Gregor Samarow
Held und Kaiser
Gregor Samarow

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Zehntes Kapitel

Der Herbstwind rauschte durch den immer mehr herabsinkenden gelblichen Blätterschmuck der alten hohen Bäume, welche den eigentümlichen Bau der Löwenburg bei Wilhelmshöhe umgeben. Die tiefe Stille, welche die aus dem Waldesdunkel hervorragenden Steinmassen des altertümlichen Schloßbaues gewöhnlich zu umgeben pflegt, war durch eine nicht sehr zahlreiche Gruppe von Neugierigen unterbrochen, die am äußeren Eingang der Verzäunung vor der Burg standen und hierher gelockt waren durch den Wunsch, den gefangenen Kaiser zu sehen, der, nachdem er alle Tiefen und Höhen des menschlichen Lebens durchmessen, jetzt vom höchsten Gipfel irdischer Herrlichkeit in jähem Sturz herabgeschleudert, besiegt und entthront, in das prachtvolle Schloß eingezogen war, das in seinen Mauern schon so vielen Schicksalswechsel gesehen hat, das einst zur höchsten Glanzzeit des Welteroberers »Napoleonshöhe« hieß und das jetzt unter seinem alten, aber in diesen Tagen neu bedeutungsvoll gewordenen Namen »Wilhelmshöhe« die letzten Trümmer des zweiten französischen Kaiserreichs in sich barg, während der König von Preußen an der Spitze des deutschen Volkes in Waffen bereits dem Augenblick entgegenging, in welchem im alten Königsschloß Frankreichs das neue Kaisertum Deutschlands auf dem Schild der Nation sich erheben sollte.

Der alte Kastellan hatte einige seiner Bekannten am Tag vorher wissen lassen, daß für den nächsten Tag der Besuch des Kaisers auf der Löwenburg angesagt sei.

Diese Nachricht hatte sich weiter verbreitet, und da die unmittelbare Umgebung von Wilhelmshöhe streng abgeschlossen war, so hatten sich etwa fünfundzwanzig bis dreißig Personen nach der Löwenburg begeben, um den Imperator zu sehen, der so viel Trauer über Deutschland gebracht und doch wieder, ohne es zu wollen, als Werkzeug in der Hand der Vorsehung den Grundstein gelegt hatte zu der neuen, noch vor kurzem kaum geahnten Größe der deutschen Nation.

Die Gruppen waren ernst und schweigsam, der Ernst der Zeit, die Bedeutung des Augenblickes lag noch klarer und deutlicher in der Empfindung eines jeden Anwesenden hier an dieser Stätte, an welcher einst der König Jérome zur Zeit der tiefsten Erniedrigung Deutschlands seine lustigen Feste gefeiert hatte und an welcher jetzt sein entthronter Neffe erscheinen sollte, dessen Herrschaft vor kurzem noch so fest gegründet schien und doch so schnell zerbrochen war – und der nur noch in dem vergoldeten Gefängnis, das sein ritterlicher Gegner ihm gegeben, von dem Schein kaiserlicher Ehre und kaiserlichen Glanzes umgeben war.

Es mochte etwa zwei Uhr nachmittags sein, als eine vierspännige Equipage mit der Livree des preußischen Hofes und bespannt mit jenen prächtigen, dunkelbraunen Trakehnerpferden, welche das berühmte ostpreußische Gestüt dem königlichen Marstall liefert, den Waldweg herauffuhr und vor dem Eingang zur Burg hielt.

Gespannt richteten sich die Blicke aller Anwesenden auf die vier Personen, welche in diesem Wagen saßen, um nach den zahlreichen Bildern, die man seit langer Zeit überall zu sehen gewohnt war, den Kaiser zu erkennen.

Aber vergebens suchte man unter den Angekommenen eine Ähnlichkeit mit diesen Bildern, und schon wollten die neugierig Herangetretenen sich enttäuscht wieder abwenden, als die herangesprungenen Lakaien den Schlag öffneten, der alte Kastellan im schwarzen Anzug, den Hut in der Hand, an den Wagen trat und ein großer, schlanker junger Mann in dem von den französischen Offizieren vielfach getragenen anschließenden Spencer ehrerbietig einem alten Herrn die Hand reichte, welcher fast zusammengekauert in der Ecke des Wagens gesessen hatte und nun mühsam und schwerfällig vom Wagentritt herabstieg. »Ist es möglich?« hörte man unter den Gruppen flüstern, »kann das der Kaiser sein?«

»Ja, ja, er ist es«, sagte ein anderer.

Der Kastellan grüßte mit tiefer Verbeugung, – die anderen traten zurück.

»Wer hätte das denken sollen,« hörte man flüstern, – »es ist ja ein Greis, ein ohnmächtig gebrochenes Wesen, – wie ist es möglich, daß der da so viel Unruhe in der Welt gemacht hat –«

Und in der Tat schien die Verwunderung der Anwesenden gerechtfertigt, denn niemand hatte in der gebrochenen Gestalt, die da mühsam vom Wagen herabstieg, den Mann vermuten können, dessen Wort die ganze Welt in Bewegung gesetzt und so viele Hunderttausende auf blutigen Schlachtfeldern gegeneinander geführt hatte.

