Gregor Samarow
Held und Kaiser
Gregor Samarow

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Fünfzehntes Kapitel

Etwa zwölf Meilen von London liegt das freundliche, wohlhabende Dorf Chislehurst in der Nähe von Bromley in der Grafschaft Kent. Bei diesem Dorf erhebt sich, umgeben von einem schattigen Park voll uralter hoher Bäume, ein kleines Landhaus, bestehend aus einem zweistöckigen Mittelbau mit hohem Parterre und zwei daran stoßenden Seitenflügeln. Dies Haus, welches man in vielen Gegenden Deutschlands ein Schloß nennen würde, welches aber unter den Landsitzen der englischen Aristokratie nur einen unscheinbaren und bescheidenen Rang einnimmt, macht den Eindruck tiefer, abgeschlossener Ruhe und einfachen, eleganten Komforts. Nach der Gartenseite zu, wo sich nach englischer Sitte ein schön gehaltener Rasenplatz ausdehnt, sieht man einen Balkon über dem großen Mittelfenster des ersten Stocks, und darüber in der Höhe der Fenster des zweiten Stockwerks ist in einem steinernen Viereck, von allegorischen Figuren umgeben, eine große Uhr angebracht, welche in gleichmäßiger Ruhe die Stunden anzeigt, die hier in der einsamen Zurückgezogenheit so still und friedlich dahinrollen, während sie draußen im seinen Geräusch der Welt so viele tief erschütternde Ereignisse in ihrem Schoße bergen.

Wie in England jeder vornehme Landsitz seinen Namen hat, so hieß dies Haus Camden Place, nach dem englischen Geschichtsschreiber William Camden, welcher hier in stiller, abgeschlossener Ruhe sein Leben beschloß und seine »Annalen der Regierung der Königin Elisabeth« schrieb.

In diesen friedlichen Sitz des gelehrten Forschers war die Kaiserin Eugenie eingezogen, müde, den nach Hastings strömenden Neugierigen das Schauspiel einer gefallenen Größe zu bieten, und begierig, sich in tiefer Abgeschlossenheit von den erschütternden Bewegungen der letzten Zeit zu erholen.

An einem Nachmittag, als die herbstliche Sonne bereits von der Höhe ihrer Bahn herabsank, ging ein schlanker, kräftiger Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, in einen dunklen Zivilanzug gekleidet, am Rande des Rasenplatzes vor der Villa in unruhiger Bewegung, zuweilen schnell abgerissene Worte vor sich hin murmelnd und die Hände in raschen, nervösen Gestikulationen bewegend, auf und nieder.

Das kräftige, gebräunte Gesicht dieses Mannes mit schönen, regelmäßigen Zügen, einem kurzen, schwarzen, militärischen Bart und dunklen, kühn blickenden Augen zuckte in fieberhafter Aufregung, und er blickte zuweilen mit dem Ausdruck der Ungeduld nach der Tür des Hauses.

Nachdem er etwa zehn Minuten auf und nieder gegangen war, trat Madame Lebreton, die Vertraute der Kaiserin Eugenie, aus der Tür des Landhauses, und kaum hatte jener Mann sie erblickt, als er mit raschen Schritten ihr entgegeneilte, ihre Hand ergriff und mit unruhiger Hast zu ihr sprach:

»Es ist für mich ganz unmöglich, meine Schwester, länger hier zu warten. Meine militärische Ehre steht auf dem Spiel, ich habe meinen Posten verlassen, und wenn meine Sendung kein Resultat hat, wenn nicht unmittelbar der Friede geschlossen wird, so wird ein unauslöschlicher Flecken auf meinem Namen haften. Diese Unpäßlichkeit der Kaiserin ist verhängnisvoll. Ich bitte dich, zu Ihrer Majestät zu eilen und ihr zu sagen, daß sie einen Entschluß fassen müsse, daß sie mir Instruktionen erteilen müsse, denn so gern ich mich zu ihrer Verfügung gestellt habe, so eifrig ich ihr meine Kräfte zu widmen bereit bin, so geht mir doch die dienstliche Pflicht des Soldaten über alles. Und wenn Ihre Majestät mich nicht entläßt, wenn sie nicht ihren Entschluß faßt, so muß ich morgen nach Metz zurückkehren, wohin die Pflicht und die Ehre mich ruft, – und das ich niemals hätte verlassen sollen,« fügte er düster hinzu.

»Gedulde dich ein wenig, mein Bruder,« sagte Madame Lebreton, »Ihre Majestät befindet sich besser und wird dich in kurzer Zeit empfangen können, um dir ihre Entschließungen mitzuteilen. Ich fürchte,« fuhr sie mit traurigem Ton fort, »daß diese Entschließungen nicht im Sinne der Idee des Herrn Regnier ausfallen werden, welche ja der Marschall Bazaine ebenfalls billigt. Die Kaiserin scheint zu dem Entschluß gekommen zu sein, sich von jeder Teilnahme an den Ereignissen auf das sorgfältigste fernzuhalten, und sie wird kaum zu bestimmen sein, dir eine Instruktion oder einen direkten Befehl an den Marschall Bazaine mitzugeben. – Etwas anderes wäre es, wenn der Marschall die Verantwortung des selbständigen Handelns übernehmen würde; – wenn er es erreichen könnte, im Namen des Kaisers zu kapitulieren und die Armee zu retten, so wäre damit eine Grundlage für den Frieden gebildet, und es würde dann Ihre Majestät, wie ich glaube, durch die Ereignisse selbst gezwungen werden, auf Grund der Vollmacht der Regentschaft, welche noch nicht erloschen ist und welche ja die Preußen als die einzige legale Regierung in Frankreich anerkennen, zu handeln. Wenn du den Marschall bestimmen kannst, mein Bruder, den Gang der Dinge zu diesem Ziele zu führen, so wirst du Frankreich einen großen Dienst leisten. Und ich glaube,« fügte sie hinzu, »daß auch die Kaiserin dir Dank wissen wird.«

