhigt haben.«

»Sie haben recht,« rief der Kaiser, »vollkommen recht! Der Dienst vor allem, – obwohl meine Zweifel auch mit dem Dienst zusammenhängen, – also sprechen Sie, erledigen wir die unmittelbaren Geschäfte.«

Fürst Gortschakoff zog aus seiner Mappe ein einziges Aktenstück hervor, legte dasselbe auf seinen Schoß und sagte mit seiner ruhigen, gleichmäßigen Summe:

»Herr Thiers hat mich soeben verlassen, Majestät, und mir gesagt, daß Allerhöchstdieselben ihn gnädig und huldvoll empfangen haben.«

»Das ist richtig, Alexander Michailowitsch,« sagte der Kaiser, »der arme alte Mann, der fast weinend zu mir sprach, hat mein Gefühl lebhaft erregt und mir tiefes Mitleid eingeflößt. Er sprach so warm und beredt für sein Vaterland, für Frankreich, dies schöne Frankreich, das so tief von seiner Höhe herabgestürzt ist, – das alles hat mich lebhaft ergriffen, und ich habe meine Bewegung Herrn Thiers nicht verhehlen können. Auch muß ich Ihnen aufrichtig gestehen, daß mir der Gedanke gekommen ist, ob es doch nicht vielleicht möglich wäre, durch ein gutes, freundliches Wort, für das ja der König Wilhelm empfänglich sein möchte, ein wenig zur Linderung der Bedrängnis Frankreichs beizutragen, – man würde sich für jetzt nichts vergeben, – und für die Zukunft vielleicht einen Freund gewinnen an diesem jetzt so ohnmächtigen Frankreich, das aber doch noch immer genug nationale Kraft besitzt, um sich auch nach einem so tiefen Fall wieder glänzend und mächtig zu erheben. Es tut so wohl,« fuhr er strahlenden Auges fort, »und es ist eines großen Reiches so würdig, dem Bedrängten beizustehen.«

»Eure Majestät haben«, sagte Fürst Gortschakoff vollkommen ruhig und unbeweglich, »die deutschen Siege mit so lebhafter, so laut und offen ausgesprochener Freude begrüßt, daß ich kaum den Übergang finden würde zu einer Intervention zugunsten Frankreichs.«

»O, nicht das,« rief der Kaiser, ihn schnell unterbrechend, »ich habe von einer Intervention nicht sprechen wollen! – Es ist wahr«, fuhr er fort, indem sein Blick stolz aufleuchtete, »ich habe mich mächtig erhoben gefühlt durch die deutschen Siege, welche doch eigentlich Siege der preußischen Taktik und der preußischen Armeeorganisation sind, dieser Taktik und Organisation, welche der Kaiser Nikolaus so sehr bewunderte und welche wir in unsere russische Armeebildung aufgenommen haben. Je mehr jene Organisationsgrundsätze auf den Schlachtfeldern sich bewähren, um so mehr haben wir ja Grund zu der Hoffnung, daß auch unsere Armee, wenn sie je wieder zur Verteidigung des Reichs ihre Fahnen erhebt, siegreich sein und die schweren Unglücksschläge wieder gutmachen werde, welche – meinem Vater das Herz brachen,« fügte er mit düsterem Blick und in einem Ton hinzu, in welchem Zorn und Schmerz dumpf ineinander klangen.

Fürst Gortschakoff drückte durch ein leises Neigen des Kopfes seine volle Übereinstimmung mit den Worten seines Herrn aus.