Der Kaiser trug den einfachen Interimsüberrock der französischen Generale mit dem kleinen, roten, goldgestickten Käppi, auf der Brust das kleine Kreuz der Ehrenlegion und die Medaille von Solferino. In der Hand hielt er einen starken Stock, auf den er sich so fest stützte, daß man erkennen konnte, diese Stütze sei ihm ein notwendiges Bedürfnis.

Er schien noch stärker geworden zu sein, oder die bequeme Tracht und die nachlässige und gebrochene Haltung ließen sein Enbonpoint stärker und sichtbarer hervortreten, wodurch seine ganze Gestalt etwas Unbehilfliches erhielt. Sein Haar und sein Bart waren sorgfältig frisiert, aber in der letzten Zeit tief ergraut, und die gerade abstehenden Spitzen seines Schnurrbartes gaben seinem erdfahlen Gesicht, dessen magere, faltige Züge mit seiner Körperfülle nicht im Einklang standen, etwas Starres und Totes. Seine tief eingesunkenen Augen blickten trübe, matt und gleichgültig unter den herabgesenkten Lidern hervor. Seine Nase schien stärker geworden zu sein und zeigte an ihren Flügeln etwas von jenem ominösen hippokratischen Zug, den die Ärzte als einen Ausdruck tiefer Zerstörung des Lebensorganismus kennen. Seine Unterlippe hing tief herab und bewegte sich zuweilen in unwillkürlichem, schmerzlich nervösem Zucken.

Der Prinz Murat, welcher dem Kaiser aus dem Wagen geholfen, bot ihm seinen Arm.

Der Prinz von der Moskwa und der General Reille, ebenfalls im Interimsüberrock der französischen Generalsuniform, folgten.

Napoleon warf aus dem Winkel seines Auges einen schnellen Seitenblick nach den neben der Eingangstür stehenden Zuschauern – einige Damen neigten sich grüßend, einige Herren nahmen schweigend die Hüte ab – wie mechanisch neigte der Kaiser den Kopf und folgte dann dem Kastellan, der mit dem Hut in der Hand voranschritt über die Zugbrücke durch das große Steinportal in den inneren Hof der Burg.

»Sie sind schon lange hier?« fragte der Kaiser den alten Kastellan in geläufigem, aber an den schwäbischen Dialekt anklingenden Deutsch.

»Schon sehr lange, Majestät,« erwiderte der Alte, – »ich war schon als Knabe hier zur westphälischen Zeit im Dienst –«

Der Kaiser blickte schnell und scharf zu ihm empor, einen Augenblick schienen sich seine matten, gleichgültigen Gesichtszüge zu beleben, – der alte Kastellan zuckte erschrocken zusammen, als fürchte er, etwas Ungehöriges gesagt zu haben, – er war gewöhnt, allen Besuchern des Schlosses fast bis auf die einzelnen Worte dasselbe zu sagen, – er hatte bei der Erwähnung der »westphälischen Zeit« kaum an einen Zusammenhang dieser Zeit mit dem kaiserlichen Gefangenen gedacht, dem er auf hohen Befehl jetzt das alte Schloß zu zeigen hatte.

»Treten wir ein,« sagte Napoleon, und schwankenden Schrittes, auf seinen Stock und den Arm des Prinzen Murat gestützt, schritt er über die Zugbrücke in den inneren geschlossenen Hof. Ruhig und fast immer gleichgültig hörte er die Erklärungen des Kastellans an, – etwas größeres Interesse zeigte er an der Sammlung alter Rüstungen, und mit einer gewissen Spannung hörte er die Geschichte von dem todbringenden Zauber der Trauerrüstung an, welche stets denjenigen, der sie bei den Begräbnissen der Regenten trug, kurze Zeit darauf dem Tode weihte.

Leicht fröstelnd schritt er aus dem kühlen Raum heraus und folgte dem Kastellan in die oberen Gemächer. Auf einem Flur lagen alte Möbel und Geräte, welche, wie es schien, in einen anderen Raum gebracht werden sollten, – langsam vorüberschreitend blieb der Kaiser plötzlich stehen und deutete mit der Spitze seines Stockes nach einem Winkel zwischen zwei alten vergoldeten Stühlen hin.

Dort stand am Boden eine wunderschön aus kanarischem Marmor gearbeite Büste des Königs Jérome, halb umgesunken und an die Wand gelehnt. Das jugendlich lockige Marmorhaupt mit den lächelnden, heiteren Zügen stach merkwürdig ab gegen die verfallenen Möbel, die es in der dunklen Ecke umgaben.

Sinnend, mit weichem, träumerischem Blick sah der Kaiser auf dies Bild aus der längst versunkenen Glanzzeit seiner Familie, während der Kastellan verlegen nach den Generalen hin die Achseln zuckte, als wolle er seine Unschuld beteuern, daß gerade diese Marmorbüste sich hier auf diese Weise den Augen des Kaisers entgegenstellte.