»O, wieviel hätte sich tun lassen,« rief ihr Bruder, »wenn ich sogleich mit einer solchen Erklärung hätte zurückkehren können! Welche Zeit ist verloren!«

Ein Lakai öffnete die beiden Flügel der Haustür, und die Kaiserin Eugenie, auf den Arm des kaiserlichen Prinzen gestützt, trat in den Garten.

Die Kaiserin war schwarz gekleidet und hatte ein schwarzes Spitzentuch nach spanischer Weise um den Kopf geschlungen. Ihre etwas bleichen und abgespannten Gesichtszüge trugen den Ausdruck ruhiger, ergebener Resignation.

Der kaiserliche Prinz trug einen ganz gleichfarbigen grauen Zivilanzug. Seine Haltung war etwas gebückt und unsicher, sein bleiches, eingefallenes Gesicht und seine tiefliegenden großen Augen zeigten die Spuren erschöpfender geistiger und körperlicher Leiden.

Die Kaiserin trat zu Madame Lebreton heran, reichte dem Bruder derselben die Hand und sagte voll Freundlichkeit, aber ohne das ihr sonst eigentümliche liebenswürdige und verbindliche Lächeln:

»Ich bedaure, mein lieber General Bourbaki, daß ich einige Tage verhindert war, Sie zu sehen und Ihnen meinen Entschluß über die Botschaft, die Sie mir gebracht haben, mitzuteilen. Sie sind ein treuer Freund unseres Hauses,« fuhr sie fort, während der Prinz den General ebenfalls mit herzlichem Händedruck begrüßte, »Ihnen kann ich daher sagen, daß ich während des Unwohlseins, an das man hier glaubte, eine etwas kühne und abenteuerliche Reise gemacht habe, – eine Reise nach Wilhelmshöhe,« sagte sie seufzend, – »ich habe nicht früher davon sprechen wollen, als ich bis hierher wieder zurückgekehrt bin, auch zu Ihnen nicht, – um uns hören die Wände, die Bäume, die Luft –«

»In Wilhelmshöhe? Mein Gott!« rief der General, »Eure Majestät waren in Wilhelmshöhe? Und wie trägt der Kaiser das ungeheure, das betäubende Unglück, an dessen Wahrheit kaum zu glauben möglich ist?«

Die Kaiserin zuckte die Achseln.

»Er trägt es mit dem Gleichmut, – der Gleichgültigkeit jener Philosophen des Altertums, von denen man mir gesprochen hat –«

»Der Stoiker,« fiel der Prinz ein.

Die Kaiserin nickte.

»Für ihn ist der Vorhang gefallen,« fuhr sie dann fort, »das Stück beendet, – sein Leben gehört der Vergangenheit an.«

»Traurig,« rief der General, »traurig, wenn er den Mut verliert –«

»Nicht den Mut,« fiel die Kaiserin ein, – »aber den Glauben. Er will nicht handeln, er will warten und nichts anderes tun, als die Zukunft des Prinzen vorbereiten.«

»So ist denn auch die letzte Hoffnung verloren!« rief der General, »und alles wird zusammenbrechen! Auf die Armee von Metz gestützt, hätte der Kaiser noch einmal das Heft der Ereignisse in die Hand nehmen können –«

»Und vielleicht,« sagte die Kaiserin mit Betonung, »könnte es noch möglich sein, ihm dies Heft in die Hand zu legen; – wenn der Marschall Bazaine zu handeln entschlossen ist, wenn er imstande wäre, eine kaiserliche Armee aus Metz herauszuführen – – –«

»So würden Eure Majestät mir in diesem Sinne Instruktionen erteilen?« fragte Bourbaki rasch.

»Das kann ich nicht, mein lieber General,« sagte die Kaiserin, »das darf ich nicht, – das würde des Kaisers bestimmtem Willen widersprechen. In solcher Lage,« fuhr sie fort, »als diejenige ist, in welcher der Marschall sich befindet, muß man auch ohne Instruktionen zu handeln wissen. Die vollendete Tatsache hat eine große Macht in der Welt, und auch der Kaiser hat ja diese Macht stets anerkannt. Wir werden noch weiter darüber sprechen,« sagte sie, »ich erwarte Sie demnächst in meinem Kabinett und will nur einen Gang durch den Park machen, um mich ein wenig zu erfrischen.«

Sie neigte leicht das Haupt und wendete sich mit dem Prinzen den Alleen des Parks zu.

»Dann wäre es ja besser gewesen,« sagte der General Bourbaki, »wenn ich gleich selbst nach Wilhelmshöhe gegangen wäre. Jetzt ist nur Zeit verloren, – das Kostbarste, was wir besitzen. Wenigstens wird diese Untätigkeit ein Ende haben, und wenn meine diplomatische Mission keinen Erfolg hat, so werde ich wenigstens meine militärische Pflicht erfüllen können.«

Ein kaiserlicher Lakai trat zu Madame Lebreton und brachte ihr in einer schwarzen Mappe die soeben von der Station abgeholten Briefe und Zeitungen.

