Gregor Samarow
Held und Kaiser
Gregor Samarow

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Viertes Kapitel

Während der König Wilhelm mit dem großen Generalstab und dem Grafen von Bismarck sein Hauptquartier in Ferrières bezog, war in Meaux, von wo das große Hauptquartier soeben abgegangen und welches dicht von preußischen Truppen besetzt war, ein einfaches Fuhrwerk mit einem schwer ermüdeten Pferde vor dem Hause des Maire der Stadt, des Herrn Geoffrey, vorgefahren.

Aus diesem Fuhrwerk stieg ein Mann in grauem Reisekostüm, drang durch das von preußischen Ordonnanzen und Einwohnern von Meaux dicht gefüllte Vestibül und trat in das Vorzimmer, in welchem mehrere Schreiber beschäftigt waren, die durch die feindliche Okkupation unendlich vermehrten und vervielfachten laufenden Geschäfte zu erledigen.

Der Angekommene verlangte mit allen Zeichen heftiger und unruhiger Aufregung sogleich in einer Sache, die keinen Aufschub ertrage und von der höchsten Wichtigkeit sei, den Maire zu sprechen.

Nach einigen Verhandlungen entschloß sich der erste Schreiber, dem das Äußere des Fremden, seine Haltung und seine Sprache die Bürgschaft zu geben schienen, daß er es mit einem Mann von respektabler Lebensstellung zu tun habe, in das Kabinett des Maire zu gehen, um den Angekommenen zu melden, und nach einigem weiteren Zögern wurde derselbe durch das Bureau in das hintere Zimmer geführt, in welchem Herr Geoffrey, ein ernst und würdig blickender Mann, hinter einem mit zahllosen Papieren bedeckten Schreibtisch saß.

Er begrüßte den Eintretenden mit einer kurzen, etwas mürrischen Neigung des Kopfes, blickte ihn prüfend an und schien ebenfalls durch seine Erscheinung für ihn eingenommen zu sein, denn mit etwas milderem und höflicherem Ausdruck, aber immer noch in kaltem, abwehrendem Ton sagte er:

»Ich setze voraus, mein Herr, daß Sie mich wirklich in einer Sache von äußerster und dringendster Wichtigkeit zu sprechen wünschen, – diese traurige Zeit häuft eine solche Überlast von Geschäften auf mich, daß ich in der Tat keinen Augenblick übrig habe.«

»Ich komme,« sagte der Fremde, »in der dringendsten und wichtigsten Angelegenheit, welche es in diesem Augenblick geben kann. Ich muß sofort und auf das schnellste nach dem Hauptquartier des Königs von Preußen, das ich noch hier vermutete, – das aber –«

»Eben nach Ferrières verlegt worden ist,« fiel der Maire mit etwas ungeduldigem Ton ein.

»So muß ich sogleich nach Ferrières!« rief der Fremde. Jede Minute Zögerung kann verhängnisvoll werden für die Zukunft Frankreichs. Sie müssen mir eiligst einen Wagen schaffen.

Der Maire blickte den Fremden voll Verwunderung forschend an, es schien einen Augenblick der Gedanke in ihm aufzusteigen, daß er es mit einem Mann zu tun habe, dessen Verstandestätigkeit nicht in vollkommen regelmäßiger Funktion sich befände.

»Einen Wagen, mein Herr?« fragte er. »Das ist keine leichte Sache. Ich weiß nicht, ob in ganz Meaux ein einziges Pferd verfügbar ist. Alle Fuhrwerke sind von der deutschen Truppenverwaltung requiriert, und jedenfalls gehört es nicht zu meinen Funktionen –«

Der Fremde trat ganz nahe an den Schreibtisch heran und sprach, sich zu Herrn Geoffrey hinüberbeugend:

»Ich bin überzeugt, mein Herr, daß Ihnen, wie jedem guten Franzosen, daran liegen muß, unserem armen Vaterland so schnell wie möglich den Frieden die Ruhe und geordnete Zustände wiederzugeben, – wohlan, ich bin imstande, dies alles zu schaffen, und von der schnellen, ungesäumten Fortsetzung meiner Reise hängt der Erfolg meiner Schritte ab. Mein Name ist Regnier,« fuhr er fort, während der Maire ihn noch immer verwundert und zweifelnd ansah, – »ich komme unmittelbar von Hastings, – hier meine Beglaubigung.«

Er zog ein großes Briefkuvert aus der Tasche und zeigte Herrn Geoffrey die Photographie mit der Unterschrift des kaiserlichen Prinzen, welche er von Herrn Fillion erhalten hatte.

Der Maire warf einen Blick auf dies Bild und die darunter stehenden Zeilen. Eine lebhafte Bewegung zeigte sich in seinem Gesicht.

»Und Sie wollen –?« fragte er.

»Ich will, – ich muß, –« rief Herr Regnier, »ohne jeden Verzug in das preußische Hauptquartier! Ich will den Frieden herstellen zwischen dem Kaiser und dem König von Preußen. Ich bin überzeugt, daß es mir gelingen wird, die Greuel und Leiden des Krieges aufhören zu machen und Frankreich den Händen jener Wahnsinnigen zu entreißen, welche in diesem Augenblick ohne jedes Recht sich die Regierung der nationalen Verteidigung nennen und unser armes Vaterland, das schon so schwer gebeugt ist, dem vollkommenen Ruin zuführen werden.« »Oh, mein Herr,« rief Geoffrey, indem er schnell aufsprang und die Hand auf die Schulter des Herrn Regnier legte, »wenn Sie das könnten –«

»Ich kann es!« rief Herr Regnier, »meine Überzeugung, meine Zuversicht steht felsenfest, wenn ich nur diesem unseligen Jules Favre zuvorkommen kann, der von der Pariser Regierung in das feindliche Hauptquartier abgesandt ist.«

