Gregor Samarow
Held und Kaiser
Gregor Samarow

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Zwölftes Kapitel

Der Fürst Alexander Michailowitsch Gortschakoff trat mit allen Zeichen körperlichen und geistigen Wohlbefindens in sein Arbeitskabinett. Der Fürst mußte ausgezeichnet gut geschlafen haben oder er mußte auf irgendeine Weise, durch irgendein Ereignis höchst angenehm berührt sein, denn seine klaren, scharfen Augen blickten durch die Gläser der goldenen Brille, die er trug, so freundlich und zufrieden in das bereits etwas winterbleiche Morgenlicht der Sonne, welche sich nicht lange vor dem Reichskanzler erhoben hatte und ihre Strahlen auf den mit wohlgeordneten Aktenstücken bedeckten Schreibtisch des russischen Staatsmannes hinspielen ließ.

Die feinen Linien des ausdrucksvollen und jugendlich frischen Gesichts des Fürsten strahlten fast noch heiterer als der Herbstsonnenschein; behaglich die Hände reibend, setzte sich der Fürst in den einfachen, vor seinem Schreibtisch stehenden Lehnstuhl und bewegte die an der rechten Seite desselben stehende kleine Glocke.

Fast unmittelbar, nachdem der helle Ton durch das Kabinett gezittert hatte, öffnete sich geräuschlos die Tür nach dem Vorzimmer, und der Kammerdiener des Fürsten trat ein.

»Ist Hamburger schon da?« fragte der Reichskanzler.

»Der Geheimrat wartet bereits im Vorzimmer.«

»Ich lasse ihn bitten.«

Der Kammerdiener verschwand ebenso unhörbar, wie er erschienen, und einige Sekunden darauf trat der Geheimrat von Hamburger, der langjährige vertraute Sekretär des Fürsten, in das Kabinett.

Beim Anblick der Gestalt seines Vertrauten, dessen geistvoller Kopf ein wenig tief zwischen den hohen Schultern saß und der, sich tief verneigend, mit leisen, elastischen Schritten herantrat, wurde das Gesicht des Fürsten noch heiterer, zufriedener und lichter als bisher. Er nickte Herrn von Hamburger freundlich zu und streckte ihm die Hand entgegen, welche dieser mit dem Ausdruck tiefer Ehrerbietung und herzlicher Zuneigung ergriff.

»Ich bin heute so früh aufgestanden,« sagte der Fürst, »daß ich schon hoffte, Ihnen einmal zuvorzukommen. Der freundliche Sonnenschein trieb mich an, meinen Tag zu beginnen, – aber es ist unmöglich, Ihnen einen Vorsprung abzugewinnen, Sie müssen immer der Erste auf dem Platz sein.«

Herr von Hamburger verneigte sich bescheiden und sprach ganz ernst, fast in trockenem Geschäftston, indem nur aus einem Winkel seines Auges ein feiner Strahl von Humor hervorblitzte:

»Ich freue mich unendlich, daß Eure Exzellenz den heutigen Tag in so vortrefflicher Stimmung beginnen; hätte ich das vorher gewußt, so hätte ich mir vielleicht erlaubt, einige Personalien zur Entscheidung Eurer Exzellenz mitzubringen, von denen ich gewünscht hätte, daß sie mit freundlichem und wohltätigem Blick geprüft werden mögen. Da ich indes nicht sicher war, ob Eure Exzellenz Zeit zu solchen Prüfungen finden würden, da Sie ja heute morgen Herrn Thiers empfangen wollen, so habe ich jene Sachen zu Hause gelassen und hoffe, daß sich bald ein anderer günstiger Augenblick zur Erledigung derselben finden wird.«

»Herr Thiers – ja«, sagte der Fürst, – »er wird bald kommen. Ich werde viel anhören müssen,« fuhr er mit leichtem Seufzer fort, »da wird denn wohl eine gewisse Dosis des schönen Humors verfliegen. Herr Thiers spricht sehr gut, das ist wahr, – aber er spricht auch sehr viel, er ist der Mann der Tribüne. Seine Zuhörer in den Kammern haben es besser, sie haben nicht nötig zu antworten, – ich aber muß antworten, – und das macht ihn wieder von neuem sprechen, – aber«, sprach er, sich unterbrechend, »Sie haben ja doch ein Aktenstück mitgebracht. Etwas Eiliges? – erledigen wir dasselbe schnell, ehe Herr Thiers mir den Humor dazu verdirbt.«

»Es ist nichts zu erledigen,« sagte Herr von Hamburger kaltblütig, indem er das Aktenstück, das er in der Hand trug, auf den Schreibtisch niederlegte.