Madame Lebreton musterte flüchtig die Briefe und griff dann nach der Indépendance belge, um die in jener Zeit so bedeutungsvollen und für diesen kleinen Hof der geflüchteten Kaiserin so ganz besonders interessanten neuesten Nachrichten zu lesen.

»O, mein Gott, rief sie, nachdem sie einige Zeilen durchflogen, ein neuer schmerzlicher Schlag: Straßburg ist gefallen!«

»Es war unmöglich, den Platz länger zu halten,« sagte General Bourbaki, »der tapfere Uhrich hat getan, was möglich war. Er hat die Ehre gerettet, – Straßburg ist früher auch schon genommen worden, – aber Metz! Metz! Es wäre entsetzlich, wenn man keinen Weg fände, um uns diese Schmach zu ersparen.«

»O«, rief Madame Lebreton freudig, »da ist eine gute Nachricht von Metz, Bazaine hat einen Ausfall gemacht!«

Bourbaki trat heran, mit glühenden Blicken hing er an den Lippen seiner Schwester.

»Er ist zwar zurückgeschlagen worden, aber die Berichte der Preußen gestehen selbst, daß er ihnen vielen Schaden zugefügt hat, die Garden haben sich mit unglaublicher Bravour geschlagen!«

»Die Garden?!« rief Bourbaki mit einem wilden Aufschrei, – » mein Korps ist im Feuer gewesen ohne mich, – und Bazaine hat mir doch fest versprochen, daß er die Garden nicht gegen den Feind senden wolle, solange ich abwesend sei!«

Er drückte beide Hände vor die Stirn, als wolle er seine wild durcheinanderwogenden Gedanken gewaltsam ordnen.

»Aber das kommt,« rief er dann flammenden Blickes mit bebenden Lippen, – »das kommt von dieser unverantwortlichen Verzögerung meines Aufenthalts hier, der nun doch zu keinem Ziel geführt hat. Das kommt davon, wenn ein Soldat seinen Posten verläßt und sich in Dinge mischt, die seiner Pflicht und seinem Beruf fernliegen, – mein Korps ohne mich im Feuer gewesen!« rief er laut in schneidendem Ton. »Ich bin entehrt, ich bin gebrandmarkt für immer, – wie soll ich vor meinen Soldaten erscheinen, die dem Feind gegenüber vergebens nach ihrem General gefragt haben? Genug dieses unwürdigen Intrigenspiels,« rief er mit wild rollenden Blicken. »Sie mögen es weiterführen lassen, von wem sie wollen, ich habe nur einen Leitstern, von dem nun nichts mehr mich entfernen soll! – Nicht bis morgen, nicht bis zur nächsten Stunde, nicht einen Augenblick länger werde ich hier bleiben. Jede verlorene Minute kann es unmöglich machen, mit meinem Leben meine verlorene Ehre zurückzukaufen. Lebe wohl, meine Schwester, ich gehe.«

Er schloß Madame Lebreton in seine Arme, küßte sie auf die Wangen und wandte sich hastigen Schrittes dem Hause zu.

»Mein Bruder,« rief Madame Lebreton, »mein Bruder, ich bitte dich, – höre mich an, – die Kaiserin –«

Bourbaki wandte sich um. Sein Gesicht zuckte vor Schmerz und Verzweiflung.

»Die Kaiserin?« rief er mit rauher Stimme, – »ich habe nur noch eine Herrin auf Erden: das ist die Fahne meines Korps, die Fahne, an der meine militärische Ehre hängt, – ich habe nur noch eine Pflicht zu erfüllen, das ist: unter dieser Fahne zu fallen, – und nichts in der Welt wird mich von der Erfüllung dieser Pflicht zurückhalten.«

Er wendete sich rasch, und ohne auf den nochmaligen Ruf seiner Schwester zu hören, eilte er in das Haus.

Madame Lebreton ging ganz erschrocken in den Park, um die Kaiserin aufzusuchen.

Noch bevor sie mit derselben zurückkehrte, fuhr der General Bourbaki, der in höchster Eile die notwendigsten Sachen in einen kleinen Reisekoffer gepackt hatte, in einem offenen Wagen, den er, selbst antreibend und mit Hand anlegend, anspannen ließ, der Eisenbahnstation zu.

Als die Kaiserin mit dem Prinzen und Madame Lebreton in das Haus zurückkehrte, wurde ihr gemeldet, daß der General bereits abgereist sei.

»Welch eine Übereilung, welch ein Starrsinn!« rief Madame Lebreton.

Die Kaiserin blickte nachdenkend vor sich nieder.

»Vielleicht ist es besser so,« sagte sie, »ich bin jetzt jeder Äußerung, jeder Einwirkung überhoben, – ich hätte meine Worte so sorgfältig und vorsichtig wählen können wie möglich, immer würde man mich doch für das verantwortlich gemacht haben, was geschehen wäre, – es ist besser so! – Will der Himmel uns beistehen, so wird es geschehen, auch ohne daß wir unmittelbar Hand anlegen. – Vielleicht war dies des Kaisers Sinn und Meinung,« flüsterte sie leise, indem sie, immer auf den Arm ihres Sohnes gestützt, nach ihrem Zimmer sich begab.

Kaum war sie dort angelangt, als der Kammerdiener der Kaiserin Madame Lebreton leise eine Meldung machte.

»Was gibt es?« fragte die Kaiserin, welche sich erschöpft in einen Lehnstuhl niedergelassen hatte.