»Jules Favre ist vor kurzem hier durchgekommen,« sagte der Maire, »er hat, wie mir erzählt worden, den Grafen Bismarck unterwegs getroffen und muß jetzt auf den Weg nach Ferrières sein.«

»O, mein Gott,« rief Herr Regnier, indem er auf einen Stuhl sank und das Gesicht mit den Händen bedeckte, »sollte ich zu spät gekommen sein? Aber,« fuhr er fort, »um Gottes willen, ich muß fort, vielleicht kann ich ihm doch noch zuvorkommen!«

»Ich werde alles tun,« sagte Herr Geoffrey, »um Ihnen einen Wagen zu schaffen, der Sie nach Ferrières bringen soll; – wenn Sie nicht aufgehalten werden –«

»Man wird mich nicht aufhalten,« rief Herr Regnier, »der gute Genius Frankreichs schwebt über mir. Ein einzelner Mann, der offen auf der Landstraße dahinfährt, wird niemandem verdächtig sein.«

»Warten Sie einen Augenblick,« fagte Herr Geoffrey, »ich werde tun, was möglich ist, um Sie zu befördern.«

Er ging hinaus und kehrte nach einiger Zeit wieder zurück, um Herrn Regnier die Nachricht zu bringen, daß es ihm noch gelungen sei, ein kleines Fuhrwerk aufzutreiben, welches ihn nach Ferrières bringen werde.

»Dann brachte er selbst eine Flasche Wein, Brot und ein Stück kalten Geflügels.

»Das ist alles, was ich Ihnen in einer Zeit bieten kann, in welcher die einfachsten Nahrungsmittel zu seltenen Kostbarkeiten geworden sind.«

Als Herr Regnier hastig einige Bissen gegessen hatte, meldete einer der Schreiber, daß der bestellte Wagen bereitstände.

Herr Regnier verabschiedete sich unter herzlichen Danksagungen von dem Maire und bestieg den kleinen, offenen Wagen, auf welchem ein Mann in der Bauerntracht der Umgegend saß, und vor welchen ein großes, starkes Pferd gespannt war, das jedoch mit allen Zeichen der Ermüdung den Kopf hängen ließ.

Der Wagen fuhr durch die mit Truppen gefüllten Straßen von Meaux. Niemand hielt ihn auf. Man mochte diesen so anständig und unverdächtig aussehenden Mann, der von dem Hause der Mairie abfuhr, für einen Gutsbesitzer der Umgegend halten.

Als sie vor der Stadt auf der offenen Landstraße angekommen waren, ging das Pferd, das bisher in kurzem Trabe gelaufen war, im Schritt.

»Vorwärts, mein lieber Freund, vorwärts!« rief Herr Regnier. »Ich will Euch das Doppelte, das Dreifache geben, aber treibt Euer Pferd an, daß es mich schnell nach Ferrières bringt.«

»Unmöglich,« sagte der Wagenführer achselzuckend, »das Pferd ist seit mehreren Tagen fast immer im Gang, und hat kaum Viertelsrationen gefressen. Es wird zusammenbrechen, wenn es anders als im Schritt zu gehen gezwungen wird.

»Ich zahle Euch seinen vierfachen Wert!« rief Herr Regnier mit vor Ungeduld funkelnden Blicken.

»Dafür würde ich mir jetzt kein anderes Pferd anschaffen können,« erwiderte der Mann, »und Ihnen würde auch wenig damit gedient sein, mein Herr, denn wenn das Tier zusammen bricht, werden Sie nicht nach Ferrières kommen.«

»Das ist wahr,« sagte Herr Regnier, »also laßt es im Schritt gehen, vorausgesetzt, daß wir dann ankommen.«

Er schlug die Arme übereinander und lehnte sich an die harte, unbequeme Rückwand des Wagens.

Der Abend dunkelte herein, – die Nacht stieg herauf. In langsamem Schritt zog das müde Pferd den kleinen Wagen auf der Straße dahin, während der Geist dieses Mannes, der über den Kanal gekommen war, um das Schicksal Frankreichs zu wenden, sich in fieberhafter Unruhe zerarbeitete, während seine brennenden Blicke, dem weißen Strich der Landstraße folgend, nach dem Horizont hinstarrten, um das Ziel seiner Fahrt zu entdecken, das immer und immer nicht erscheinen wollte.

Hin und wieder wurde er von preußischen Posten angerufen, auf seine Erklärung aber, daß er nach dem Hauptquartier wolle, um den Grafen Bismarck zu sprechen, immer wieder vorbeigelassen.

Endlich stieg die Morgensonne wieder am Himmel empor, und in ihren Strahlen zeigten sich bald die hohen Bäume des Parks und die weithin sichtbaren Türme des Schlosses des Barons von Rothschild.

»Das ist Ferrières,« sagte der Fuhrmann, mit der Spitze seiner Peitsche dorthin deutend, »dort werde ich hoffentlich Futter für mein armes Pferd finden.«

»Endlich!« rief Herr Regnier, tief aufatmend.

Und er ließ das lang ersehnte Ziel seiner Fahrt nicht mehr aus den Augen, indem er sich in zitternder Unruhe hin und her bewegte, als könne er dadurch das langsam dahinrollende Gefährt schneller vorwärts bringen.

Wie aber alles ein Ende nimmt, auch die von ungeduldiger Erwartung zu Stunden verlängerten Minuten, so kam auch das hochragende Schloß von Ferrières immer näher heran. Deutlich zeichnete sich bald im glänzenden Morgenlicht die Architektur der Türme, – noch eine Viertelstunde und in schnaufenden Atemzügen die Flanken bewegend, hielt das ermüdete Pferd vor der Säulenhalle des Schlosses an.