»Darum, Alexander Michailowitsch«, fuhr der Kaiser fort, »freue ich mich, ganz abgesehen von meiner Freundschaft und verwandtschaftlichen Zuneigung für meinen Oheim, den König Wilhelm, über diese Siege, welche Deutschland unter Preußens Führung errungen hat. Und wenn ich auf den Tag von Sedan hier in St. Petersburg mein Glas leerte, so tat ich es nicht nur als Freund und Verwandter des Königs von Preußen, sondern auch als Kaiser von Rußland und als Kriegsherr der Armee, die nach dem Muster der bei Sedan siegreichen Truppen gebildet ist. Darum«, fuhr er fort, »kann auch von einer Intervention nicht die Rede sein in dem Sinne, wie man dies Wort wohl gewöhnlich auffaßt. Aber es könnte doch immer ein freundliches Wort gesprochen werden, daß man die Frankreich aufzulegenden Bedingungen nicht zu hoch steigern möge. Wir würden uns damit die Sympathien Frankreichs erwerben, vielleicht auch noch die anderer Mächte, und es könnten«, fuhr er zögernd und mit einem leichten Seitenblick nach der Börsenzeitung fort, »doch in der Zukunft Augenblicke eintreten, in denen eine solche Sympathie von hohem Wert und Nutzen sein möchte.«

Fürst Gortschakoff wartete, da der Kaiser geendet, noch einige Augenblicke, als wolle er sich überzeugen, daß Seine Majestät vollständig ihre Gedanken ausgesprochen habe. Dann sprach er fest und ruhig, etwas nachdrücklicher als vorher seine Worte betonend:

»Eure Majestät haben mir ganz aus der Seele gesprochen, indem Sie die innigen Beziehungen zwischen den Erfolgen der preußisch-deutschen Armeen und den Hoffnungen betonten, welche wir auf die künftigen Leistungen der Streitmacht Rußlands setzen müssen. Bewähren sich die Prinzipien der preußischen Armeeorganisation, so können wir auch unserer künftigen militärischen Erfolge sicher sein, denn das große russische Heer hat sich alle dort gemachten Erfahrungen zunutze gemacht, und unser Material ist gewiß nicht schlechter als das irgendeines andern Landes. Auch verehre ich die persönlichen, freundschaftlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen meines allergnädigsten Herrn mit dem königlich preußischen Hause auf das tiefste. Aber weder die eine, noch die andere Rücksicht kann mich abhalten, Eurer Majestät zu raten, in diesem Augenblick von jeder Intervention vollkommen Abstand zu nehmen, – denn verwandtschaftliche Beziehungen und persönliche Freundschaften vergehen und können auf die Politik großer Staaten keinen Einfluß ausüben, und der Umstand, daß die preußische Armee das Vorbild der russischen ist, darf uns ebenfalls nicht bestimmen, denn man kann ja unter Umständen auch vom Feinde lernen und des Feindes Einrichtungen annehmen und verbessern, um ihn demnächst zu schlagen. Was mich aber bestimmt, Majestät, das ist die Erwägung, daß in diesem Augenblick Preußen und das durch Preußen gebildete Deutschland die einzige Macht in Europa ist, deren Interessen sich mit denjenigen Rußlands an keinem Punkt feindlich durchkreuzen, mithin diejenige Macht, welche uns von den politischen Verhältnissen selbst als Alliierter gegeben ist.«

»Wie sehr teile ich diese Ansicht«, rief der Kaiser Alexander lebhaft, »wie sehr freue ich mich der preußischen Allianz, und wie fest bin ich an ihr zu halten entschlossen!«

»Und doch würden Eure Majestät daran denken können,« fragte der Fürst Gortschakoff, »diese Allianz in Frage zu stellen, und zwar in Frage zu stellen zugunsten eines Landes, das einst, mit England vereint, seine Flotten und Armeen aussandte, um Rußlands Zukunft zu vernichten, um die Lebensader unserer national-ökonomischen Entwicklung zu durchschneiden, – um uns das Schwarze Meer zu verschließen?«

Der Kaiser blickte finster vor sich nieder.

»Es ist wahr,« sagte er, »das hat Frankreich getan. Aber«, fuhr er nach einigen Augenblicken fort, »der Kaiser Napoleon hat mir selbst gesagt, daß er damals, der augenblicklichen Aufwallung persönlicher Empfindlichkeit folgend, einen Fehler begangen habe, und mehrfach hat er auch durch den General Fleury darauf hindeuten lassen, daß er bereit sei, jenen Fehler wieder gutzumachen.«

Fürst Gortschakoff schüttelte den Kopf.