»Armer Oheim,« sagte Napoleon zum Prinzen Murat in französischer Sprache, – »als man seine Züge, die damals von Glück und Freude strahlten, in diesen Marmor meißelte, – da ahnte er nicht, daß sein Bild hier einst so unter altem Geröll daliegen würde. Er ist auch schwer erschüttert worden von den wechselnden Schicksalen des Lebens, – und doch war er immer lustig, – immer lustig –« wiederholte er leise, sich fest auf seinen Stock stützend, – »freilich«, sagte er dann, finster in sich zusammensinkend, »hat er diesen Fall nicht erlebt, – er schläft im Dom der Invaliden neben seinem Bruder, und Trophäen des Ruhmes neigen sich über sein Grab. – Er ist glücklich!«

Noch einen langen Blick warf er auf die am Boden liegende Büste, – dann schritt er weiter, und der alte Kastellan beeilte sich, seine Erklärungen wieder aufzunehmen, froh, daß diese für ihn so peinliche Szene, welche ihn einen Verweis befürchten ließ, vorübergegangen war.

Sie durchschritten eins der Gemächer nach dem anderen, Napoleon hörte schweigend die Erläuterungen zu den einzelnen Räumen, – endlich waren sie in ein kleines Zimmer gekommen, dessen Fenster sich über die Waldabhänge hin nach der weiten Ebene öffneten. Der Kaiser ließ den Arm des Prinzen Murat los, – trat an das Fenster und blickte mit groß geöffneten Augen lange in die wunderbar schöne Fernsicht hinaus. Die reine, frische Waldluft schien ihm wohlzutun, er atmete in tiefen Zügen, eine leichte Röte erschien auf seinen blassen Wangen.

Plötzlich kehrte er sich um und sagte, den Kastellan fest anschauend:

»Es ist schön hier oben, – sehr schön, – war der König Jérome oft hier?« fragte er dann ohne jeden Übergang mit ruhiger, klarer Stimme.

Der alte Mann fuhr wieder in ängstlicher Verlegenheit zusammen, – aber das freundlich wohlwollende Wesen des Kaisers schien ihm Mut einzuflößen, und er antwortete:

»Der König kam oft her, – er gab kleine Diners in dem oberen Salon –«

»Immer lustig,« flüsterte Napoleon mit leichtem Lächeln.

»Zuweilen«, fuhr der Kastellan fort, – »blieb der König auch die Nacht hier, – es gefiel ihm hier oben ganz besonders gut, – bis – –«

Er stockte und schwieg, indem er leicht hustete, – als ob seine Rede beendet sei. »Bis? –« fragte Napoleon, einen Schritt vom Fenster zurücktretend, – »bis wann?«

»Später kam der König nicht mehr herauf,« sagte der Kastellan.

»Und warum?« fragte Napoleon in bestimmtem, befehlendem Ton, »Erzählen Sie das.«

»Nun,« sprach der Alte, noch immer ein wenig zögernd, »da Eure Majestät es befehlen, – ich weiß zwar nichts Gewisses, – doch sprach man damals allgemein davon, – und soviel ich weiß, hat es ja auch der König selbst erzählt –«

»Nun also –« fragte der Kaiser mit ungeduldiger Spannung, während die Generale seiner Begleitung, welche das deutsch geführte Gespräch nicht verstanden, ganz verwundert auf ihren Herrn blickten, der so plötzlich aus seiner tiefen, gleichgültigen Lethargie erwacht schien.

»Der König also«, erzählte der Kastellan, »hatte ein Diner hier auf der Löwenburg befohlen und war selbst früher heraufgekommen, wie er gewöhnlich zu tun pflegte. Er begab sich hier in dies Zimmer, in welchem Eure Majestät sich jetzt befinden und welches er gewöhnlich bewohnte. Als er durch diese Tür hier eintrat, sah er an dem Schreibtisch dort –«

Der Kaiser blickte nach dem altertümlichen Tisch an der Seite des Zimmers hin, auf den der Kastellan deutete.

»Dort an jenem Tisch«, fuhr der Alte fort, – »sah der König jemand sitzen, – in blauem Rock und kurzer Perücke, – erstaunt blieb er stehen, – da erhob sich die Gestalt, wandte langsam den Kopf herum, – der König erkannte nach den Bildern, die er in den Schlössern gesehen, den alten Kurfürsten, der ihm entgegentrat und in kurzem Tone fragte: ›Was wollen Sie?‹ – Da warf der König die Tür ins Schloß und eilte die Treppe hinab, – die ganze Dienerschaft war erstaunt über sein verstörtes Aussehen, – er befahl seinen Wagen und fuhr nach Wilhelmshöhe zurück. Das Diner wurde abbestellt und – seitdem ist der König nie mehr nach der Löwenburg gekommen.«

Der Kaiser hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört, – ein leichter Schauer fuhr durch seine Glieder, – dann erklärte er mit wenigen Worten das Gehörte seinen Begleitern, welche lächelnd die Achseln zuckten.

Napoleon trat an den Schreibtisch heran, stützte die Hand auf denselben und blieb einige Augenblicke in tiefen Gedanken stehen. Dann wendete er sich rasch um und sagte mit fröstelndem Zittern:

»Ich bin angegriffen, – es ist kühl hier oben, – kehren wir zurück.«

Ohne weiter ein Wort zu sprechen und ohne sich in den Zimmern, die er durchschritt, umzusehen, stieg er die Treppe hinab und ging über den Schloßhof bis zu dem äußeren Gitter, wo noch immer die Gruppen der Neugierigen standen. Der Wagen fuhr vor, – der Prinz von der Moskwa ließ einige Goldstücke in die Hand des Kastellans gleiten, und der Kaiser fuhr den Waldweg herab, schweigsam in seine Ecke gelehnt, während der Kastellan von den verschiedenen Gruppen umdrängt wurde und mit wichtiger Miene alle Einzelheiten des kaiserlichen Besuches in dem Schloß erzählte.