»Herr Regnier ist angekommen und wünscht mich zu sprechen. Befehlen Eure Majestät, daß ich ihn empfange?«

»Mein Gott,« rief die Kaiserin, »hört denn diese Sache niemals auf? Kaum ist Bourbaki fort, so erscheint dieser merkwürdige Mann wieder, den wir nie gesehen und der mit fanatischem Eifer uns seine Hilfe bringen will. Es scheint, als ob das Ende dieses Fadens, so oft wir es aus der Hand lassen, sich uns immer wieder darbieten wolle! – Wollte man abergläubisch sein, so könnte man wirklich hier einen Wink des Schicksals vermuten. Jedenfalls hören Sie ihn an,« sagte sie, zu Madame Lebreton gewendet, – »und du, mein lieber Louis, habe die Güte, mir Herrn Chevreau zu senden. Er ist ein kalter und klarer Mann, ich wünsche, daß auch er diesen Herrn Regnier sprechen und prüfen möge.«

Madame Lebreton begab sich in den Empfangssalon des Hauses, und wenige Augenblicke darauf wurde Herr Regnier zu ihr eingeführt.

Er war unverändert in seinem grauen Anzug, mit dem grauen toupierten Haar, und nur seine früher so frische und blühende Gesichtsfarbe zeigte die Blässe, welche Aufregung und Anstrengung hervorrufen, so daß seine ganze Erscheinung durch ihre gleichmäßige Farbenschattierung fast den Ausdruck eines jener alten Kupferstichporträts machte, in welchen nur der Blick der scharf gezeichneten Augen lebendig aus den grauen Umrissen hervortritt.

»Wo ist der General Bourbaki?« rief Herr Regnier eifrig, nachdem er Madame Lebreton stumm begrüßt hatte, – »er hat einen großen Fehler begangen, er hat sein Inkognito nicht bewahrt, alle Welt weiß, daß er hier ist, damit kann alles verdorben werden, – die Wachsamkeit der feindlichen Parteien in Frankreich wird erregt, überall wird die Agitation gegen unsern Plan ins Leben gerufen!«

»Der General ist abgereist, um nach Metz zurückzukehren.«

»So hat er Aufträge von Ihrer Majestät erhalten?« fragte Herr Regnier, – »so wird Bazaine die Friedensunterhandlungen beginnen?«

»Ihre Majestät hat dem General keinen Auftrag gegeben,« erwiderte Madame Lebreton.

»Keinen Auftrag?« rief Herr Regnier. »So soll also der Marschall Bazaine, welcher so bereit, so entschlossen war zu handeln, untätig bleiben und die Dynastie dem Untergang, Frankreich dem Ruin verfallen?«

»Ich glaube nicht,« sagte Madame Lebreton etwas zögernd, »daß Ihre Majestät die Kaiserin sich wird entschließen können, aus ihrer Reserve herauszutreten. Der Rat aller treuen Freunde Ihrer Majestät geht dahin, sich vollständig zurückzuhalten, und die Kaiserin, welche Ihren Eifer gewiß dankbar anerkennt, glaubt demnach nicht, daß jetzt der Augenblick zum erfolgreichen Handeln gekommen sei.«

»Und wann, ich bitte Sie um Gottes willen, Madame,« rief Herr Regnier, »wann sollte dieser Augenblick denn eintreten? Die Geschichte schreitet heute schnell vorwärts, und wenn Metz gefallen sein wird, wie Straßburg schon gefallen ist, so wird das Kaiserreich für immer vergessen sein, und Frankreich wird auf lange Jahre dem Elend und der Anarchie verfallen. Ich bitte Sie, Madame, gehen Sie noch einmal zur Kaiserin und beschwören Sie dieselbe im Namen des Kaisers, im Namen ihres Sohnes, im Namen Frankreichs, mich wenigstens anzuhören, bevor sie ihren letzten Entschluß faßt.«

»In der Tat, mein Herr,« sagte Madame Lebreton, »ich weiß kaum, was ich zu dieser ganzen Sache sagen soll, – mein Gefühl steht auf Ihrer Seite, ich wünsche so sehr, daß etwas geschehen könnte, um all dieses Unglück wieder gutzumachen, und doch kann ich kaum wagen, Ihre Majestät von neuem zu bestürmen. Indes«, sagte sie nach einem augenblicklichen Besinnen, »ich werde der Kaiserin Ihre Bitte aussprechen, – sie mag dann entscheiden.«

Sie ging hinaus, und kurze Zeit darauf trat ein schwarz gekleideter Herr von fester, etwas gedrungener Gestalt, in strammer, sicherer Haltung in das Zimmer. Sein kurzes Haar und sein ebenfalls fast ganz kurz geschnittener Vollbart waren grau gemischt. Die starken Augenbrauen wuchsen an der Wurzel der kräftigen, nach hinten etwas gekrümmten Nase zusammen, und die dunklen Pupillen blickten scharf und etwas stechend aus dem weißen Rund seiner Augen hervor.

»Ich bin der Staatsminister Chevreau,« sagte der Eingetretene mit leichter Verbeugung, indem er Herrn Regnier forschend musterte, »Ihre Majestät die Kaiserin hat mich beauftragt, Ihnen mitzuteilen, daß sie nicht imstande sei, in dem von Ihnen gewünschten Sinne Aufträge an den Marschall Bazaine ergehen zu lassen. Ihre Majestät glaubt darin vollständig mit den Intentionen des Kaisers übereinzustimmen, welcher nach der Schlacht von Sedan, als der Augenblick ja vielleicht noch günstiger war und noch bessere Bedingungen hätten zu erreichen sein können, von allen Friedensverhandlungen Abstand genommen hat.«

Herr Regnier blickte finster zur Erde. Er schien erschöpft und unfähig, den Kampf gegen die sich stets von neuem vor ihm auftürmenden Schwierigkeiten weiter fortzusetzen.