»Einen Fehler wieder gutmachen ist oft nicht ganz leicht, und namentlich seit den letzten Ereignissen wird Frankreich noch lange nicht die Macht dazu haben. – Preußen wird niemals einen solchen Fehler wieder gutzumachen haben, da es niemals in die Lage kommen wird, ihn zu begehen, es müßten denn seine Regenten und Staatsmänner vollständig die Lebensinteressen ihrer Nation verkennen. Darum, Majestät, halte ich dafür, daß es besser ist, von der Allianz mit Preußen nicht abzuweichen.«

»Aber, mein Gott,« rief der Kaiser mit einem leichten Klang von Ungeduld in der Stimme, »wie könnte ich daran denken, von dieser Allianz abzuweichen, die ich so warm im Herzen trage! Ja gerade,« fuhr er fort, »weil ich so fest an dieser Allianz halte, weil der König Wilhelm dies weiß, deswegen kann ich um so mehr und vielleicht mit Erfolg ein Wort in die Wagschale werfen, um das Äußerste von Frankreich abzuwenden und um die Sympathien der französischen Nation für Rußland zu erwecken und zu verstärken, – da ja doch«, fügte er mit einem abermaligen leichten Seitenblick auf die Börsenzeitung hinzu, »Zeiten kommen könnten, in denen wir neue Alliierte nach anderer Seite suchen müßten.«

»Ich muß Eurer Majestät«, erwiderte Fürst Gortschakoff, »meine sehr bestimmte und unerschütterliche Überzeugung aussprechen, daß ich jede Intervention in diesem Augenblick für hoch gefährlich und nachteilig halte, da sie unsere Beziehungen zu Preußen auf das bedenklichste trüben müßte. Zunächst möchte ich mir die alleruntertänigste Frage an Eure Majestät erlauben, ob Allerhöchstdieselben überzeugt sind, daß ein vermittelndes Wort Ihrerseits den König Wilhelm veranlassen könnte, von den Forderungen abzustehen, welche er nach seinem eigenen Gefühl und nach dem Rat seines Ministers Frankreich gegenüberzustellen sich veranlaßt gefunden hat?«

Kaiser Alexander blickte einen Augenblick sinnend vor sich nieder und sprach dann mit einer leichten Unsicherheit im Ton seiner Stimme:

»Ich glaube nicht, daß der König Wilhelm viel nachlassen wird, – daß er viel wird nachlassen können, – Deutschland hat schwere Opfer gebracht in diesem Kriege, und die öffentliche Stimme der Nation verlangt dafür einen großen Preis.«

»Und diese Stimme der Nation«, sagte Fürst Gortschakoff, »spricht unfehlbar, abgesehen von allen politischen Erwägungen, aus dem Herzen des Königs Wilhelm, wie die Stimme Rußlands sich im Herzen Eurer Majestät vernehmbar macht. Der König Wilhelm wird also, wie ich überzeugt bin, von seinen Forderungen nichts nachgeben können, und er würde daher durch eine auch noch so leise und freundschaftliche Intervention Eurer Majestät nur in die peinliche Verlegenheit gebracht werden, das Wort eines teuren Verwandten und hoch bedeutungsvollen Alliierten nicht beachten zu können. Dadurch muß aber notwendig eine Verstimmung eintreten und damit eine Lockerung des festen Vertrauens, welches mehr noch als alle geschriebenen Stipulationen die Grundlage wirklich nützlicher und fruchtbringender Allianzen sein muß. Außerdem aber,« fuhr er fort, indem er den Kopf aufrichtete und die feinen Züge seines Gesichts einen Ausdruck von energischem und stolzem Selbstgefühl annahmen, »außerdem aber, Majestät, soll es mit meinem Willen und auf meinen Rat niemals geschehen, daß das Wort meines allergnädigsten Herrn und Kaisers auch in der leisesten und vorsichtigsten Andeutung erfolglos verhallt. Mein Kaiser, der Kaiser meines russischen Vaterlandes, darf nur dann sprechen, wenn sein Wort zur Tat wird. Und wo dies unmöglich ist, – da, Majestät«, sagte er, sich tief vor dem Kaiser neigend, »wird mein Wunsch stets der sein, daß mein Kaiser schweigt.«

Der Kaiser reichte seinem Minister in rascher Bewegung die Hand.