»Nichts zu erledigen?« fragte Fürst Gortschakoff.

»Etwas zu erledigen, allerdings,« erwiderte, Herr von Hamburger, »und wie ich hoffe, gut und gründlich zu erledigen, aber nicht heute, nicht in dieser Stunde. Und zur Erledigung dieser Sache, das bin ich gewiß, werden Eure Exzellenz den Humor immer finden.«

»Nun?« fragte der Fürst, indem er den Kopf etwas neigte und über den goldenen Reifen seiner Brille hin die scharfen Blicke auf Herrn von Hamburger richtete.

Dieser trat einen Schritt näher heran, legte die Hand leicht auf das Aktenstück und sprach, ohne den ruhigen Ton dienstlichen Vortrags zu verändern:

»Es sind jetzt vier Jahre her, – etwa einen Monat mehr, als ich eines Morgens die Ehre hatte, in dem Kabinett Eurer Exzellenz hier zu erscheinen. Es war ein denkwürdiger Morgen, den ich nicht vergessen werde, und den ich mir besonders in meinem Journal notiert habe. Damals war der Würfel der großen Entscheidung in Deutschland gefallen. Die Schlacht bei Königgrätz war geschlagen, und Preußen schickte sich an, die Früchte seiner Siege zu pflücken. Der König von Hannover hatte einen Abgesandten hierhergeschickt, um eine schützende Intervention zu erbitten. Seine Majestät der Kaiser, unser allergnädigster Herr, war betrübt und schmerzlich bewegt über das traurige Schicksal der deutschen Fürsten, insbesondere des Königs von Hannover, und viele Stimmen am Hof erhoben sich laut mahnend und warnend, die preußische Macht nicht zu groß werden zu lassen. Von der andern Seite war der General von Manteuffel aus dem Hauptquartier Seiner Majestät des Königs von Preußen hier angekommen –«

»Ich erinnere mich, ich erinnere mich jenes Morgens,« sagte der Fürst Gortschakoff, indem sein blitzendes Auge auf dem einfachen Aktenstück ruhte, auf welches die Hand des Herrn von Hamburger gestützt war.

»Damals erlaubte ich mir,« fuhr dieser fort, »Eurer Exzellenz ein Dokument vorzulegen, ein Dokument, an welches, wie ich weiß, Eure Exzellenz sich in jedem Augenblick einer großen Katastrophe erinnern –«

»Ich weiß, ich weiß,« rief der Fürst, »und ich habe Ihnen damals gesagt, wie ich es Ihnen eigentlich immer sagen muß, daß Sie die Kunst besitzen, in meinen Gedanken zu lesen, und daß ich eigentlich gar nicht erst nötig habe zu sprechen, – um von Ihrem gefährlichen Scharfblick durchschaut zu werden,« fügte er, schalkhaft mit dem Finger drohend, hinzu.

»Der heutige Morgen«, fuhr Herr von Hamburger mit derselben gleichmäßigen Ruhe fort, »hat mir nun jenen Tag, von welchem ich die Ehre hatte zu sprechen, so lebhaft ins Gedächtnis zurückgerufen, daß ich fast die dazwischen liegenden Jahre vergaß und unwillkürlich mir erlaubte –«

»Den Pariser Traktat wieder auf meinen Tisch zu legen,« rief Fürst Gortschakoff mit fröhlichem Lachen, »den Ausgangs- und Endpunkt dieser vier Jahre, deren Ring sich heute schließt! – – Sie haben recht gehabt, Hamburger,« fuhr er ernst fort, »der Zeitpunkt ist gekommen, um diesen unglückseligen Traktat, durch welchen man einst Rußlands Zukunft in Ketten zu legen unternahm, wieder an die Oberfläche hervorzuziehen, – um ihn demnächst für immer in die Tiefen der Vergessenheit zu senken.«