Herr Chevreau betrachtete ihn einige Augenblicke nicht ohne Teilnahme und sprach dann, als Herr Regnier in seinem finstern Schweigen verharrte:

»Ich möchte indes nicht, mein Herr, daß irgendein Mittel unversucht bliebe, um das Kaiserreich aus dieser schweren Katastrophe zu erretten. Ich würde Ihnen den Rat geben, ein Exposé über Ihre Idee und die Wege zu ihrer Ausführung, verstärkt mit allen Belegstücken, die Sie besitzen, Herrn Rouher zu geben, der sich in London befindet. – Herr Rouher hat einen großen Einfluß auf die Kaiserin, und sie legt mit Recht auf seine Ansichten einen hohen Wert, da sie weiß, daß auch der Kaiser eine ganz besondere Achtung vor den Erfahrungen und den Meinungen dieses erprobten Staatsmannes und langjährigen treuen Dieners hegt. Wenn Herr Rouher nach einer genauen Prüfung der Sache sich veranlaßt fühlen würde, Ihrer Majestät ein Eingehen auf Ihren Vorschlag anzuraten, so bin ich überzeugt, daß die Kaiserin diesen Rat befolgen würde.«

Herr Regnier zuckte die Achseln und brach in ein bitteres Hohnlachen aus, so daß der Minister Chevreau ihn ganz befremdet ansah.

»Ich bitte Eure Exzellenz um Verzeihung,« sagte Herr Regnier, »daß ich meinem Gefühl einen vielleicht nicht ganz angemessenen Ausdruck gegeben habe, – aber muß es mir nicht wie eine Ironie erscheinen, daß Sie mich jetzt, nachdem eine lange Zeit verloren ist, während die Möglichkeit des Handelns vielleicht nur noch nach Tagen gemessen werden kann, auf eine lange Negoziation mit Herrn Rouher verweisen, welche abermals viele Tage in Anspruch nehmen kann und vielleicht beendet sein möchte, nachdem die Kapitulation von Metz vollzogen oder der Waffenstillstand mit Herrn Jules Favre abgeschlossen sein wird?«

Herr Chevreau antwortete nicht, er schien von den Bemerkungen des Herrn Regnier betroffen zu sein.

»Und dann,« fuhr Herr Regnier fort, – »Sie sprechen von Belegstücken, ich habe alle meine Papiere dem General Bourbaki übergeben, welcher im strengsten Geheimnis als Herr Regnier hier erscheinen sollte, und welcher sich doch schon in Brüssel vor aller Welt unter seinem wahren Namen zu erkennen gegeben hat. Ich würde also nicht imstande sein, Herrn Rouher die Belegstücke, die ich besitze, vorzulegen, und müßte Sie zuvor bitten, mir jene Papiere, die ich dem General Bourbaki übergeben habe, wieder zu verschaffen.«

»Diese Papiere«, erwiderte Herr Chevreau, »sind von dem General Ihrer Majestät der Kaiserin übergeben, und ich werde nicht ermangeln, sie Ihnen auf der Stelle nach London zu senden, – Ihre Adresse ist Madame Lebreton bekannt?«

»Jawohl, mein Herr,« sagte Herr Regnier, indem er seinen Hut ergriff und denselben in zorniger Erregung zusammendrückte. »Ich werde also die Zurücksendung meiner Papiere erwarten, – doch kann ich Ihnen nicht mit Bestimmtheit sagen, daß ich die von Ihnen gewünschte Unterhandlung mit Herrn Rouher beginnen werde. Alle diejenigen,« fügte er hinzu, indem er sich zur Tür wendete, »welche heute die Kaiserin vom Handeln zurückhalten, mögen der Geschichte gegenüber die Verantwortung dafür übernehmen. Ich habe getan, was ein einzelner Mann aus uneigennütziger Hingebung gegen die Dynastie und aus Liebe für das Vaterland zu tun imstande ist, – aber mit tiefem Schmerz muß ich es sagen, ich habe Verständnis für meinen Gedanken nur bei unseren Feinden gefunden.

Mit einer kurzen Verbeugung wendete er sich um und verließ das Zimmer. Herr Chevreau machte eine Bewegung, als wolle er ihm nacheilen, dann aber hielt er an und begab sich schnell in das Zimmer der Kaiserin zurück.

Herr Regnier gab einem auf dem Vestibüle stehenden Lakaien auf, Madame Lebreton zu benachrichtigen, daß er sich von ihr zu verabschieden wünsche, und trat dann vor die Tür in den bereits durch die Dunkelheit des Abends beschatteten Garten, wo er mit großen Schritten auf und nieder ging.

Nach etwa fünf Minuten trat Herr Fillion, der Erzieher des kaiserlichen Prinzen, aus dem Hause und ersuchte ihn, noch einmal zurückzukehren.

Herr Regnier folgte ihm und wurde in einen kleinen Salon geführt, der durch eine Lampe mit dunkelblauer Kuppel nur matt erleuchtet war. Neben einem runden Tisch in der Mitte des Zimmers stand Herr Chevreau; Herr Fillion, der mit ihm eingetreten war, blieb neben Herrn Regnier stehen.