Herr Regnier sprang vom Wagen, zog eine Handvoll Goldstücke aus seiner Börse und reichte dieselben dem mit vergnügtem Lächeln dankenden Fuhrmann, der sich alsbald entfernte, um ein Unterkommen und das langersehnte Futter für sein Pferd zu suchen.

Herr Regnier trat in die Halle des Schlosses, setzte dort seinen Reisekoffer nieder und fragte eine der zum Dienst bereitstehenden Ordonnanzen nach dem Sekretär oder Adjutanten des Grafen Bismarck, den er in dringender Angelegenheit zu sprechen wünsche.

Der Soldat wies ihn in ein Zimmer des Erdgeschosses, in welchem an mehreren Tischen Schreiber saßen, die mit derselben Ruhe, derselben Pünktlichkeit und Ordnung wie in der Wilhelmsstraße zu Berlin die Expeditionen erledigten.

Ein großer, schlanker Mann von vornehmer Haltung trat ihm entgegen und fragte ihn mit kalter, ruhiger Höflichkeit nach seinen Wünschen.

»Ich habe den dringenden Wunsch,« erwiderte Herr Regnier, »womöglich sogleich, ohne jede Verzögerung, seine Exzellenz den Grafen Bismarck zu sprechen. Mein Name ist Regnier, ich komme unmittelbar von Hastings.«

Der Herr, welcher ihn empfangen hatte, blickte Herrn Regnier prüfend an und erwiderte dann in reinem, akzentlosem Französisch, indem er sich artig verneigte:

»Ich bin der Legationsrat Graf Hatzfeld, – ich glaube nicht, daß Seine Exzellenz der Graf Bismarck imstande sein wird, Sie zu empfangen. Er hat Herrn Jules Favre gesprochen, befindet sich jetzt bei Seiner Majestät dem König und hat Herrn Favre abermals um elf Uhr hierher beschieden, – indessen, wenn Sie von Hastings kommen –«

»Direkt von Hastings,« fiel Herr Regnier ein, »und ich glaube, daß es für den Grafen Bismarck von Interesse sein möchte, mich zu sprechen, bevor er Herrn Favre eine definitive Antwort gibt.«

Graf Hatzfeld verneigte sich und sprach:

»Ich werde den Herrn Ministerpräsidenten jedenfalls benachrichtigen. Wollen Sie die Güte haben,« fuhr er fort, »mir nach meinem Zimmer zu folgen, wo Sie die Entscheidung besser abwarten können als hier.«

Er führte Herrn Regnier nach einem in der Nähe liegenden Zimmer, ersuchte ihn, sich in einem großen und bequemen Lehnstuhl von der Reise auszuruhen, und schrieb einige Zeilen.

»Wollen Sie mich nach einigen Augenblicken erwarten,« sagte er dann, ging hinaus und kehrte nach kurzer Zeit, welche Herr Regnier in unruhiger Erwartung verbrachte, wieder zurück, um demselben mitzuteilen, daß der Graf Bismarck von seiner Ankunft in Kenntnis gesetzt sei.

Nach einer Unterhaltung von etwa fünf Minuten, welche von den Herren in allgemeinen Bemerkungen geführt wurde, um die Zeit auszufüllen, wurde die Tür rasch geöffnet, und Graf Bismarck in dem blauen Kampagne-Überrock mit dem gelben Kragen seines Kürassierregiments trat schnellen Schrittes ein.

Herr Regnier und Graf Hatzfeld erhoben sich.

Graf Bismarck begrüßte Herrn Regnier durch eine leichte Verbeugung und blickte ihn aus seinen klaren, grauen Augen scharf und forschend an, als suche er in seinen Erinnerungen, ob ihm dies Gesicht jemals begegnet sei.

»Sie kommen von Hastings, mein Herr,« fragte er, »und haben mir Mitteilungen zu machen?«

»Ich komme unmittelbar und ohne Aufenthalt von dort,« erwiderte Herr Regnier, »und bin glücklich, daß ich so schnell die Ehre habe, vor Eurer Exzellenz zu stehen.«

»Ihre Reise muß schwierig und beschwerlich gewesen sein,« sagte Graf Bismarck in artigem Konversationston, indem er fortwährend Herrn Regnier musterte, der seine prüfenden Blicke ruhig erwiderte.

»Es fehlte überall an Kommunikationsmitteln,« sagte er, – »das war die Hauptschwierigkeit, die sich meinem Kommen entgegenstellte und meine Ankunft zu meinem tiefen Bedauern verzögert hat. Die preußischen Truppen haben mir nirgends ein Hindernis in den Weg gelegt, sobald ich ihnen erklärte, daß ich Eure Exzellenz zu sprechen wünschte.«

»Zu unserem Hauptquartier hineinzugelangen,« sagte Graf Bismarck lächelnd, »ist nicht so schwer. Die Vorpostenkette rückwärts zu überschreiten, würde Ihnen vielleicht nicht ganz so leicht werden, – indessen,« fuhr er fort, »Sie haben mir Mitteilungen zu machen, – ich bin bereit, Sie anzuhören. Ich habe noch einige Zeit bis zur Ankunft des Herrn Jules Favre,« fügte er mit einem scharfen Blick auf Herrn Regnier hinzu, welcher bei diesen Worten leicht zusammenzuckte, »Graf Hatzfeld wird die Güte haben, Sie zu mir zu führen und sodann auch für Ihr Unterkommen und Ihre Pflege so gut als möglich Sorge zu tragen.«

Leicht das Haupt neigend, verließ er das Zimmer.

Graf Hatzfeld ordnete an, daß die Effekten des Herrn Regnier vorläufig zu ihm gebracht würden, und ersuchte denselben dann, ihm zu dem Minister zu folgen.