»Nach meiner Überzeugung, Exzellenz«, sagte Herr von Hamburger, »kann ein nationales Unglück niemals vergessen werden. Man muß sich stets daran erinnern, um es wieder gutzumachen, und wenn dies geschehen ist, um für die Zukunft Ähnliches zu vermeiden.«

»Sie haben wieder recht,« sagte der Fürst Gortschakoff, freundlich mit dem Kopf nickend, »und ich verspreche Ihnen, diesen unglücklichen Pariser Friedensvertrag sorgfältig aufzubewahren und alle Jahre einmal durchzulesen, als ein warnendes, zugleich aber«, fuhr er sich aufrichtend fort, »als ein aufmunterndes und erhebendes Beispiel, als ein Beispiel dafür, daß man sich mit mutiger Geduld auch von den schwersten Schlägen wieder erheben kann.«

Der Kammerdiener meldete, daß Herr Thiers angekommen sei und sich im Vorzimmer befinde.

Herr von Hamburger entfernte sich durch eine Seitentür, und nach wenigen Augenblicken wurde der ehemalige Minister der Julimonarchie, der Held der Tribüne und der konstitutionellen Wortgefechte, in das Kabinett des Reichskanzlers eingeführt. Die auffallend kleine, etwas gedrungene Gestalt des Herrn Thiers hatte trotz seines Alters, trotz der Aufregungen und Anstrengungen der letzten Zeit, noch eine fast jugendliche Elastizität und Beweglichkeit. Sein kleiner Kopf mit dem aufwärts toupierten weißen Haar erhob sich, gerade und fest emporgerichtet, über dem vollen weißen Batisttuch, das seinen Hals umgab. Aber die sonst so frischen, oft sarkastisch lächelnden Züge seines Gesichtes waren ernst und traurig zusammengezogen, und seine klugen, sonst so listig umherspähenden Augen blickten dem Fürsten Gortschakoff heute trübe und feierlich entgegen. Doch lag in dieser ganzen Haltung, in diesem Ausdruck der Mienen und des Blickes etwas beinahe künstlich und gemacht Erscheinendes. Herr Thiers erinnerte ein wenig an einen Advokaten, der sich zu der Verteidigungsrede für seinen Klienten dasjenige Aussehen zu geben versucht, durch welches er am meisten Eindruck auf die Richter und Geschworenen zu machen hofft.

Fürst Gortschakoff hatte sich erhoben und Herrn Thiers mit der höflichsten Artigkeit begrüßt. Dann führte er ihn zu einem Lehnstuhl neben seinem Schreibtisch und setzte sich seinem Besuch gegenüber.

»Sie haben Seine Majestät den Kaiser gesehen?« fragte er in ruhigem Gesprächston.

»Ja, mein Fürst,« erwiderte Herr Thiers, »und ich bin glücklich gewesen, aus dem Munde dieses edlen und erhabenen Souveräns den Ausdruck seiner hohen Teilnahme für mein Vaterland zu vernehmen, für dieses schöne Frankreich, das einst so gastfrei die Fürsten und Völker Europas bei sich aufnahm und das heute so schwer geschlagen am Boden liegt.«

Er schwieg und blickte forschend auf den Fürsten, der die Augen niederschlug und auf dessen Gesicht der Ausdruck einer achtungsvollen Teilnahme bemerkbar war.

»Ich habe aus dem schmerzlichen Interesse,« fuhr Herr Thiers fort, »welches der Kaiser Alexander für das Unglück Frankreichs kundzugeben die Gnade hatte, zugleich die Hoffnung gewonnen, daß Seine Majestät vielleicht nicht abgeneigt sein würden, zur Milderung des Unglücks meines Vaterlandes beizutragen. Der Kaiser ist so eng befreundet und so nahe verwandt mit dem König Wilhelm, welcher gegenwärtig als Sieger das Schicksal Frankreichs in den Händen hält, außerdem kann die Haltung Rußlands so entscheidend in die Lage der europäischen Verhältnisse eingreifen, daß ein einziges Wort Seiner Majestät genügen würde, um die große Last des Kummers und der Sorge, welche auf meinem Vaterlande ruht, sehr wesentlich zu erleichtern. Und ich bin überzeugt, daß Seine Majestät der Kaiser Alexander in seiner großherzigen Gesinnung dies Wort sprechen wird, wenn es uns gelingt – Ihnen, mein Fürst, und mir – die richtige Form dafür zu finden.«