»Ich begreife nicht,« sagte Herr Regnier mit unwilligem Ton zu dem Minister Chevreau, der ihn nicht anredete, »warum Sie mich zurückrufen lassen, ich wünschte nur mich von Madame Lebreton zu verabschieden und glaube nicht, daß eine Fortsetzung des Gesprächs, welches ich soeben mit Ihnen zu führen die Ehre hatte, irgendein Resultat ergeben könnte.«

Herr Chevreau antwortete auch jetzt nicht, sondern blickte in den dunklen Hintergrund des Zimmers, und als Herr Regnier dieser Richtung seiner Blicke folgte, sah er, auf eine Chaiselongue zurückgelehnt, eine dunkle weibliche Gestalt, welche sich nun erhob und in den von der Lampe erleuchteten Lichtkreis herantrat.

Es war die Kaiserin, welche einen Augenblick wie neugierig forschend Herrn Regnier betrachtete und dann unwillkürlich den Kopf schüttelte, als könne sie für diese Erscheinung in ihrer Erinnerung keinen Platz finden.

Erschrocken und lebhaft bewegt verneigte sich Herr Regnier tief.

»Mein Herr,« sagte die Kaiserin, »Sie bestehen darauf, mit mir zu sprechen, – was haben Sie mir mitzuteilen? – ich bin bereit, Sie zu hören. Setzen Sie sich.«

Die Kaiserin ließ sich wieder auf die Chaiselongue nieder. Herr Fillion brachte einen Stuhl für Herrn Regnier und dieser setzte sich der Kaiserin gegenüber, während die beiden anderen Herren in der Mitte des Zimmers neben dem Tisch stehen blieben.

»Ich bitte Eure Majestät, mich entschuldigen zu wollen,« sagte Herr Regnier mit leicht zitternder Stimme, »wenn ich durch meine dringende Bitte um persönliches Gehör vielleicht gegen die Etikette verstoßen habe, aber ich bin gekommen, um über hochwichtige Angelegenheiten – hochwichtig für das kaiserliche Haus und für Frankreich – zu sprechen, darum habe ich geglaubt, über die Form der regelrechten Vorstellung hinwegsehen zu dürfen. Ich bedaure,« fuhr er fort, »daß mir erst jetzt das Glück wird, vor Eurer Majestät zu erscheinen. Die Anstrengungen der letzten Tage haben mich tief erschöpft, und ich werde vielleicht nicht mehr die Kraft haben, meiner Überzeugung den richtigen Ausdruck zu geben, – denn schon die alten Römer sagten: mens sana in corpore sano, – eine gesunde Seele kann nur in einem gesunden Körper wohnen.«

Die Kaiserin machte eine leise Bewegung der Ungeduld und sagte:

»Sprechen Sie, mein Herr, ich höre.«

»Eure Majestät«, sagte Herr Regnier, »wissen, was bis jetzt geschehen ist und was der Zweck meiner Tätigkeit sein soll?«

Die Kaiserin neigte den Kopf.

»Madame Lebreton hat mir alles mitgeteilt,« sagte sie, – »und der General Bourbaki – –«

»Der General Bourbaki«, fiel Herr Regnier ein, »hat Eurer Majestät Sache sehr geschadet, indem er von seiner Entfernung aus Metz die ganze Welt hat sprechen und viel Zeit hat verloren gehen lassen. Metz, Madame«, fuhr er fort, »kann sich nur noch bis zum 18. Oktober halten –

»Das hat der General Bourbaki nicht so bestimmt gesagt,« fiel die Kaiserin ein.

»Und doch, Madame,« rief Herr Regnier, »ist es die volle, die bestimmte, die unzweifelhafte Wahrheit. Der Marschall Bazaine selbst hat mir dies genaue Datum genannt, bis zu welchem die Armee sich halten könne, aber selbst dann muß er die Offizierspferde mit zu den Lebensmitteln rechnen. Ich bitte nun Eure Majestät, zu bedenken, welches große Resultat für Frankreich und für den Kaiser gewonnen werden kann, wenn die Armee von Metz mit allen Kriegsehren kapituliert, wenn diese Armee von hunderttausend Mann mit drei Marschällen von Frankreich freien Abzug auf ein vom Kriege nicht berührtes Terrain erhält, wenn sie sich dort Eurer Majestät zur Verfügung stellt und Sie nur nötig haben, sich in das Hauptquartier Ihrer Armee zu begeben, um, gestützt auf die einzige noch übriggebliebene Waffenmacht Frankreichs, als von ganz Europa anerkannte Regentin einen Frieden zu schließen, der Frankreich jedenfalls bessere Bedingungen bieten würde, als sie die Herren Favre und Gambetta erlangen können.«

»Und Sie sind Ihrer Sache gewiß, daß dies geschehen werde?« fragte die Kaiserin.