»Wie sehr stimmt alles, was Sie mir sagen, mit meinem Gefühl überein, und gewiß würde ich, auch ohne Ihren so festen und treuen Rat gehört zu haben, aus mir selbst heraus nach diesen Gedanken und Grundsätzen gehandelt haben. Sie wissen aber, Alexander Michailowitsch, daß es viele treue und patriotische Untertanen in Rußland gibt, welche anders denken, welche in dem heranwachsenden Deutschland einen Feind erblicken, der einst der nationalen Entwicklung Rußlands gefährlich und verderblich werden müßte, – ich habe noch soeben –« fuhr er, die Hand nach der Börsenzeitung ausstreckend, fort –

Fürst Gortschakoff schien die letzten Worte des Kaisers nicht zu hören, seine Bewegung nicht zu bemerken, rasch sprach er:

»Wenn Eure Majestät im großen und ganzen meine soeben untertänigst vorgetragenen Anschauungen nicht mißbilligen, so habe ich nicht nötig, denselben noch weitere Argumente hinzuzufügen. Eure Majestät werden demnächst Allerhöchst Ihren endgültigen Entschluß fassen. Ich möchte mir nur zunächst erlauben, den zweiten Gegenstand meines heutigen Vortrages zur allerhöchsten Entscheidung zu bringen. Nachdem dies geschehen, werden Eure Majestät, wenn Allerhöchstdieselben es noch nötig finden sollten, die Erörterungen über die Interventionsfrage wieder aufzunehmen befehlen.«

»Und welchen Gegenstand haben Sie?« fragte der Kaiser ein wenig befremdet, – »wenn er dieser Erörterung vorgehen soll, so muß er in der Tat wichtig sein,« fügte er mit einer gewissen Betonung hinzu.

»Er ist wichtig, Majestät,« sagte Fürst Gortschakoff, indem er das Aktenstück, welches noch immer auf seinem Schoß lag, öffnete und einen flüchtigen Blick in dasselbe warf, – »er ist wichtig, – es ist der Pariser Traktat vom Jahre 1856.«

Erstaunt und befremdet blickte der Kaiser auf. Dann flog ein finsterer Zug über sein Gesicht, und mit düsterem, fast strengem Ton, der mit seiner gewöhnlich sanften und weichen Weise nicht im Einklang stand, sagte er:

»Wichtig allerdings ist diese schwarze Seite in der Geschichte Rußlands und meines Hauses, diese mir hinterlassene Mahnung, die Unbill zu rächen, welche man uns angetan, und Rußland von der Kette zu befreien, die man an seinen Fuß geschmiedet und deren schwere Last seinen freien Aufschwung hemmt, – aber ich verstehe nicht«, fuhr er fort, »welche Bedeutung dieser Traktat gerade in diesem Augenblick haben soll –«

»Eure Majestät erinnern sich«, fiel Fürst Gortschakoff ein, »des Jahres 1866 und der Sendung des Generals von Manteuffel –«

»Gewiß erinnere ich mich dessen,« erwiderte der Kaiser, »sind ja doch die damals so klar besprochenen und festgestellten Grundsätze die Grundlage unserer Politik geblieben und haben noch kurz vor dem Beginn dieses Krieges in Berlin und Ems ihren erneuten Ausdruck gefunden. Aber ich verstehe in der Tat nicht«, fuhr er fort, »warum diese so wichtige und bedeutungsvolle Sache gerade in diesem Augenblick den Vorzug vor allen anderen Erwägungen haben sollte. Wir werden ja demnächst, wenn die gegenwärtige europäische Krisis überwunden ist, auch an das große Werk herantreten müssen, jenen Vertrag zu revidieren. Preußen wird dann auf unserer Seite stehen, aber es ist gewiß, daß England alles aufbieten wird, um eine Revision zu unseren Gunsten zu verhindern, – und Frankreichs Sympathien könnten uns dabei immerhin nützlich sein –«