»Und welche Form,« sagte Fürst Gortschakoff, den Blick scharf und klar durch die goldenen Reifen seiner Brille auf Herrn Thiers richtend, »welche Form würden Sie dazu vorschlagen? – Sie sprechen im Namen Frankreichs, mein Herr, das eine Intervention wünscht, und ich darf daher wohl mit Recht, um meinen Entschluß überlegen und feststellen zu können, Sie darum bitten, Ihren Wunsch, den Wunsch Ihres Vaterlandes in die möglichst präzise und bestimmte Form zu kleiden.«

Herr Thiers sann einen Augenblick nach, wie um seine Gedanken zu fixieren und zu ordnen. Dann sprach er, während der Fürst Gortschakoff mit höflichster Aufmerksamkeit zuhörte:

»Ich muß mit der Anerkennung der traurigen Tatsache beginnen, daß Frankreich geschlagen und in seiner regulären Waffenmacht fast vollständig zu Boden geworfen ist. Es muß daher mein Vaterland sich harte und schwere Friedensbedingungen gefallen lassen. Ich bin weit davon entfernt, eine Intervention zu erbitten, welche Preußen die Früchte seiner Siege verweigern sollte. Kommen wir auf die eigentliche Ursache dieses Krieges zurück, welcher so unvorbereitet und unter so ungünstigen Konjunkturen begonnen wurde, so lag dieselbe darin, daß Preußen eine neue, einheitliche Entwicklung Deutschlands unter seiner Hegemonie herbeiführen wollte, und daß Frankreich einer solchen Entwicklung, in welcher es eine Bedrohung seiner Macht erblickte, nicht zustimmen mochte und konnte. Das Würfelspiel des Krieges ist entschieden, Frankreich ist unterlegen, die erste Bedingung des Friedens muß daher sein, daß Frankreich Preußen und Deutschland die volle Berechtigung zuerkennt, sich neu zu konstituieren, – auch über die Bedingungen der früheren Verträge und namentlich des Prager Friedens hinaus. Wenn«, fügte er hinzu, »Rußland und Österreich ihrerseits in einer solchen Konzentration der deutschen Militärkraft keine Gefahr erblicken, so hat Frankreich um so weniger Grund, einer solchen Veränderung der Machtverhältnisse in Europa entgegenzutreten.«

Ein kaum bemerkbares Lächeln seiner Ironie zuckte um den Mund des Fürsten. Er neigte den Kopf, wie um anzudeuten, daß er die ihm vorgetragene Ausführung vollkommen verstanden habe, und blickte dann Herrn Thiers fragend und erwartungsvoll an, als sei er gespannt, seine weiteren Mitteilungen zu hören.

»Daß Frankreich«, fuhr Herr Thiers fort, »die Entschädigung für die Kosten und Lasten dieses Krieges zu tragen hat, ist selbstverständlich. Doch – Preußen geht weiter; – nicht nur die öffentliche Meinung, sondern auch der Graf von Bismarck, in seiner Unterredung mit Herrn Jules Favre, hat Gebietsabtretungen verlangt. Er hat von Straßburg und Metz gesprochen, Forderungen, bei denen das Gefühl eines jeden Franzosen sich auf das tiefste empört, Forderungen, deren Erfüllung Frankreich auf das Niveau einer Macht zweiten Ranges herabdrücken würde, Forderungen, welche die übrigen europäischen Mächte nicht dulden können, wenn sie nicht anerkennen wollen, daß Preußen über alle Verträge hinaus der willkürliche Schiedsrichter und Gebieter in Europa sei.«

Er fuhr mit der Hand einen Augenblick über die Augen, als wolle er seiner schmerzlichen Aufregung Herr werden, während Fürst Gortschakoff unbeweglich mit artiger, verbindlicher Aufmerksamkeit zuhörte.