Graf Bismarck war inzwischen die Treppe zum ersten Stockwerk hinaufgestiegen und hatte sich in sein mit aller Pracht des Rothschildschen Schlosses ausgestattetes Arbeitszimmer begeben, in dessen Mitte ein großer, mit Papieren bedeckter Tisch stand, an dessen Seiten zahlreiche, verschließbare Mappen angelehnt waren; – erbrochene Briefkuverts und zerrissene Papierstücke lagen auf dem Boden.

Eine Chaiselongue stand vor dem Schreibtisch, ein Lehnstuhl derselben gegenüber.

»Ich habe diesen Mann nie gesehen,« sagte der Graf, indem er sinnend vor seinem Schreibtisch stehen blieb, »und doch kenne ich so ziemlich die meisten Personen der kaiserlichen Umgebung, diejenigen besonders, denen man in diesem Augenblick eine so wichtige Mission anvertrauen möchte, – sollte das eine Mystifikation – eine Falle sein? – Es ist freilich so natürlich, daß von dorther eine Botschaft kommt. Ich bin erstaunt gewesen, daß die Kaiserin kein Lebenszeichen von sich gegeben, nachdem Napoleon mich an die Regentschaft verwiesen hat, – auch macht der Mann keinen schlechten Eindruck. Sein Äußeres ist vertrauenerweckend, – indes,« fügte er hinzu, »Vorsicht kann nicht schaden. Der Fanatismus ist angeregt, und ich habe keine Neigung, mein Leben in dieser Weise auszusetzen.

Er nahm vom Tisch einen schön gearbeiteten, achtläufigen Revolver, spannte den Hahn und prüfte die Zündhütchen auf den Läufen. Dann legte er die Waffe auf seine Chaiselongue und deckte ein Taschentuch darüber.

Kaum war dies geschehen, so öffnete nach einem kurzen Klopfen der Graf Hatzfeld die Tür, führte Herrn Regnier ein und ließ denselben mit dem Bundeskanzler allein.

Graf Bismarck lud Herrn Regnier ein, auf dem Lehnstuhl neben seinem Schreibtisch Platz zu nehmen, setzte sich selbst auf die Chaiselongue und erwartete ruhig die Anrede desjenigen, der sich als einen Boten von Hastings bei ihm eingeführt hatte.

Herr Regnier zog aus seiner Tasche die photographische Ansicht von Hastings mit der Unterschrift des kaiserlichen Prinzen und überreichte das Blatt dem Grafen Bismarck.

Dieser nahm dasselbe, las langsam, genau die Schriftzüge prüfend, die darunter geschriebenen Worte, legte dann das Bild auf den Tisch und blickte Herrn Regnier schweigend und erwartungsvoll an.

Dieser schien ein wenig aus der Fassung zu kommen und sprach:

»Ich habe mich hierher begeben, um Eurer Exzellenz die Bitte auszusprechen, mir einen Geleitschein zu geben, welcher mir die Möglichkeit gewährt, unverzüglich nach Wilhelmshöhe zu gehen, um die Ansicht des Kaisers Napoleon über einen möglichen Friedensabschluß einzuholen und zugleich dessen Autorisation zu den Verhandlungen über denselben zu erbitten.«

Graf Bismarck saß einige Augenblicke schweigend da. Dann nahm er noch einmal das Bild, wie es schien, mehr um seine Gedanken zu fixieren, als um die Schrift unter demselben zu prüfen, und sprach: die Augen fest auf Herrn Regnier richtend:

»Diese Beglaubigung, mein Herr, ist ein wenig allgemein, – indessen, davon will ich in diesem Augenblick ganz absehen. Wenn Sie von Hastings kommen, so setze ich voraus, daß Sie die Lage der Dinge, – daß Sie unsere Situation vollständig kennen und richtig würdigen. Uns sind die schweren Opfer eines großen Krieges aufgedrungen worden, der Sieg ist auf unserer Seite; – unsere erste Aufgabe, unsere dringendste Pflicht ist es, aus diesem Siege dauernde Vorteile zu ziehen und uns zu sichern, daß wir für eine lange Zukunft keinen neuen Krieg mit Frankreich zu führen haben. Die dazu notwendigen Garantien können aber nur durch eine Veränderung der französischen Grenzen gewonnen werden, und auf einer solchen zu bestehen, ist daher für uns unumgänglich notwendig.«

Herr Regnier neigte schweigend den Kopf, als erkenne er die Notwendigkeit dieser harten Bedingung an.

»Nun wohl, mein Herr,« fuhr Graf Bismarck fort, »unter dem notwendigen Gebot dieser Pflicht gegen Deutschland befinden wir uns in bezug auf einen möglichen Frieden in einer äußerst schwierigen Lage. Wir stehen zwei französischen Regierungen gegenüber, eine derselben ist diejenige des Kaisers, welche völkerrechtlich zu bestehen nicht aufgehört hat, welche uns den Krieg erklärt und denselben bis jetzt geführt hat, und welche noch in diesem Augenblick von allen europäischen Mächten anerkannt ist.«

»Ich bin glücklich, dies aus Ihrem Mund zu hören,« rief Herr Regnier lebhaft, indem er in schneller Bewegung die Hand gegen den Ministerpräsidenten ausstreckte, – »dies ist der Boden, auf welchem ich stehe und auf welchem die Zukunft nach meiner Überzeugung aufgebaut werden muß.«

Graf Bismarck hatte bei der raschen Gestikulation des Herrn Regnier seine Hand dem neben ihm liegenden Taschentuch genähert und fuhr, ihn scharf fixierend, fort:

»Diese völkerrechtlich anerkannte Regierung, mein Herr, hat aber in diesem Augenblick keine Gewalt in Frankreich. Wir befinden uns vielmehr einer anderen Regierung gegenüber, welche tatsächlich befiehlt und deren Befehlen fast alle Autoritäten des Landes gehorchen, obwohl dieselbe kein anderes Recht des Bestehens hat, als ihre eigene Selbsteinsetzung, und obwohl sie ebenso, wie sie aus einer Straßenbewegung in Paris entstand, durch eine solche wieder in das Nichts zurücksinken kann. Sie werden mir zugeben, mein Herr,« sprach er weiter, »daß es jedenfalls für mich schwer, ja beinahe unmöglich ist, mit einer oder der anderen von diesen Regierungen zu verhandeln, und auch die neutralen Mächte, deren Vermittlung man ja von Paris aus so eifrig nachsucht, befinden sich diesem Zustand gegenüber in gleicher Verlegenheit und würden sehr erfreut sein, wenn hierin eine Klärung einträte.«

»Darum,« rief Herr Regnier, »bin ich gekommen! Wenn meine Gedanken ausgeführt werden, so wird die Situation bald wieder vollkommen klar werden. Die Kaiserin Regentin –«

»Die Kaiserin«, fiel Graf Bismarck ein, »hat Frankreich verlassen, und wir haben hier nicht das Geringste von ihr gehört. Ich bin ein wenig befremdet gewesen,« fuhr er fort, »daß die kaiserliche Regierung so vollständig und so schnell ihre Position aufgegeben hat, ich meinerseits hätte gern mit derselben Frieden geschlossen. Ich habe nach der Einnahme von Sedan den Kaiser darüber gefragt, er lehnte aber jede Erklärung ab und verwies mich an die von ihm eingesetzte Regentschaft. Ich habe dem Grafen Castelnau und auch Pietri gegenüber andeutende Worte fallen lassen, hätte man dieselben verstanden, so hätte es zu Verhandlungen und vielleicht damals schon zu definitivem Abschluß kommen können. Man hat mich, wie es scheint, nicht verstehen wollen, und dadurch ist die gegenwärtige Situation herbeigeführt worden, bei welcher die kaiserliche Regierung wahrlich nichts gewonnen hat, welche uns aber die Verpflichtung auferlegt, vor allen Dingen, je weniger die Zustände Frankreichs eine völkerrechtliche Festigkeit bieten, um so mehr auf materiellen Garantien zu bestehen, welche uns jeder möglichen französischen Regierung gegenüber für unsere Interessen Sicherheit bieten.«

»Und glauben Eure Exzellenz,« fragte Herr Regnier, indem er mit angstvoller Spannung in das Gesicht des Grafen Bismarck blickte, »diese Garantien von der gegenwärtigen Regierung in Paris erlangen zu können?«

»Wir werden sie vor allem«, erwiderte Graf Bismarck ruhig, »durch uns selbst erhalten müssen, indem wir nehmen, was wir bedürfen, und festhalten, was wir haben. Die Pariser Regierung hat Herrn Jules Favre zu mir gesendet –«

»Und Eure Exzellenz haben mit ihm über den Frieden verhandelt?« fragte Regnier.

»Die Pariser Regierung«, erwiderte Graf Bismarck, ohne auf die gestellte Frage direkt zu antworten, »scheint nicht geneigt zu sein, Gebietsabtretungen zu bewilligen. Sie kann das auch wohl eigentlich nicht, da sie selbst den Mangel einer genügenden Legitimation empfindet, sie schlägt uns daher einen Waffenstillstand vor, um während der Dauer desselben das französische Volk eine konstituierende Versammlung wählen zu lassen und derselben die Frage des Friedensschlusses vorzulegen. Ich muß Ihnen sagen, mein Herr,« fuhr er in leichtem Ton fort, »daß ich wohl Lust habe, darauf einzugehen; wenn Metz und die übrigen belagerten Festungen sich ergeben haben, was in kurzer Zeit der Fall sein muß, so haben wir fast sechsmalhunderttausend Mann in Frankreich, die den Winter über hier bleiben und sehr gut verpflegt werden können. Wir haben also vollständig die Zeit, um abzuwarten, bis Frankreich uns gegenüber durch eine Regierung vertreten wird, die sowohl das Recht, das heißt, die Wahl durch den Volkswillen, als auch die faktische Gewalt besitzt und mit der wir uns in völkerrechtliche Unterhandlungen einlassen können. Dann wird es auch Zeit sein, unsererseits unsere Bedingungen über den Friedensschluß bestimmt zu formulieren, für jetzt würde das nur zu unnützen und resultatlosen Debatten führen, und ich muß mich daher jeder Negoziation von der einen wie von der anderen Seite gegenüber darauf beschränken, das Prinzip von Gebietsabtretungen, welche zum Schutz Deutschlands notwendig sind, als die unumgängliche Grundlage jedes möglichen Friedensschlusses zu bezeichnen.«

Herr Regnier hatte mit scharfer Aufmerksamkeit den Worten des preußischen Ministerpräsidenten zugehört. Ein Strahl der Hoffnung leuchtete in seinem Gesicht auf. Er sah, daß ein Abschluß mit der Pariser Regierung nicht erfolgt war und daß an einen solchen auch zunächst nicht zu denken sei. Er hatte also das Wichtigste gewonnen, was in solchen Augenblicken zu gewinnen ist: die Zeit.

»Ich möchte mir erlauben, Eurer Exzellenz zu bemerken,« sprach er in ruhigerem und kälterem Ton als vorher, »daß nach meiner Ansicht die Kaiserin allerdings den Fehler gemacht hat, daß sie nicht, nachdem sie gezwungen war, Paris zu verlassen, in Frankreich geblieben, oder daß sie nicht wenigstens, nachdem sie sich mit ihrem Sohn vereinigt, dahin zurückgekehrt ist. Ich glaube indes, daß dabei für Ihre Majestät die Furcht maßgebend gewesen sei, man möchte ihr vorwerfen, sie hätte im Interesse ihrer Dynastie die nationale Verteidigung gehindert oder zersplittert.