Napoleon stieg auf der Rampe von Wilhelmshöhe aus, von welcher vor fünf Jahren der letzte Kurfürst herabgefahren war, um seinem Schloß und seinem Land für immer den Rücken zu wenden, – schweigend begab er sich in sein kleines Arbeitszimmer, durch dessen Fenster man die Aussicht nach dem Herkules hatte, entließ die Generale seiner Umgebung und befahl, seinen Sekretär Pietri zu rufen. Er ließ sich matt auf das Kanapee vor seinem Schreibtisch niedersinken, auf welchem eine große Anzahl französischer und deutscher Zeitungen lagen und starrte in finsterem Nachdenken vor sich hin, bis Pietri eintrat.

Dieser hielt ein Telegramm in der Hand und schien ein wenig unruhig und aufgeregt.

Der Kaiser bemerkte es nicht. Langsam schlug er die Augen auf und fragte mit dumpfem Ton, indem er matt die Hand gegen seinen vertrauten Sekretär erhob:

»Sagen Sie mir, Pietri, halten Sie es für möglich, daß Erscheinungen der Geisterwelt körperlich unseren Sinnen wahrnehmbar werden können?«

Pietri blickte mit tiefer, mitleidsvoller Teilnahme auf die gebrochene Gestalt und das schmerzlich zuckende Gesicht seines Herrn.

»Sire,« sagte er dann mit ruhigem, sanftem Ton, als wolle er auch durch den Klang seiner Stimme die krankhafte Erregung der Nerven des Kaisers beruhigen, – »Eure Majestät haben stets an die Einwirkung außer- und überirdischer Einflüsse auf das menschliche Leben geglaubt, – Eure Majestät wissen auch, daß mein etwas kritischer, – ja skeptischer Verstand,« fügte er mit leichtem Lächeln hinzu, »sich einem solchen Glauben nicht erschließen kann, – jedenfalls möchte ich glauben, daß unlösbare und unberechenbare Probleme nicht für die Beurteilung konkreter und realer Verhältnisse der Welt in Betracht kommen können, – solcher Verhältnisse, Sire, als sie sich jetzt mit übermächtiger und unerbittlicher Gewalt fühlbar machen.«

»Und doch,« sagte der Kaiser, welcher in starrem Hinbrüten kaum die Worte Pietris vernommen zu haben schien, – »und doch sind gewaltige und erschütternde Ereignisse oft von wunderbaren und übernatürlichen Kundgebungen aus einer Welt begleitet, die uns umgibt, die vielleicht bestimmend auf uns einwirkt und die doch nur in außergewöhnlichen und seltenen Augenblicken unseren Sinnen wahrnehmbar wird. Ich habe auf der Löwenburg«, fuhr er fort, »eine Geschichte gehört, – eine Geschichte, an die man glaubt und von der ich auch früher schon vernommen zu haben mich erinnere, – die Gestalt des alten Kurfürsten, sagt man, sei dort oben einst meinem Oheim erschienen, – der König Jërome war nicht abergläubisch,« fügte er mit einem matten Lächeln hinzu, – »aber voll Entsetzen ist er vor dieser Erscheinung geflohen vom alten Schloß herab, um einige Jahre darauf auch seinen Thron und sein Königreich für immer zu verlassen.«

Pietri erwiderte nichts. Er hob die Depesche, welche er in der Hand hielt, empor.

»Soeben, Sire –« sagte er.