»Ich lege wenig Wert auf die französischen Sympathien, Majestät,« erwiderte der Fürst, »die Gefühle dieser so leicht erregbaren Nation wechseln so schnell, und ich möchte diese Angelegenheit auch nicht den unbestimmten Chancen der Zukunft überlassen, die man ja niemals ganz berechnen kann, – da wir ja den Augenblick in der Hand haben, um selbständig zu handeln.«

»Sie würden diesen Augenblick«, fragte der Kaiser, »für geeignet halten, um eine Konferenz über eine Frage anzuregen, welche dem unmittelbaren Interesse aller europäischen Mächte gerade jetzt sehr fernliegt –«

»Einer Konferenz?« sagte Fürst Gortschakoff, – »ich habe mir nicht erlaubt, den Vorschlag zu einer Konferenz Eurer Majestät unterbreiten zu wollen. Der Rat, den ich aussprechen möchte, geht dahin,« fuhr er, den Ton erhebend, mit fester Stimme fort, »daß Eure Majestät mich autorisieren mögen, im Namen Rußlands den europäischen Mächten einfach zu erklären, wir seien nicht mehr in der Lage, die Bestimmungen des Traktats, welche die russische Schiffahrt auf dem Schwarzen Meere betreffen, für uns als verbindlich anzuerkennen, da dieselben den natürlichen Rechten und den wichtigsten Interessen des Reichs widerstreben.«

Das Auge des Kaisers blitzte auf in lebhafter, freudiger Erregung.

»Sie halten es für möglich, das zu wagen!« rief er, – »doch«, sagte er dann, indem er das Haupt leicht niedersinken ließ, »das kann nicht gehen, das wäre der Krieg im Orient und wir sind darauf nicht völlig vorbereitet, das könnte England und Österreich zusammenführen, und Preußen ist jetzt zu tief engagiert, um uns auch nur mit einiger Sicherheit den Rücken decken zu können.«

»Eure Majestät wissen,« sagte Fürst Gortschakoff immer in demselben ruhigen Ton, »daß ich kein Politiker des Krieges bin und wahrlich nicht raten würde, einen Weg einzuschlagen, bei dessen Verfolgung ich kriegerische Verwicklungen als möglich voraussehe, denn solche Verwicklungen müßten die innere, gesunde Lebensentwicklung der Kräfte Rußlands, diese heilige Aufgabe unserer Politik, stören und gefährden. Aber, Majestät,« fuhr er fort, »gerade in diesem Augenblick wird der Schritt, den ich im vollsten Ernst und aus tiefster Überzeugung Eurer Majestät anrate, zu keinem Krieg führen. Wenn Europa wieder ruhig geworden ist und wir dann mit einem Konferenzvorschlag zur Revision des Pariser Traktats hervortreten würden, dann allerdings könnte eine solche Konferenz, wie das ja schon häufig der Fall gewesen ist, zur Vorläuferin eines schweren Krieges werden. Die Mächte würden Zeit finden, sich untereinander zu orientieren, ihre Vorbereitungen zu treffen, und wir könnten in die Lage kommen, wenn auch allerdings unter günstigeren Verhältnissen als damals, den Krimkrieg wieder aufzunehmen. Jetzt, Majestät, ist das nicht zu besorgen. Ich bitte Eure Majestät, allergnädigst wohl zu beachten, daß ich nicht beantrage, eine Konferenz vorzuschlagen, sondern eine bestimmte definitive Erklärung abzugeben, welche England, unserem Hauptgegner in dieser Frage, keine Zeit lassen wird, die Elemente einer tätigen Allianz gegen uns zu vereinigen. Es wird ein großes Geschrei entstehen,« sagte er mit feinem Lächeln, »wir werden das schweigend anhören. – Dann wird man vielleicht eine Konferenz verlangen, – wir werden sie annehmen unter der Bedingung, daß unsere Erklärung über die Aufhebung der russischen Schiffahrt im Schwarzen Meer in dieser Konferenz nicht diskutiert werden dürfe, – man wird darüber ein Protokoll aufnehmen, und es wird auf eine ebenso nachdrückliche, als einfache und würdige Weise dieser schmerzliche Traktat vernichtet werden, den ich heute Eurer Majestät zum letztenmal vor die Augen geführt habe. Rußland wird die heilige Schuld bezahlt haben, welche es dem Geiste des höchstseligen Kaisers Nikolaus noch trägt,« fügte er mit leicht zitternder Stimme hinzu, indem auf seinem Gesicht sich ein Zug tiefer Wehmut mit dem Ausdruck stolzer Entschlossenheit vereinigte.