»Ich mache Ihrer Majestät keinen Vorwurf,« sagte Graf Bismarck, »was versäumt ist, ist versäumt. Die Vergangenheit gehört der Geschichte, wir haben es nur mit der Gegenwart zu tun, lassen Sie uns daher von der Gegenwart sprechen.«

»Ich möchte«, erwiderte Herr Regnier, »in einem Punkt zu widersprechen mir erlauben. Ich glaube, daß vielleicht vieles, wenn nicht alles, von dem, was versäumt ist, wieder nachgeholt werden könnte. Die Kaiserin kann heute noch nach Frankreich zurückkehren, es gibt noch Teile des französischen Gebiets, auf welchen man sie mit Enthusiasmus empfangen würde, und jedenfalls würde sie auch auf einem Schiff der Flotte auf französischem Boden sein. Von dort aus könnte sie sich an das französische Volk wenden und auch Verhandlungen einleiten, welche jedenfalls als völkerrechtlich gültig anerkannt werden müßten.«

»Aber welche praktischen Folgen könnten solche Verhandlungen haben?« fiel Graf Bismarck ein.

»Eure Exzellenz«, erwiderte Herr Regnier, »haben vorhin ausgesprochen, daß die gegenwärtige Regierung von Paris die faktische Gewalt in Händen habe, weil die französischen Autoritäten ihren Befehlen gehorchen; – welche Autoritäten aber sind dies? Die Präfekten und die Maires, – ich glaube nicht, daß diese Autoritäten für Eure Exzellenz und für die möglichen Friedensverhandlungen in Betracht kommen können. Bei der Frage, über welche ich die Ehre habe, mich mit Ihnen zu unterhalten, fallen überhaupt nur noch zwei Autoritäten ins Gewicht, dies ist der Marschall Bazaine und der General Uhrich, welche die beiden bedeutendsten Waffenplätze des Landes in Händen halten und zugleich über die einzigen noch streitbaren Armeen verfügen. Diese beiden Autoritäten, Exzellenz, gehören, wie ich glaube, der kaiserlichen Regierung, welche sie auf ihre Posten gestellt hat und in deren Namen sie dieselben verteidigen. Wenn der Marschall Bazaine und der General Uhrich im Namen des Kaisers kapitulierten, so würde die kaiserliche Regierung neben ihrem, von Eurer Exzellenz anerkannten Recht zugleich die einzige wirkliche und nachdrückliche Macht in Frankreich in ihren Händen halten und gewiß in der Lage sein, durch einen Friedensschluß Ihnen die nötigen Garantien zu gewähren, zugleich aber auch Frankreich bessere Bedingungen zu schaffen, als diejenigen sein werden, welche jene törichten und eigensinnigen Advokaten in Paris zuletzt werden annehmen müssen, nachdem sie dem Lande durch die verblendete Fortsetzung des Krieges noch schwere Opfer an Blut und Geld werden auferlegt haben.«

Graf Bismarck dachte einen Augenblick nach. Die Bemerkungen des Herrn Regnier schienen ihn zu frappieren.

»Ich erkenne an, mein Herr,« sagte er, »daß etwas Wahres in Ihren Worten liegt. Doch muß ich Ihnen sagen, daß nach meiner Unterredung mit Herrn Jules Favre die Regierung in Paris auf den Gehorsam und die Ergebenheit der Garnisonen von Metz und Straßburg mit Bestimmtheit zu rechnen scheint.«

»Sie täuscht sich,« rief Herr Regnier, indem er heftig auffuhr und sich zum Grafen Bismarck hinüberneigte, der abermals seine Hand dem neben ihm auf dem Sofa liegenden Taschentuch näherte, – »sie täuscht sich, und zwar ganz gewiß in betreff Bazaines. Bazaine ist zu sehr Soldat, er ist dem Kaiser zu sehr ergeben, um sich den Befehlen von Gambetta und Jules Favre zu unterwerfen, welche gar keine Berechtigung, gar kein Mandat in seinen Augen haben.«

»Das sind Möglichkeiten, mein Herr,« erwiderte Graf Bismarck, – »Hypothesen, die für mich keinen Anhaltspunkt, keine feste Grundlage bilden können. Ich wiederhole Ihnen, es ist viel versäumt, – wenn Sie eine Woche früher, wenn Sie nur einige Tage früher gekommen wären, – so wäre es vielleicht noch Zeit gewesen, – jetzt, fürchte ich, ist alles zu spät.«

»Warum zu spät?« rief Herr Regnier,, »es ist nie zu spät für eine gute Sache, für die Ersparung von Blut und Menschenleben, und ich sehe nicht ein, daß sich die Situation wesentlich verändert hätte. Wenn Eure Exzellenz Zweifel über die Gesinnungen des Marschalls Bazaine und der noch existierenden Armee haben, so bitte ich Sie um die Erlaubnis, mich sogleich nach Metz begeben zu dürfen. Ich bin fest überzeugt, daß ich in kurzer Frist mit völlig genügenden und befriedigenden Erklärungen von dort zurückkehren werde.«

Graf Bismarck blickte ihn einige Augenblicke scharf und durchdringend an. Er wollte eine Antwort geben, aber er hielt dieselbe zurück, zog seine Uhr hervor und sprach:

»Die Zeit ist da, mein Herr, zu welcher ich Herrn Jules Favre zu empfangen habe. Ich bedaure, daß es mir jetzt unmöglich ist, unsere Unterredung fortzusetzen.«

Er erhob sich.