»Denken Sie sich,« fiel Napoleon ein, ohne die Bewegung seines Sekretärs zu beachten, »daß mir Ähnliches widerfahren ist. Ohne äußere Veranlassung«, fuhr er lebhafter sprechend fort, »habe ich mich in den letzten Tagen mehrfach der unglücklichen Kaiserin Charlotte erinnert, dieser armen Prinzessin, welcher das traurige Schicksal ihres Gemahls das Herz gebrochen und den Geist verdunkelt hat. Sie war bei mir in Paris,« sprach er, starr vor sich hinblickend, weiter, »sie flehte mich um Hilfe an, – ich konnte sie ihr nicht gewähren, – der Eigensinn, die falsche, ehrgeizige Verblendung ihres Gemahls waren zu groß, – und als ich von ihr ging, umnachtete sich ihr Geist, – sie verfolgte mich und rief mir im ersten Ausbruch des Wahnsinns einen Fluch nach, der noch in meiner Seele nachklingt! – – ich hatte lange nicht daran gedacht,« sprach er leiser, – »ich hatte Mitleid für sie, aber ich konnte ihr ja doch nicht helfen, – jetzt aber, hier in dieser Einsamkeit, stieg die Erinnerung an jenen Augenblick wieder in mir herauf – und wunderbar – ist nicht das damals so stolze und mächtige Frankreich heute zusammengebrochen in Blut und Flammen, wie einst das Kaiserreich des unglücklichen Maximilian, – ist es nicht zerklüftet vom Kampf der Parteien durch die verhängnisvolle Fügung des Schicksals? Steht nicht derselbe Mann, steht nicht der Marschall Bazaine, nach welchem damals der unglückliche Maximilian in seiner letzten Not hilfebittend die Hand ausstreckte, – steht er jetzt nicht auch da als der letzte Retter Frankreichs, – wenn eine Rettung noch möglich ist? – Daran habe ich gedacht, Pietri,« fuhr er fort, die Blicke angstvoll auf seinen Sekretär gerichtet, »diesen Gedanken habe ich nicht loswerden können, und –« sprach er dann mit flüsternder Stimme, sich vorbeugend und scheu im Zimmer umherblickend, »in der letzten Nacht, als ich von Schmerzen gequält schlaflos auf meinem Bett lag, da war es, als ob ein Nebel das Zimmer erfüllte, – dieser Nebel verdichtete sich, und ich sah – Pietri, ich sah mit diesen meinen Augen die Gestalt des Kaisers Maximilian, bleich und fahl, in einen weiten Purpurmantel gehüllt, aber so dunkel der Purpur auch glühte, so sah ich doch große Blutstropfen an demselben herabrollen. Die Gestalt schwebte näher und näher zu mir heran, ich wollte mich erheben, ich wollte rufen, – aber Bewegung und Sprache waren von mir gewichen! – Lange sah mich das entsetzliche Bild mit seinen großen, todesstarren Augen an, dann hob es die Hand empor, tauchte den Finger in das von dem Mantel herabrinnende Blut und schrieb in die Luft vor meinen Augen mit roten, leuchtenden Flammenzügen den Namen ›Bazaine‹ – den Namen des Mannes, der damals neben dem versinkenden Kaisertum Maximilians stand, wie heute neben dem aus tausend Wunden blutenden und zuckenden Frankreich. Dann löste sich die Gestalt wieder in Nebel auf, und –« fuhr der Kaiser, von Schauern geschüttelt, fort, »und ich versank in eine Ohnmacht, aus der ich erst nach mehreren Stunden wieder erwachte, als das Morgengrauen des Tages durch das Fenster hereinfiel. Sagen Sie mir, Pietri,« rief er, die gefalteten Hände emporhebend, »glauben Sie, daß die Geister in eine andere Welt unversöhnliche Rache mit sich hinübertragen können?«

»Nein, Sire,« sagte Pietri mit festem Ton, »das glaube ich nicht, – aber ich glaube, daß Eure Majestät mit Conneau sprechen sollten. Er wird Mittel finden, um diese unnatürliche Überreizung zu beruhigen und Eurer Majestät Ruhe und Schlaf wiederzugeben.«

»Das sagen sie alle,« sprach Napoleon mit dumpfem Ton, »die Nerven! – Ja – sie sind mürbe und zerrissen, diese bewegenden Fäden der auseinanderfaltenden Maschine, – aber sollte es nicht möglich sein, daß, je mehr sie unbrauchbar werden für diese Welt, um so fühlbarer sich ihnen die Eindrücke einer anderen Welt machen können, einer Welt, welche leitend, bestimmend – und rächend in die verworrenen Menschenschicksale eingreift?«

»Sire,« sagte Pietri, indem er näher zum Kaiser herantrat, »ich beschwöre Eure Majestät, sich solchen Gedanken nicht hinzugeben und nicht Probleme zu verfolgen, welche auf Erden niemals gelöst werden. Die furchtbare Krisis, welche über Eure Majestät und Frankreich hereingebrochen ist, verlangt volle Klarheit des Nachdenkens und volle Kraft des Entschlusses, und Eure Majestät müssen diese Kraft in diesem Augenblick mit aller Gewalt des Willens zusammenfassen, denn eine ernste Entscheidung steht Ihnen bevor.«

Der Kaiser blickte wie aus einem Traum erwachend empor. Er schien in seinen Gedanken zu suchen, welche Entscheidung von ihm, dem machtlosen Gefangenen, zu treffen sein möchte.

»Ein Telegramm der Kaiserin,« sagte Pietri, das Blatt, welches er in der Hand hielt, seinem Herrn überreichend, »von einer belgischen Station, kündigt die Ankunft Ihrer Majestät für heute abend an.«

»Die Kaiserin kommt hierher?« rief Napoleon, sich schnell emporrichtend, »und was führt sie her? Hat sie die Erlaubnis zu diesem Besuch erhalten?«

»Darüber, Sire,« erwiderte Pietri, »sagt natürlich das Telegramm nichts, aber gewiß wird Ihre Majestät nicht ohne Genehmigung eine solche Reise unternehmen. Und was den Zweck ihres Besuches betrifft, so dürfte, wie ich vermute, derselbe mit den Verhandlungen zusammenhängen, über welche die Kaiserin vor einiger Zeit berichtete.«

»Aber jene geheimnisvolle Person,« sagte Napoleon, »deren Erscheinen die Kaiserin mir ankündigte, ist nicht gekommen.«

»Darum wird Ihre Majestät kommen,« sagte Pietri, »jedenfalls muß die Sache von Wichtigkeit sein, da die Kaiserin selbst den Entschluß Eurer Majestät einholen will.«

»Welche Unruhe, – welche neue Aufregung,« rief der Kaiser schmerzlich, – »ich habe die Macht verloren und soll dennoch auch jetzt noch von den Arbeiten der Herrschaft gequält werden! Pietri, – ich kann nicht mehr,« sagte er, in die Kissen des Kanapees zurücksinkend, – ich wünsche nichts mehr, als in Ruhe das Ende dieser Lebenstragödie zu erwarten, – das Glück ist von mir gewichen, was meine Hand berührt, ist dem Untergang verfallen!«

Pietri wollte antworten, – des Kaisers Kammerdiener trat ein, überreichte dem Geheimsekretär eine Karte, auf welcher einige Zeilen mit Bleistift geschrieben waren, und zog sich dann wieder leise und ehrfurchtsvoll zurück.