»Ich glaube nicht,« fuhr Herr Thiers fort, »daß Preußen es wagen würde, seine Forderungen, welche es dem geschlagenen und gedemütigten Frankreich gegenüber stellt, aufrecht zu erhalten, wenn die übrigen europäischen Mächte, wenn insbesondere Rußland ihre ernsten Stimmen zur Mäßigung mahnend erheben würden, und ich glaube, daß die europäischen Mächte ein dringendes Interesse haben, dies zu tun.«

»Und welches?« fragte Fürst Gortschakoff.

»Zunächst«, rief Herr Thiers, »dasjenige des Gleichgewichts der Kräfte. Alle bisherigen Verhältnisse Europas werden schon dadurch umgestürzt, daß sich in der Mitte unseres Weltteils eine fest konzentrierte nationale Militärmacht aufrichtet. Wenn es dieser Macht nun noch gelingt, ihre Grenzen so weit auszudehnen und Frankreichs Macht so tief herabzudrücken wie es Graf Bismarck fordert, so würden die übrigen Mächte sehr bald empfinden, was es heißt, der Gewalt allein den Spielraum zu lassen. Ein Prinzip, das sie heute schweigend anerkennen, könnte sich morgen verhängnisvoll gegen sie selbst wenden. Schon auf dem Wiener Kongreß erkannte das versammelte Europa, dessen Koalition damals Napoleon I. besiegt hatte, – das versammelte Europa erkannte damals an, daß ein starkes und mächtiges Frankreich für das geordnete Gleichgewicht der Staaten eine Notwendigkeit sei. Sollte dieselbe Erkenntnis nicht auch heute bei den Kabinetten Platz greifen, heute, wo Frankreich nicht der Feind aller Staaten ist, sondern wo es nur niedergeworfen, nur ausgebeutet werden soll zugunsten einer einzigen Macht, dieses neuen preußischen Deutschlands? – Europa«, fuhr er nach einer augenblicklichen Pause fort, »hat aber noch einen zweiten Grund, mit Entschiedenheit gegen die übertriebenen preußischen Forderungen aufzutreten. Wenn Preußen darauf beharrt, die erniedrigenden Gebietsabtretungen von Frankreich zu verlangen, so wird mein Vaterland keinen Frieden schließen. Die provisorische Regierung, wie das ganze Volk von Frankreich, ist fest entschlossen, den Krieg bis auf das äußerste weiterzuführen, und der Frieden und die Wohlfahrt von Europa wird noch auf lange hinaus schwer erschüttert und gefährdet sein. Auch daran sollten die übrigen europäischen Mächte denken. Sie sollten bedenken, daß, solange die Fackel des Krieges brennt, die Fackel eines so erbitterten Völkerkrieges, nichts mehr im Besitz und Verkehr irgendeines Staates sicher ist, daß früher oder später der jetzt lokalisierte Krieg dennoch zu einem europäischen Brande sich ausdehnen kann. Darum«, fuhr er mit erhöhtem Ton fort, indem er die Hand erhob, »beschwöre ich Sie, mein Fürst, raten Sie dem Kaiser, welcher Frankreich liebt und beklagt, raten Sie Ihrem erhabenen, großmütigen Herrn, das Wort zu sprechen, welches ich von ihm erbitte. Er wird im Interesse Rußlands handeln, das er so schnell und kräftig zu immer höherer Bildung und Zivilisation heraufführt. Er wird dem Gleichgewicht, das heißt, der Ruhe Europas einen Dienst leisten, und er wird sich den Dank einer großen Nation erwerben, welche heute von dem Unglück zu Boden geworfen ist, die sich aber einst wieder erheben wird, und welche niemals die Wohltaten vergißt, die man ihr erweist.«

Langsam ließ er die erhobene Hand wieder sinken und sah forschenden Blickes in das völlig unbewegte, ruhige und kalte Gesicht des Fürsten Gortschakoff.