Herr Regnier stand ebenfalls auf und sagte, auf die Photographie des Prinzen mit der Unterschrift deutend:

»Ich erlaube mir, dieses Blatt hier zu lassen und Eurer Exzellenz zugleich die erste Nummer der Situation des in London erscheinenden Blattes der kaiserlichen Partei, zu überreichen. Vielleicht wird es Sie interessieren, einen Blick auf dasselbe zu werfen.«

Er legte die Zeitung neben die Photographie auf den Schreibtisch. Graf Bismarck schwieg einen Augenblick, dann sagte er:

»Ich bitte Sie, mein Herr, wenn Sie nach Wilhelmshöhe kommen, Seiner Majestät dem Kaiser meine ehrfurchtsvollsten Huldigungen zu überbringen.«

»Ich darf also hoffen,« sagte Herr Regnier strahlenden Blickes, »daß Eure Exzellenz meine Bitte um einen Geleitschein gewähren wollen, wenn Sie nicht vielleicht«, fügte er mit Betonung hinzu, »zuvor sich für meine Entsendung nach Metz entscheiden sollten. Ich bitte um Erlaubnis, am Abend meine Papiere und meinen Paß abholen und Eurer Exzellenz Lebewohl sagen zu dürfen.«

Graf Bismarck verneigte sich schweigend, und Herr Regnier zog sich zurück.

Im Vorzimmer fand er den Grafen Hatzfeld, welcher ihn erwartete, um ihn nach seinem Zimmer zurückzuführen. Als sie die Treppe hinabstiegen, begegneten sie Jules Favre, welcher kam, um sich die Entscheidung Über sein Gespräch vom Tage zuvor von dem Grafen Bismarck zu holen. Sie gingen unmittelbar aneinander vorüber, der Abgesandte der Todfeinde des Kaisers Napoleon, welche sich über seinem zusammengestürzten Thron als die Vertreter Frankreichs konstituiert hatten, und dieser eifrige Verteidiger des sinkenden Kaiserreichs, welcher mit aller Kraft eines begeisterten Fanatismus alle Hebel in Bewegung setzte, um den Lauf des Schicksals aufzuhalten und zugunsten dieser Dynastie zu wenden, die schon zweimal Frankreich auf den Gipfel der europäischen Größe geführt und zweimal in den flammenden Abgrund eines gewaltigen Völkerkrieges hinabgestürzt hatte.

Jules Favre, der ernst und gebeugt die Treppe hinaufstieg, grüßte den Grafen Hatzfeld artig und streifte Herrn Regnier mit einem gleichgültigen Blick, während dieser dem Pariser Advokaten besorgt und angstvoll nachsah.

Dann folgte er dem Grafen Hatzfeld in dessen Zimmer, wo dieser ihm ein Frühstück servieren ließ, das der Küche des Barons Rothschild alle Ehre machte und nicht an die einfachen Mahlzeiten erinnerte, welche an anderen Orten im königlichen Hauptquartier stattfanden.

Jules Favre war inzwischen in das Kabinett des Grafen Bismarck geführt, der ihm artig entgegentrat und ihn, unter höflichen Erkundigungen nach seiner Unterkunft während der Nacht, auf demselben Lehnstuhl Platz nehmen ließ, welchen der Agent der kaiserlichen Sache soeben verlassen hatte.

»Sie haben mich hierher beschieden, Herr Graf,« sagte Jules Favre mit dem Ausdruck unruhiger Spannung auf seinem bleichen, nervös bewegten Gesicht, »Sie haben mich hierher beschieden, um mir das Resultat Ihrer Erwägungen über unsere gestrige Unterredung mitzuteilen. Ich hoffe,« fügte er hinzu, »daß Sie bei näherem Nachdenken über die Sache die Gründe gebilligt haben, welche ich Ihnen für meine Anschauung anführte und welchen Sie gestern keine Berechtigung zugestehen wollten.«

»Ich bin heute nicht mehr in der Lage,« erwiderte Graf Bismarck, »die Erörterungen fortzusetzen, welche wir gestern über die verschiedenen Auffassungen der Situation gehabt haben. Ich habe über unsere Unterredung ausführlich dem König Bericht erstattet, und Seine Majestät hat seine Entscheidung getroffen, über welche ich in eine weitere Diskussion zu treten nicht imstande bin.«

»Ich höre,« sagte Jules Favre, indem er das Haupt auf die Brust niedersenkte.

»Seine Majestät ist bereit,« sagte Graf Bismarck, jedes Wort scharf betonend, »einen Waffenstillstand von vierzehn Tagen bis drei Wochen zum Zweck der Wahl einer konstituierenden Versammlung zu bewilligen, und zwar unter folgenden Bedingungen: Da Sie von vornherein die Übergabe eines dominierenden Teiles der Festungswerke von Paris verweigert haben, so soll in und vor Paris der militärische status quo aufrechterhalten werden.«

»Gut,« sagte Jules Favre leise.

»In und vor Metz«, fuhr Graf Bismarck fort, »sollen auch während des Waffenstillstandes die Feindseligkeiten fortdauern, wobei ein bestimmter Umkreis um die Festung näher bestimmt werden wird.«

Jules Favre nickte zustimmend.