»Was gibt es?« fragte Napoleon, – »irgendein englischer oder amerikanischer Reporter, der mich für sein Journal auszubeuten wünscht? – Diese Leute haben ihren Nutzen,« fuhr er mit einem leichten Anflug heiterer Laune fort, – »ich empfange sie gern, wenn irgend möglich, – man kann durch sie Äußerungen und Anschauungen in die Öffentlichkeit bringen, die ihren Weg machen, die jedermann glaubt, – und die man doch nicht zu vertreten und zu verantworten nötig hat.«

»Es ist kein Reporter, Sire,« sagte Pietii ernst, indem er die Karte, welche er erhalten, in der Hand hin und her drehte, – »es ist,« fuhr er zögernd, mit einer gewissen Verlegenheit fort, – »es ist – Madame Bellanger –«

Der Kaiser richtete sich empor. Einen Augenblick zuckte sein Gesicht wie von einem plötzlichen Schreck zusammen, – dann aber leuchtete eine weiche, sanfte Freundlichkeit aus seinen vorher so trüben und starren Augen und mit dem wohlwollenden, angenehmen Lächeln seiner jüngeren Tage sprach er:

»Welche Torheit, – jetzt hierherzukommen, – und doch, – es sind so wenige, die dem Unglück folgen, – wohin verbirgt sich die Treue und Anhänglichkeit? – Aber hier,« rief er dann aufstehend und mit matten, schweren Schritten im Zimmer auf und nieder gehend, – »hier, wo tausend Augen auf mich gerichtet sind, – und heute, – die Kaiserin, – es ist unmöglich – sagen Sie ihr, Petri –«

Er stand einige Augenblicke sinnend da.

»Doch nein,« sagte er dann mit leicht zitternder Summe, – »lassen Sie sie kommen, – ich will ihr selbst sagen, daß sie gehen muß, – lassen Sie sie kommen.«

Petri ging hinaus, – der Kaiser blieb unbeweglich, die groß geöffneten Augen auf die Tür gerichtet, in der Mitte des Zimmers stehen.

Nach einigen Minuten öffnete Pietri diese Tür wieder und trat zur Seite.

Langsam, als hielte ein scheues Zögern ihre Schritte zurück, trat eine Frau von etwa fünf- bis sechsundzwanzig Jahren in das Zimmer. Ihre nicht sehr hohe, aber schlanke und biegsame Gestalt war in ein dunkelgraues, fast schwarzes Reisekleid gehüllt, – ihr Kopf mit dem reichen, einfach gescheitelten und in welligen Locken zurückgestrichenen, goldblonden Haar war von einem feinen, schwarzen Spitzentuch umgeben, – das Gesicht mit der reinen Stirn, der etwas aufwärts gebogenen Nase, dem großen, aber schön geformten Mund, schien von der Natur für heiteren, fröhlichen Lebensgenuß bestimmt, die großen, etwas schräg geschlitzten braunen Augen unter den fein gezeichneten Brauen, schienen nur gemacht, um keck und lustig in die Welt zu blicken, und die vollen, dunkelroten Lippen mußten noch reizender sein, wenn sie, benetzt vom perlenden Schaum eines vollen Champagnerkelches, von leichten Scherzen überströmten. Diese Frau führte einen zarten Knaben von etwa sechs Jahren mit langen, hellen Locken, einem feinen, frischen Gesicht und großen, klaren, sinnig blickenden Augen an der Hand, – auf ihren Zügen lag ein tiefer Schmerz, und ihre Augen schimmerten in Tränen, – es war, als sei ein Trauerschleier über ihre ganze so reizende, sinnlich heitere Erscheinung geworfen, und als sie, das Kind an der Tür zurücklassend, schnell auf den Kaiser zuschritt, sich vor ihm in die Knie sinken ließ, die weißen Hände bittend erhob und die Blicke voll rührender Hingebung auf ihn richtete, da war sie das vollendete Bild einer Magdalena, so schön, so lebensüppig und so schmerzvoll zugleich, daß kein Künstler ein besseres Modell für das gebeugte und gebrochene Kind der fröhlichen Welt des Sinnengenusses hätte finden können.

Der Kaiser blickte freundlich zu ihr herab, – es flog über seine Züge wie der letzte Strahlenschimmer, mit dem die herabsinkende Sonne der schon von der heraufsteigenden Nacht beschatteten Erde den Abschiedskuß gibt, – er reichte ihr die Hand, die sie in leidenschaftlicher Glut an ihre Lippen drückte und mit Tränen überströmte.