Dieser beugte sich, als Herr Thiers geendet, ein wenig vor, stützte den Ellenbogen auf die Lehne seines Sessels und sprach mit klarer Stimme, langsam und scharf jedes Wort betonend:

»Ich habe eine achtungsvolle Sympathie für die französische Nation, welche in diesem Augenblick so hart vom Schicksal getroffen ist. Ich habe ebenso einen tiefen Respekt vor dem erleuchteten und ruhmgekrönten Staatsmann und Schriftsteller, den ich die Ehre habe, vor mir zu sehen. Ich würde aber, wie ich glaube, diese Gefühle gegen Sie, wie gegen Ihr Vaterland verleugnen, wenn ich auch nur einen Augenblick versuchen wollte, Ihnen meine wahren und aufrichtigen Gedanken über die gegenwärtige Situation zu verhehlen oder Hoffnungen in Ihnen zu erwecken, deren Erfüllung ich meinem allergnädigsten Souverän nicht anraten zu können in der Lage wäre.«

Herr Thiers neigte halb zustimmend, halb traurig das Haupt. Er schien aus diesen Eingangsworten des Fürsten wenig Hoffnung auf einen günstigen Erfolg der so weiten und beschwerlichen Reise zu schöpfen, welche er in der sanguinischen Illusion angetreten hatte, die europäischen Mächte würden auf die erste Anrufung hin sich zum Schutz der Integrität Frankreichs vereinigen, das doch sie alle schon zu verschiedenen Malen und oft auf rücksichtslose Weise seine Macht hatte fühlen lassen.

»Wenn die Regierung eines großen Staates«, fuhr der Fürst fort, »in einem ernsten Augenblick das Wort der Vermittlung ausspricht, so darf sie dies nicht tun, ohne gewiß zu sein, daß dies Wort gehört wird, oder ohne entschlossen zu sein, demselben, wenn es nicht gehört wird, vollen Nachdruck zu geben. Beide Erwägungen müssen, wie Sie nicht verkennen werden, Rußland von jeder Intervention in diesem Augenblick zurückhalten. Frankreich hat den Krieg erklärt, Deutschland hat denselben mit großer Anstrengung und mit großen Opfern geführt, – es ist Sieger geblieben, und ich glaube nicht, mein Herr, sowie ich den Charakter des Königs Wilhelm und des Grafen von Bismarck kenne, daß man deutscherseits sich durch irgendeine Rücksicht wird abhalten lassen, den vollen Preis für die gemachten Anstrengungen zu fordern, und das vermittelnde Wort Rußlands würde nicht die Beachtung finden, welche ich als russischer Minister für dasselbe in Anspruch nehmen müßte; unsererseits aber der vermittelnden Intervention ernsten Nachdruck zu geben, dazu würde im Interesse Rußlands wahrlich keine Veranlassung liegen. Wir sind auch«, fuhr er fort, indem seine Stimme eine fast unmerklich schärfere Nuancierung annahm, »von harten Schlägen betroffen worden, – keine Intervention europäischer Mächte hat uns vor den Konsequenzen des Falles von Sebastopol geschützt –«

»Das war ein Fehler der kaiserlichen Regierung,« fiel Herr Thiers ein, »welche jetzt gestürzt ist –«

Fürst Gortschakoff schüttelte den Kopf.

»Ein Fehler,« sagte er, »welchem damals die ganze französische Nation zustimmte, – doch gleichviel, für uns ist seit jener Zeit der Grundsatz maßgebend gewesen und hat es sein müssen, uns von allen Verwicklungen der europäischen Politik vollkommen fernzuhalten und, nur mit uns selbst beschäftigt, unsere ganze Sorge der Wiederherstellung und dem Ausbau unserer innern Kraft zu widmen. In diesem Fall aus unserer Zurückhaltung herauszutreten, würde ein Fehler sein, ein Fehler, für den sich nicht einmal eine Entschuldigung finden ließe. Dann aber«, fuhr er schnell fort, bevor Herr Thiers eine Gegenbemerkung machen konnte, »tritt noch hinzu, daß gerade der Umstand, dessen Sie soeben erwähnten, der Sturz der kaiserlichen Regierung, es uns doppelt unmöglich macht, irgendeine intervenierende Tätigkeit zugunsten Frankreichs auszuüben, da sich in der Tat nicht absehen läßt, was aus den heute durcheinandergärenden Elementen der in ihren Tiefen aufgewühlten Nation sich entwickeln werde.«