Der Kaiser sprang auf und schritt einigemale in heftiger Bewegung im Zimmer auf und nieder, während der Fürst Gortschakoff, der sich sogleich ebenfalls erhob, neben seinem Sessel stehen blieb und, den aufgeschlagenen Pariser Traktat in der Hand, mit seinem scharfen Blick die Bewegungen seines Souveräns verfolgte.

»Mein Gott, Alexander Michailowitsch,« rief der Kaiser, »wenn das möglich wäre, wenn wir so mit einem Male das Ziel erreichen könnten, das so fern, so unnahbar vor mir stand, wenn wir mit einem Federzug wieder herstellen könnten, was die Armeen und Flotten von vier Mächten in Jahren nur mit Anstrengung zertrümmern konnten, – das wäre ein Triumph der Diplomatie, ein Triumph der Staatskunst – und die Feldherren müßten ihre Degen vor Ihrer Feder niederlegen.«

Er blieb vor dem Fürsten stehen und sah ihn mit einem großen Blick voll liebevoller Herzlichkeit an.

»Nicht vor meiner Feder, Majestät«, erwiderte der Fürst, »sondern vor dem Herrscher, der hoch über allen Parteien, hoch über allen streitenden Meinungen den wahren Weg zum Heil und zur Größe seines Landes einzuhalten verstand, der sich nicht beirren ließ von einseitigen Auffassungen, und wenn dieselben auch in den Köpfen und den Herzen treuer, patriotischer Männer Platz fanden, – und wenn sie auch hinaufstiegen bis an die Stufen seines Thrones. Diesem Herrscher, Majestät,« sagte er mit einer sonst seinen Worten fremden Wärme, »diesem Herrscher wird Rußland ewigen Dank schulden, denn er wird mit einem Wort, frei und ruhig vor ganz Europa gesprochen, ebenso Großes errungen haben, als sonst durch eine Reihe gewonnener Schlachten errungen wurde. Und dieser Dank wird um so reiner, um so schöner sein, als er durch kein Blut, durch keine Tränen getrübt wird.«

Die hohe, mächtige Gestalt des Kaisers zitterte, seine Brust bewegte sich in schweren Atemzügen.

»Aber ist es denn möglich, Alexander Michailowitsch? – – Wenn dennoch der Krieg entbrennen sollte, – ganz Europa würde dann in Flammen stehen, – bedenken Sie, wenn Österreich, das unsern Druck so schwer empfunden hat, diese Gelegenheit benützte, um England die Hand zu reichen? –«

»Österreich, Majestät?« erwiderte Fürst Gortschakoff mit leichtem Achselzucken, – »ich befürchte nichts von dort. – Österreich ist kaum fähig, sich zu regen, es hätte vielleicht die Chancen des französischen Krieges bei gegebener Gelegenheit gegen Preußen ausbeuten mögen, – wenn unser Druck nicht auf seinen Grenzen gelastet hätte, – aber es wird wahrlich keine Neigung haben, sich in das unabsehbare Labyrinth eines orientalischen Krieges zu stürzen. Und dann, Majestät«, sagte er lächelnd, »bitte ich Allerhöchstdieselben, nicht zu vergessen, daß Herr von Beust österreichischer Minister ist, – und Herr von Beust macht uns keinen Krieg, – er hat in der Tat zu viel zu tun, das schwankende Gebäude seiner Stellung so gut als möglich und so lange als möglich zu stützen.«