»Sie kommen zu mir, Marguerite,« sagte Napoleon mit unendlich weicher Stimme, – »jetzt, in dieser Stunde, in welcher das Ende von allem herannaht, das Ende für den gefallenen Kaiser und für den leidenden, gequälten Menschen?«

»O Sire,« rief Marguerite Bellanger, – »mein geliebter, teurer Sire, – wo wäre ein Platz, der mir höheres Glück gewähren könnte, als hier zu Ihren Füßen? Ich durfte diesen Platz nicht einnehmen, als Sie auf den goldenen Stufen des Thrones standen, – man hat mich von Ihnen getrieben, da ich doch nichts verlangte, als mit meinem törichten Geplauder und mit meinem fröhlichen Lachen Ihnen die Sorgen der Macht und Herrschaft zu verscheuchen, – die Welt, Sire, gehörte Ihnen, – Sie konnten die arme Marguerite entbehren, – aber jetzt, Sire, jetzt, da nicht die flüchtige Sorge nur des mächtigen Herrn und Gebieters Stirne faltet, – jetzt, da Dunkel und Einsamkeit Sie umgibt, da der tiefe Schmerz, das unerbittliche Leid seine Linien in Ihr Antlitz gräbt und Ihr Herz in bitterer Qual zerreißt, – jetzt, Sire, darf man mich nicht von Ihnen reißen, – hier zu Ihren Füßen ist mein Platz, den ich mit meinem Leben verteidigen will.«

Wie erschrocken vor diesen so glühend leidenschaftlichen und zugleich so rührend bittenden Worten trat Napoleon einen Schritt zurück.

Marguerite aber ließ seine Hand nicht los, – sie zog sich auf ihren Knien ihm nach, und die feucht verschleierten Blicke zu ihm aufrichtend, die Brust wogend von heißen Atemzügen, rief sie mit wehmütig flehendem Ton:

»Nein, Sire, – nein, Sie werden, Sie können mich jetzt nicht verstoßen, – Sie bedürfen meiner, – jetzt, jetzt endlich kann ich Ihnen sein, was ich in meinen Träumen ersehnte: – der flüchtige Lichtstrahl, der einen Augenblick Ihr Auge erfreut, die kleine, unbedeutende Blume, deren Duft Sie erquickt und tröstet in Ihrem einsamen Kummer! O fürchten Sie nicht, mein teurer Sire,« sagte sie in schmeichelndem Ton, »daß ich weinen und klagen werde, – nein, Sire, – ich werde lachen, Torheiten machen und scherzen, – und wenn Schmerz und Trauer Sie überall umgibt, so sollen Sie in den Augen Ihrer armen kleinen Marguerite Freude und Heiterkeit finden und eine lichte Erinnerung an vergangene Tage, in denen Sie doch zuweilen glücklich waren und einen freundlichen, liebevollen Blick für mich hatten.«

Sie unterdrückte mit heftiger Anstrengung ihre Erregung, fuhr schnell mit der Hand über die Augen und schaute zum Kaiser mit klaren, aber fieberhaft glänzenden Augen auf, während sie ihre zuckenden Lippen zu einem heiteren Lächeln zwang.

Sie war von rührender Schönheit in diesem Bemühen, lachende Fröhlichkeit auf ihrem Gesicht zu zeigen, während Angst und Schmerz ihre Brust durchwühlten, – sie hatte erreicht, was sie wollte, – der Kaiser sah sie mit einem innigen Blick voll Dankbarkeit und glücklicher Freude an.

Dann aber zog er sie sanft empor und sprach ernst, aber in einem Ton voll inniger Herzlichkeit:

»Stehen Sie auf, Marguerite, und hören Sie mich an; – was soll das Kind denken?« fügte er, auf den Knaben deutend, hinzu, der in der Nähe der Tür stehen geblieben war und mit verwunderten Blicken herübersah.

»Das Kind?« rief sie, den Knaben heranziehend und seinen Kopf zum Kaiser emporrichtend, – »das Kind soll sich ewig daran erinnern, daß es seine Mutter zu Ihren Füßen gesehen hat, Sire, – es soll nie in seinem Leben vergessen, daß es seine höchste Pflicht ist, für Sie zu leben, Sire, – und für Sie zu sterben. Sieh, Charles, mein Kind,« sagte sie, die Locken des Knaben streichelnd, »sieh, – dies ist dein Herr, – schwöre, ihn zu lieben und ihm zu dienen dein ganzes Leben lang.«

Das Kind sah seine Mutter fragend an, – dann blickte es zum Kaiser auf und sprach mit seiner reinen, klaren Stimme:

»Da meine Mutter Sie so sehr liebt, mein Herr, so liebe ich Sie auch und,« sagte er, die Worte seiner Mutter wiederholend und deren Ton nachahmend, – »und werde Ihnen dienen mein ganzes Leben lang.«

Der Kaiser stand tief bewegt vor dieser Frau und diesem Knaben, mächtige Rührung zuckte auf seinem Gesicht, – seine Augen füllten sich mit Tränen, – er bedeckte das Gesicht mit den Händen und sank auf einen Stuhl nieder.