»Sie werden doch nicht, mein Fürst«, rief Herr Thiers in lebhafter Bewegung, »die kaiserliche Regierung schützen und stützen wollen, die wahrlich keine Verwandtschaft hat mit der legitimen Herrschaft Ihres Landes?«

»Es muß mir gewiß sehr fernliegen«, erwiderte Fürst Gortschakoff, »mich in irgendeiner Weise, und sei es auch nur durch Rat oder Kritik, in die Entwicklung der innern Verhältnisse Frankreichs einmischen zu wollen. Doch muß für die Entschließung Rußlands die Tatsache bedeutend ins Gewicht fallen, daß die kaiserliche Regierung von ganz Europa anerkannt war, – und es noch ist, daß sie während zwanzig Jahren Garantien der Dauer und Stabilität gegeben hat, daß die gegenwärtigen Führer der Regierung in Paris keine Legitimation besitzen, und daß der Wille des französischen Volkes, den ganz Europa gewiß respektieren wird, noch nicht Gelegenheit gehabt hat, sich in einer freien und legal gültigen Weise auszusprechen. Diese Situation macht schon formell jede diplomatische Einmischung in die Verhältnisse fast geradezu unmöglich; – was für den Kaiser Napoleon zu tun möglich gewesen wäre, kann Vonseiten einer Macht, die das Völkerrecht und die richtige Form des diplomatischen Verkehrs respektiert, niemals für eine Regierung geschehen, die kein Mandat aufzuweisen imstande ist und die mit demselben Recht, das sie für sich in Anspruch nimmt, morgen von einer andern wieder gestürzt werden kann.«

Herr Thiers fuhr auf.

»Aber mein Fürst«, rief er, »ich habe nicht von der Regierung gesprochen, welche gegenwärtig in Paris die Geschäfte führt, sondern von Frankreich, – und Frankreich existiert doch, – es ist da, – es ist älter und legitimer als irgendeine seiner Regierungen, es wird alle seine Regierungen überdauern, und jede Macht in Europa muß mit Frankreich rechnen!«

»Dazu«, erwiderte der Fürst ruhig, »muß aber Frankreich eine Vertretung haben, welche die Bürgschaft bietet, daß morgen noch gültig ist, was heute abgemacht wurde. Und eine solche Vertretung ist nicht vorhanden. Doch«, fuhr er fort, »diese Bemerkung war nur eine beiläufige und sollte nur beweisen, wie schwierig schon in der bloßen Form eine Intervention in diesem Augenblick ist. Die Frage weiter zu diskutieren, ist überflüssig, denn ich muß Ihnen mit aller Offenheit, welche ich im diplomatischen Verkehr stets als meine ernste Pflicht zu betrachten gewohnt bin, erklären, daß bei der nun einmal eingenommenen, nach meiner Überzeugung unbeirrt festzuhaltenden Stellung Rußlands eine Intervention niemals eintreten könnte, – wenn auch heute eine völkerrechtlich anerkannte Regierung die Geschicke Frankreichs in ihren Händen hielte.«

Schmerzlich zuckten die Gesichtszüge des Herrn Thiers, seine Lippen bebten, seine Augen wurden feucht, und es klang fast wie ein leises Schluchzen in seiner Stimme, als er sprach:

»So habe ich denn auch hier vergeblich ein Wort des Trostes und des Beistandes für mein armes Vaterland gesucht, – o, warum verschließen sich denn alle Augen in Europa der Gefahr, welche in diesem waffenstarrenden Deutschland für die Ruhe und den Frieden der Zukunft erwächst?!«

»Ich vermag eine solche Gefahr,« erwiderte der Fürst Gortschakoff, »in der Tat nicht zu erkennen, – wir dürfen, um gerecht zu sein, nicht vergessen, daß der Beginn des Krieges nicht von Deutschland ausging –«

»Nicht die Kriegserklärung,« rief Herr Thiers, – »nein, die war wahrlich sehr unüberlegt und zur Unzeit, – aber die ganze Lage, welche den Krieg bedingte –«

Er hielt inne, als sei er im Begriff, etwas auszusprechen, das besser nicht gesagt würde.