»Ganz gewiß!« rief Herr Regnier. »Der Graf von Bismarck wird mit mir oder mit jedem andern Abgesandten unterhandeln, sobald ihm eine Vollmacht von Eurer Majestät und zugleich die Erklärung des Marschalls Bazaine vorgelegt wird, daß derselbe im Namen des Kaisers zu kapitulieren bereit sei. Aber«, fuhr er fort, »Eure Majestät dürfen mit Ihrem Entschluß nicht zögern, es muß unmittelbar und schnell gehandelt werden, – jede Stunde kostet Frankreich eine Million, und ich wiederhole es Eurer Majestät auf das bestimmteste, der Marschall kann sich nur bis zum 18. Oktober halten. Jede andere Angabe, die zu Eurer Majestät gelangt sein möchte, ist falsch. Bis zu dieser Zeit hin wird aber auch das letzte Korn und das letzte Pferd aufgezehrt sein. Wenn die Armee von Metz aber durch ein völlig ausgesogenes und von allem entblößtes Land sich nach einem kriegsfreien Terrain begeben soll, so muß sie doch wenigstens noch Pferde für die Artillerie und Futter für wenigstens fünf Tage haben. Es ist also unmöglich, jenen letzten Termin abzuwarten, und wenn etwas geschehen soll, so muß es in der allernächsten Zeit, lieber heute als morgen, geschehen.«

»Aber, mein Herr,« sagte die Kaiserin, indem sie durch den freundlichen Ton der Worte den Sinn ihrer Bemerkung zu mildern bestrebt war, – »Sie werden begreifen, daß bei einer derartigen Unterhandlung, bei welcher die höchsten Interessen des kaiserlichen Hauses und Frankreichs im Spiel sind, auch die Personenfrage nicht ohne Wichtigkeit ist, – ich habe niemals früher das Vergnügen gehabt, Sie zu sehen, und wie mir der General Bourbaki sagt, hat auch der Marschall Bazaine –«

»O Madame,« rief Herr Regnier, indem er die Hände erhob, als wolle er weitere Äußerungen der Kaiserin zurückhalten, »ich habe keinen persönlichen Ehrgeiz in dieser Angelegenheit, ich verlange nicht, daß Sie mich beauftragen, ich habe das ganze Werk vorbereitet, – lassen Sie die letzte Hand daran legen, von wem Sie wollen – ich hatte ja gerade deshalb auf die Reise Bourbakis gedrungen. Schicken Sie einen Ihrer Ratgeber, einen Ihrer Vertrauten ab, aber geben Sie ihm unbeschränkte Vollmacht und Gewalt zu handeln und abzuschließen, denn der Graf Bismarck wird sich nicht mit kleinen Detailfragen beschäftigen wollen. Der Marschall Bazaine kann nicht lange zögern – senden Sie jemanden, zu dem Sie volles Vertrauen haben. Nur keine diplomatischen Zögerungen, diese mögen in dem Verkehr der Kabinette in ruhigen Zeiten zweckmäßig sein, die armen, hungrigen Soldaten aber, welche in Metz liegen und einen ihrer Kameraden nach dem andern vor Erschöpfung fallen sehen, haben keine Zeit zu warten. Ich beschwöre Sie, Madame, senden Sie jemanden ab, sogleich, diese Nacht noch.«

Die Kaiserin stand auf, ging einige Male im Zimmer auf und nieder, wie fragend hefteten sich ihre Blicke auf Herrn Chevreau.

»Madame,« sagte dieser, »ich habe Herrn Regnier den Rat gegeben, seine ganze Sache dem Herrn Rouher vorzulegen, er ist der älteste und erfahrenste Ratgeber des Kaisers, und ohne seine Zustimmung möchten wir, – weder ich, noch irgendein anderer der hier Anwesenden, Eurer Majestät ein so folgenschweres Handeln anzuraten wagen.«

»Sie haben recht,« sagte die Kaiserin, indem sie vor Herrn Regnier stehen blieb, »Sie haben recht, wenn Herr Rouher die Sache billigt, so kann man darauf zurückkommen. Ich kann und darf auf eine solche Negoziation nicht eingehen. Würde ich Ihrer Bitte nachgeben, mein Herr,« sagte sie zu Herrn Regnier, »so würde die Nachwelt darin nur den Beweis finden, daß ich die Interessen der Dynastie denen des Landes vorgezogen habe, und die Schmach eines Vertrages, welcher französisches Gebiet den Feinden überläßt, würde auf meinem Haupte haften.«

»Majestät,« rief Herr Regnier, »Gebietsabtretungen sind überhaupt nicht mehr zu vermeiden, nachdem es bis dahin gekommen ist, und die Notwendigkeit anzuerkennen, kann nicht schmerzvoll sein. Große Regenten, welche heute noch ruhmvoll in der Geschichte Frankreichs dastehen, haben ebenfalls nach unglücklichen Kriegen drückende Friedensbedingungen unterzeichnet, – warum sollte Eure Majestät dies nicht tun, da Sie doch gewiß sein können, daß Sie unter allen Umständen bessere Bedingungen erlangen werden, als jene Verblendeten in Paris, welche den Krieg bis zur völligen Erschöpfung des Landes fortsetzen werden? Aber bedenken Sie, Madame«, fuhr er fort, »welche Wohltat Sie dem Lande erweisen. Ich bin durch einen Teil Frankreichs gereist, das Land geht dem Untergang entgegen – die Dörfer stehen verlassen, die Bewohner sind in die Wälder geflüchtet und lagern dort ohne Obdach – sie wissen schon heute nicht mehr, woher sie Nahrung nehmen sollen, und der Winter naht, sie bedrohend mit Frost und Hunger – mit der Vernichtung. Alle diese Unglücklichen können Eure Majestät mit einem Wort, mit einem Federzug retten, und wenn die Logik der Politik auf Eure Majestät keinen Eindruck macht, so wende ich mich an das Gefühl, an das Herz der Kaiserin, und bitte im Namen aller Unglücklichen, aller von Hunger, Elend und Vernichtung bedrohten Franzosen Eure Majestät um das Wort des Friedens, der von einem Hauch Ihrer Lippen abhängt.«

Die Kaiserin drückte in heftiger Bewegung ihre Hände auf die Brust und blickte abermals fragend Herrn Chevreau an, welcher die Augen niederschlug.