Marguerite kniete zu seinen Füßen und küßte seine Hand, – das Kind stand neben ihm und legte seinen kleinen Arm auf die Schulter des Kaisers, – es wollte zeigen, daß es den Befehl seiner Mutter zu erfüllen trachte, – diesen traurigen, niedergebeugten Mann zu lieben, den es heute zum erstenmal sah. »Sire,« sagte Marguerite mit ernstem, feierlichem Ton, – »hier in dieser Stunde, bei dem Gott, der auch der Sünder sich erbarmt, der große Schuld vergibt um großer Liebe willen, – schwöre ich Ihnen, ich – habe Sie nicht betrogen, – ich habe jene Briefe geschrieben, welche ich Devienne gab, – weil man mir sagte, ich müßte es tun um Ihretwillen, – Ihres Friedens und Ihrer Ruhe wegen, – und was täte ich nicht für Sie? Für Sie, Sire, habe ich mein Kind verleugnet und beschimpft, – aber, Sire, – bei allem, was wahr und rein ist im Himmel und auf Erden, schwöre ich Ihnen, – dies Kind hat ein Recht, Sie zu lieben, – ein Recht, für Sie zu leben! und zu sterben!«

»Ich weiß es,« sagte Napoleon, – sanft machte er seine Hand von Marguerite los, zog den Knaben an sich und drückte einen Kuß auf seine Stirn.

Die junge Frau beugte sich zurück und blickte mit strahlenden Augen, die Hände vor der Brust gefaltet, auf den Kaiser und das Kind, als wolle sie dies Bild unauslöschlich in ihr Herz graben.

Napoleon stand auf, reichte ihr seine beiden Hände und zog sie zu sich empor.

»Ich danke Ihnen, Marguerite,« sagte er, – »Sie haben mir einen Augenblick des Glückes und der Freude gegeben, – dafür möge Glück und Freude Sie in Ihrem Leben begleiten, – jetzt aber, Marguerite, – jetzt müssen Sie mich verlassen –«

»Sie verlassen, Sire?« rief die junge Frau mit starrem Blick, – »jetzt, da Sie meiner bedürfen, – da Sie selbst mir sagen, daß ich imstande gewesen, Ihnen Glück und Freude zu geben, – o Sire, das ist unmöglich!«

»Marguerite,« sprach Napoleon mit der ihm eigentümlichen, fast kindlichen Herzlichkeit, welche in früheren Tagen seiner Unterhaltung oft einen so bezaubernden Reiz verlieh, – »Marguerite, – es muß sein. Der Kaiser ist herabgestürzt von seiner Höhe, – aber dennoch gehört er der Geschichte, – der Geschichte der Vergangenheit und der Zukunft, – und der Mensch, – er muß zufrieden sein, wenn ihm ein Augenblick des Glückes zuteil wird, um neue Kraft zu sammeln für die Leidenskämpfe, die unsere Bestimmung auf Erden sind, – und auf den Höhen des Lebens am meisten. – Gehen Sie, Marguerite, – ich will es, – ich bitte Sie darum!«

Sie stand bleich und regungslos da. »Und dies Kind?« flüsterte sie.

»Dies Kind?« sagte der Kaiser, indem er zu dem Knaben trat und die Hand auf sein Haupt legte, – »ich kann ihm nichts geben von dem Glanz, der den Thron des Kaisers umstrahlte, – aber auch die Sorge und die Pein mag ihm fernbleiben, welche die Macht und Größe verhängnisvoll begleiten. Der Kaiser, Marguerite, soll diesem Knaben fernbleiben, – fern für immer, auch in seinen Gedanken, – aber hier aus dem Herzen des Menschen heraus rufe ich den Segen des Himmels auf ihn herab, – er möge ihn begleiten sein Leben lang, – er möge seiner Mutter Lust und Glück bringen! Gedenket meiner in Liebe und betet für mich zu den unerforschlichen Mächten des Himmels, wenn ihr hören werdet, daß meine irdische Laufbahn vollendet ist. – Geht, – laßt mich allein, – es ist genug.«

Er schloß den Knaben in seine Arme und führte ihn zu seiner Mutter.

Marguerite sprach kein Wort mehr. Sie drückte ihre Lippen in langem Kusse auf die Hand des Kaisers, schlang dann den Arm um die Schulter des Kindes und verließ schwankenden Schrittes das Zimmer.

Der Kaiser setzte sich erschöpft nieder. »Auch die letzten Lichtblicke der Vergangenheit erlöschen, – müssen erlöschen, – und tiefer und tiefer senkt sich die Nacht herab, – wird es nach derselben wieder einen Morgen, – eine neue Sonne und neues Licht geben? – Ewiges Rätsel, das den Menschengeist so tief niederdrückt am Abend des Lebens, diesen Geist, der so stolz und allmächtig sich dünkte im Licht der Mittagssonne!«

Pietri trat herein.

»Ist sie fort?« fragte der Kaiser.

»Sie ist in dem Wagen wieder zurückgefahren, der sie hergebracht,« erwiderte Pietri ernst und traurig, – »sie ist ein treues, ergebenes Herz, Sire, ganz Liebe und Hingebung –«

»Sie ist glücklich«, sagte der Kaiser leise, »denn sie wird ihr Kind glücklich sehen! – Armer Louis,« fuhr er fort, den Kopf in die Hände stützend, – »auf deinen schwachen Schultern ruht der Name des Kaisers mit seiner verhängnisvollen Last, – wirst du sie tragen können?«

Der Kammerdiener trat ein und meldete, daß das Diner des Kaisers serviert sei.

Napoleon stand auf, – sein Gesicht nahm den Ausdruck kalter, gleichgültiger Ruhe wieder an, – er stützte sich auf Pietris Arm und begab sich in den kleinen Speisesaal des Schlosses, wo die Herren seiner Umgebung ihn erwarteten.


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