»In der Tat,« rief der Kaiser, »je mehr ich darüber nachdenke, je einfacher und natürlicher erscheint mir die Sache, und vielleicht kommt es nur darauf an, sie zu wagen.«

»Es ist kaum ein Wagnis dabei, Majestät,« sagte der Fürst. »Ich möchte Eurer Majestät fast mit meinem Kopf dafür einstehen, daß keine Gefahr ernster Verwicklungen zu besorgen ist. Und«, fügte er hinzu, »Preußen machen wir seine Stellung zu der Frage ebenfalls leichter, wenn wir jetzt selbständig und entschieden vorgehen und die durch seine Siege geschaffene Situation benützen, um uns von einer nationalen Fessel zu befreien, als wenn wir zu einer andern Zeit die Sache anregen und Preußen zwingen würden, in einer rein orientalischen Frage, die sein Interesse nicht unmittelbar berührt, Partei zu nehmen. Wir dürfen dabei nicht vergessen,« fuhr er mit einer gewissen stolzen Befriedigung fort, »daß wir bei jenen preußischen Siegen, welche wir für uns benützen, auch unsern Anteil haben, denn so bewunderungswert die Meisterschaft der preußischen Feldherrn ist, wie der Heldenmut der deutschen Truppen, so hätten ja doch jene Siege nicht so leicht, so sicher und so schnell erfochten werden können, wenn Eurer Majestät Freundschaft es nicht möglich gemacht hätte, alle Kräfte Deutschlands dem westlichen Gegner entgegenzuführen.«

»Sie haben recht, Sie haben wahrlich recht,« rief der Kaiser, »ich danke Ihnen, Alexander Michailowitsch, ich danke Ihnen in meinem Namen und im Namen Rußlands!«

»Und ich weiß, Majestät,« sagte der Fürst mit tiefem Ernst, indem eine wunderbare Bewegung über sein Gesicht zuckte, »daß der verklärte Geist des Kaisers Nikolaus, wenn er heute hierher herabblickt, zufrieden sein und den Entschluß segnen wird, den Eure Majestät in dieser Stunde gefaßt haben.«

Der Kaiser Alexander faltete die Hände, – ein Augenblick tiefer Stille herrschte in dem Gemach.

»So befehlen also Eure Majestät,« sagte der Fürst dann, »daß ich die Erklärung aufsetzen lasse, um sie den Kabinetten zu übergeben?«

»Sogleich«, sagte der Kaiser, »ich bitte Sie, dieselbe mir so bald als möglich vorzulegen, damit auch wir unsern großen Sieg feiern können, den Ihre Taktik vorbereitet hat. – Auch meine Diplomatie hat ihren Moltke!« fügte er halb scherzend, halb voll innigen Gefühls hinzu.

Der Fürst schloß das Aktenstück, das er noch immer offen in der Hand gehalten, und steckte es wieder in seine Mappe.

»Eure Majestät«, sagte er dann, »haben nun Allerhöchst ihren Entschluß zu fassen über den definitiven Bescheid, welcher Herrn Thiers zu geben wäre.«

Der Kaiser lächelte.

»Der arme Herr Thiers,« sagte er, – »sagen Sie ihm in freundlichster Form, daß die absolute Zurückhaltung, welche die Rücksicht auf unsere innere Entwicklung Rußland auflege, uns jede Einmischung in die auswärtigen Beziehungen zwischen fremden Mächten verböte. Sagen Sie ihm,« fuhr er mit einer gewissen freundlichen Ironie fort, »was Sie längst beabsichtigt haben, ihm sagen zu wollen.«

Der Fürst verneigte sich und sprach dann:

»Eure Majestät hatten die Gnade, mir vor dem Beginn meines untertänigsten Vortrags von Zweifeln zu sprechen, welche Allerhöchstdemselben aufgestiegen wären.«

»Ich habe sie nicht mehr,« rief der Kaiser rasch und lebhaft. »Die Unterhaltung mit Ihnen hat, wie immer, die Wirkung gehabt, Klarheit und Sicherheit zu schaffen und die Zweifel zu verscheuchen.«

Nach einem augenblicklichen Zögern wendete er sich zu seinem Schreibtisch, ergriff die Börsenzeitung und reichte sie dem Fürsten.