»Doch«, fuhr er dann fort, indem er mit ängstlichem, bittendem Blick den Fürsten ansah, – »wenn der Kaiser Alexander, – von seinem edlen Herzen bewegt, – wenn er dennoch geneigt wäre, ein wohlwollendes Wort zu sprechen, – würden Sie –«

»Ich würde«, fiel Fürst Gortschakoff ernst und fest ein, »mit allem Nachdruck, mit aller Offenheit, zu der meine Stellung mich verpflichtet, dem Kaiser alle Gründe entwickeln, welche mich, wie ich Ihnen eben ausgeführt, dazu bestimmen müssen, unerschütterlich zur vollsten Zurückhaltung zu raten.«

Herr Thiers seufzte tief auf, dann erhob er sich, drückt einen Augenblick sein weißes Battisttuch an die Augen und sagte:

»Ich kam voll Hoffnung und gehe voll Schmerz. Doch habe ich Ihnen, mein Fürst, zu danken für die Aufrichtigkeit und Wahrheit, mit welcher Sie, ohne mich durch trügerische Worte hinzuhalten, mir Ihre Überzeugung dargelegt und Ihre Entschlüsse ausgesprochen haben. Ich mache keinen Versuch weiter, Sie zu einer andern Ansicht zu bringen. Leben Sie wohl!«

Er reichte dem Fürsten, der sich ebenfalls erhoben hatte, die Hand.

»Seien Sie überzeugt«, sagte Fürst Gortschakoff mit wärmerem und herzlicherem Ton als bisher, »daß ich die patriotische Aufopferung, mit welcher Sie Ihre kostbare Kraft Ihrem Vaterlande widmen, hoch bewundere. Ich werde Befehl geben, daß für Ihre Abreise alles zu Ihrer größten Bequemlichkeit angeordnet werde.«

Nach einigen gegenseitigen Höflichkeitsäußerungen verließ Herr Thiers, von dem Fürsten bis zur Tür geleitet, traurig und niedergeschlagen das Kabinett.

»Er tut mir leid,« sagte der Fürst Gortschakoff, ihm nachblickend, – »auch diese liebenswürdige französische Nation tut mir leid, ihr Unglück wird sie wieder zu schweren Verirrungen hinreißen, unter denen sie selbst am meisten zu leiden haben wird. Aber niemand vermag in das Verhängnis einzugreifen, und am wenigsten wäre es die Aufgabe Rußlands, dies zu tun, – Rußlands, das seinerseits alle seine Wachsamkeit nötig hat, um den Augenblick zu benutzen. – Hamburger hat recht mit seiner Mahnung! – wir dürfen nicht zögern, wir dürfen nicht warten, bis alles endgültig entschieden ist. Jetzt ist der Augenblick, um mit fester und kühner Hand den Preis zu erfassen, den Rußland aus diesen Kämpfen davontragen muß. Wir haben der Feinde genug,« sagte er ernst, – »vielleicht ist es besser«, fügte er dann mit einem feinen Lächeln hinzu, »unsere Freunde nicht in Verlegenheit zu bringen, wenn unsere Feinde erst wieder zu Atem gekommen sind. In diesem Augenblick können wir selbst handeln, unbekümmert um Wohlwollen oder Übelwollen, und solche Augenblicke sind selten im Leben der Menschen, noch seltener im Leben der Völker.«

Er klingelte, befahl seinen Wagen und zog sich einen Augenblick in sein Schlafzimmer zurück.

Nach kurzer Zeit kam er wieder in der kleinen Uniform mit dem Stern des Andreasordens und sagte lächelnd zu Herrn von Hamburger, der inzwischen in sein Kabinett getreten war:

»Geben Sie mir den Traktat. Ich hoffe, Sie sollen ihn mir heut zum letztenmal vorgelegt haben.«

Er nahm das Aktenstück, begab sich zu seinem Wagen und befahl, nach dem Winterpalais zu fahren.


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