»Endlich«, fuhr Graf Bismarck fort, indem er Jules Favre fest ansah, »müssen Straßburg, Toul und Bitsch übergeben werden. Die Besatzungen von Toul und Bitsch sollen freien Abzug haben. Dagegen hat sich Seine Majestät nicht dazu bestimmen können, der Besatzung von Straßburg, da der Platz in allernächster Zeit kapitulieren muß, das gleiche Zugeständnis zu machen. Die Besatzung von Straßburg muß die Waffen strecken und sich kriegsgefangen geben.«

Die breite Brust Jules Favres arbeitete in schweren Atemzügen. Dann stand er auf und sagte mit fast erstickter Stimme, indem seine tief eingesunkenen, müden Augen fieberhaft glänzten:

»Ich habe mich getäuscht, als ich zu Ihnen kam, Herr Graf. Diese Täuschung ist schmerzlich und bitter gewesen, dennoch bereue ich es nicht, gekommen zu sein. Ich habe geglaubt, eine heilige Pflicht erfüllen zu müssen, indem ich versuchte, dem ferneren Krieg Einhalt zu tun. Ich werde alles, was Sie mir gesagt haben, meinen Kollegen mitteilen, und wenn dieselben ein Eingehen in Verhandlungen auf dieser Grundlage für angemessen halten sollten, so werde ich wieder bei Ihnen erscheinen, so schmerzlich mir das auch sein würde.«

Seine letzten Worte waren fast unverständlich in ihrem durch Schluchzen erstickten Ton. Tränen traten in seine Augen und rollten über seine Wangen hinab. Er wandte sich ab und stützte die Hand auf die Lehne des Sessels.

»Glauben Sie mir, mein Herr,« sagte Graf Bismarck mit mildem Ton, »daß ich volles Verständnis für Ihre Gefühle habe. Ich habe aber in diesem Augenblick die deutsche Nation zu vertreten, welche Tausende ihrer Söhne in diesem Krieg geopfert hat, und die Interessen meines Volkes allein dürfen für mich maßgebend sein.«

Jules Favre fuhr schnell mit der Hand über die Augen, wandte sich wieder dem Grafen Bismarck zu und sprach:

»Ich danke Ihnen, Herr Graf, für das persönliche Wohlwollen, das Sie mir gezeigt haben. Ich bitte Sie, meine Schwäche zu entschuldigen, meine Kräfte sind erschöpft, ich habe die Nacht schlaflos zugebracht, und mein trauriger, tief erschütterter Geist findet keine feste Stütze mehr in dem fast zusammenbrechenden Körper. Ich fürchte,« fuhr er mit festem und ruhigen Ton fort, indem er sich mit Anstrengung hoch aufrichtete, »daß wir den Ereignissen ihren Lauf lassen müssen. Die Bevölkerung von Paris ist bereit, der Verteidigung des Vaterlandes alle Opfer zu bringen. Sie können vielleicht die Ehre haben, diese Bevölkerung zu besiegen, Sie werden sie aber niemals unterwerfen, und die ganze Nation ist von derselben Gesinnung erfüllt. Wir werden den Krieg fortsetzen, solange wir noch die Kraft des Widerstandes in uns finden, und es beginnt ein endloser Kampf zwischen zwei Nationen, welche dazu geschaffen sind, sich die Hände zu reichen. Ich entferne mich von hier sehr unglücklich, sehr traurig, denn ich hatte eine andere Lösung gehofft, dennoch aber bin ich voll Mut und Hoffnung, voll Zuversicht auf die Kraft des sich selbst wiedergegebenen Frankreichs.«

Graf Bismarck hatte kalt und ruhig diese mit hohem Pathos gesprochenen Worte angehört.

»Und dennoch«, erwiderte er, »hoffe ich, Sie wiederzusehen; – wenn Sie eine Beendigung des Blutvergießens wünschen, so werden Sie auch einsehen müssen, daß eine solche ohne vollständige Wahrung der Interessen Deutschlands nicht möglich ist. Sie werden den Hauptmann von Winterfeld draußen finden,« sagte er dann, »er ist beauftragt, Sie durch die Vorposten zurückzuführen.« Jules Favre verneigte sich schweigend und verließ, vom Grafen Bismarck zur Tür geleitet, das Zimmer, um sich nach Paris zurückzubegeben, wo die Regierung und die ganze Bevölkerung sich immer mehr in kriegerischen Fanatismus hineineiferte und aus den hochklingenden Proklamationen des Generals Trochu immer von neuem die Überzeugung von der Unbesiegbarkeit Frankreichs schöpfte.

»Mit diesen ist eine Verständigung unmöglich,« sagte Graf Bismarck, indem er sinnend vor seinen Schreibtisch trat und die Photographie von Hastings in die Hand nahm, »sie werden in ihrer Verblendung nicht eher unsere notwendigen Forderungen zugestehen, als bis noch viel Blut vergossen worden; sie haben die Verantwortung für das Blut Frankreichs zu tragen, aber meine heilige Pflicht ist es, deutsches Blut zu schonen, und wenn es möglich ist, den Preis des Kampfes ohne weitere Opfer zu sichern – –

Wer ist dieser Herr Regnier?« sprach er nachdenklich, »diese wenigen Worte des Prinzen sind keine Vollmacht, keine Beglaubigung, – aber Verhandlungen wie diese beginnen ja stets durch Personen, die man desavouieren kann. Wenn die Ideen, die er mir ausgesprochen, feste Basis gewinnen, dann wäre es möglich, zu einem Frieden zu gelangen, der uns gerecht wird und zugleich die Möglichkeit der Aufrechthaltung geordneter Zustände in Frankreich bietet; – wenn Bazaine wirklich im Namen des Kaisers kapitulierte, – – ich darf diesen Faden nicht abschneiden, ich muß ihn verfolgen und sehen, wohin er führt. Dieser Regnier hat sich bereit erklärt, nach Metz zu gehen, – wohlan, es sei, ich will nichts unversucht lassen, um den Frieden zu erreichen, und wenn diese Pariser Regierung die Hand der Verständigung zurückweist, so will ich sehen, ob das Kaiserreich mir bietet, was ich fordern muß, und ob es noch die Kraft findet, sich in Frankreich zu halten.

»Doch jetzt frische Luft und Bewegung,« rief er, »sie sind die einzigen Arkana, um die Körperkraft zu erhalten unter der Last der Riesenarbeit, welche diese Zeit mir auflegt!«

Er trat in das Vorzimmer und befahl einer dort wartenden Ordonnanz, sein Pferd vorzuführen.


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