»Lesen Sie dies,« sagte er, – »Sie werden meine Zweifel verstehen und auch begreifen, daß sie nach unserer Unterredung verschwunden sind, ohne daß ich nötig gehabt habe, sie Ihnen besonders auszusprechen.«

Der Fürst nahm ehrerbietig das Blatt aus der Hand des Kaisers und sagte:

»Ich kenne die Ansichten des General Fadiejeff, Majestät, und aller derjenigen, welche sich zu denselben Grundsätzen bekennen, die ja unter einem Teil des russischen Volks fast zum Dogma geworden sind. Man muß sie denken und sprechen lassen, sie stehen im Tal, in den Schluchten und Abhängen des nationalen Lebens, – Eure Majestät blicken von der Höhe der Berge herab, wohin die wallenden Schatten nicht heraufdringen.«

»Sie haben diesen Artikel gelesen?« fragte der Kaiser betroffen.

»Es ist meine Pflicht,« erwiderte der Fürst, »alles zu kennen, was die Geister in Eurer Majestät Reich bewegt, und nur wenn ich alles erkannt habe, was im unruhigen Kampf der Gedanken hierhin und dorthin durcheinander und gegeneinander strömt, bin ich imstande, in objektiver Klarheit meinem kaiserlichen Herrn meinen Rat zu Füßen zu legen.«

»Gehen Sie, Alexander Michailowitsch,« sagte Alexander II., indem er beide Hände auf die Schultern seines Ministers legte, »um auszuführen, was wir beschlossen. Gott erhalte Sie mir und Rußland.«

Einige Sekunden stand er so, dann ließ er die Arme sinken, winkte grüßend mit der Hand und trat, als der Fürst sich entfernt hatte, wieder vor seinen Schreibtisch.

»Ich bin glücklich, – sehr glücklich,« sagte er, »daß meine Überzeugung neue Klarheit und Festigkeit gewonnen hat, und daß ich mit voller, innerer Ruhe und Sicherheit dem Gefühl folgen kann, das mich zum engen und innigen Bündnis mit Preußen hinzieht. Das Blut Friedrich Wilhelms III. fließt ja auch in meinen Adern, und auch an mich ist seine Mahnung auf dem Sterbebett ergangen, daß Preußen und Rußland fest zusammenstehen sollen in Europa. Hat der Blick meines sterbenden Großvaters die Zukunft erschaut? – Hat er sehen können, daß das Bündnis seines Sohnes und seines Enkels Preußen siegreich vor die Tore von Paris führen und Rußlands Flotten das Schwarze Meer und die Handelsstraße des Orients wieder öffnen werde?«

Er blickte eine Zeitlang in tiefen Gedanken auf die Zeitung, die noch auf seinem Tisch lag.

»Auch sie,« rief er dann, – »auch sie müssen dies einsehen, sie, die es doch auch gut und treu mit Rußland meinen, und die, in Irrtum befangen, gegen das Bündnis eifern, das doch so Großes hervorgebracht und aus dem in der Zukunft noch Größeres hervorwachsen muß!«

Wieder sann er nach.

Dann erhob er sich rasch und ließ laut die Handglocke ertönen, welche neben ihm stand.

»Der Flügeladjutant vom Dienst!« befahl er dem Kammerdiener, der unmittelbar auf der Schwelle des Zimmers erschien.

Der Flügeladjutant trat ein und blieb in militärisch-dienstlicher Haltung, die Befehle des Kaisers erwartend, in der Nähe der Tür stehen.

»Ich lasse den Großfürsten Cäsarewitsch ersuchen, sich sogleich zu mir zu begeben,« sagte der Kaiser, und während der Flügeladjutant davoneilte, um den ihm erteilten Auftrag auszuführen, begann er nochmals den Artikel der Börsenzeitung durchzulesen.


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