»Ich kann nicht, ich darf nicht,« rief sie. »Sprechen Sie mit Herrn Rouher, ohne seinen Rat will ich keinen Schritt weiter in der Sache tun,« sagte sie im Ton bestimmten und unwiderruflichen Entschlusses, – »leben Sie wohl, mein Herr, ich danke Ihnen für Ihren Eifer und werde nie vergessen, daß Sie in der Stunde der Not und Gefahr unserem Hause und Frankreich Ihre Kraft so unermüdlich zur Verfügung gestellt haben.«

»Ich gehe, Madame,« sagte Herr Regnier mit einer von tiefer, schmerzlicher Bewegung zitternden Stimme, »ich gehe, ich werde mich auch jetzt noch nicht zurückziehen, ich weiß noch nicht, was ich zu tun vermag, aber ich werde bis zum letzten Augenblick – und dieser ist nicht mehr fern – alles aufbieten, um das Kaiserreich und Frankreich zu retten. Mögen Sie niemals bereuen,« fuhr er fort, »heute zurückgewiesen zu haben, was ich Ihnen fast vollendet zu Füßen legte – die Wiederherstellung der Ordnung, des Friedens, des Wohlstandes.«

Er verbeugte sich tief vor der Kaiserin und verließ mit langsamen, fast schwankenden Schritten das Zimmer.

Die Kaiserin sah ihm traurig nach.

»Vielleicht«, sagte sie leise, »geht das Glück mit diesem Manne von uns – ein Verräter ist er nicht, wie man mich auch hat glauben machen wollen, der die ganze Intrige nur geführt habe, um Bourbaki von seinem Posten zu entfernen – aber gleichviel, ich kann nicht, ich darf nicht anders handeln. Nicht wahr?« – fragte sie mit fast ängstlichem Ton gegen Herrn Chevreau gewendet.

»Ich bin nicht imstande,« sagte dieser kalt und ruhig, »die Verantwortung für einen andern Rat Eurer Majestät gegenüber zu übernehmen.«

Während der letzten Worte der Kaiserin hatte man einen Wagen durch die Stille des Abends dahinrollen hören.

Jetzt trat Madame Lebreton eilig in das Zimmer und sagte: »Der Prinz Napoleon ist soeben angekommen und bittet Eure Majestät um Gehör.«

»Mein Gott,« rief die Kaiserin tief aufseufzend, »welch ein Tag der Unruhe und der Aufregung! Was will dieser Prinz, der mich haßt, der stets mein Gegner war und der schon bei seinem letzten Besuch mir so viel Unangenehmes zu sagen nicht müde wurde! – – Doch ich kann ihn nicht zurückweisen, wir dürfen der Welt, solange es möglich ist, nicht das Schauspiel der Uneinigkeit im eigenen Lager geben. Lassen Sie den Prinzen kommen.«

Herr Chevreau wollte sich zurückziehen.

»Bleiben Sie, mein Herr,« sagte die Kaiserin, »es ist mir angenehm, wenn meine Unterredung mit dem Prinzen Zeugen hat. Wir haben keine Geheimnisse untereinander,« fügte sie mit bitterem Lächeln hinzu.

Die Tür wurde schnell geöffnet. Der Prinz Napoleon trat ein. Sein Gesicht mit dem wachsartigen Teint war noch bleicher als gewöhnlich, seine Augen funkelten in fieberhafter Unruhe – er verbeugte sich vor der Kaiserin, ergriff flüchtig die Hand, die sie ihm reichte, und grüßte seitwärts blickend Herrn Chevreau leicht und hochmütig.

Die Kaiserin ließ sich auf ihre Chaiselongue nieder, der Prinz blieb vor ihr, die Hand auf die Lehne eines Sessels gestützt, stehen und sprach in seiner kurzen, scharfen Betonung mit vor Aufregung zitternder Stimme:

»Ich komme zu Eurer Majestät, um mir Aufklärung zu erbitten über all die Gerüchte von Unterhandlungen, – von Friedensschlüssen – welche durch die öffentlichen Blätter ihren Weg machen. Ich halte es für notwendig, Eure Majestät darauf aufmerksam zu machen, wie gefährlich es gegenwärtig wäre, wenn Sie mit dem Feinde in Unterhandlung träten, – gefährlich für den Kaiser – und uns alle – die wir zu seinem Hause gehören.« »Ich kann Ihnen die Versicherung geben, Monseigneur,« erwiderte die Kaiserin stolz und kalt, »daß die Gerüchte von solchen Verhandlungen, soweit sie mich betreffen, vollkommen unbegründet sind. Die Interessen des Kaisers und seines Hauses werden in meinen Händen, denen der Kaiser sie anvertraut hat, auf das beste gewahrt. Eure Kaiserliche Hoheit können darüber vollkommen ruhig sein.«

»Ich bin es nicht, Madame,« erwiderte der Prinz kurz und schroff, »und ich habe das Recht, scharf auf die Wahrung der Interessen des napoleonischen Hauses zu sehen. Der Kaiser ist gefangen, der kaiserliche Prinz ist minorenn, und ich bin daher der erste Vertreter des kaiserlichen Hauses, mithin verpflichtet und berechtigt, dahin zu wirken, daß während der Gefangenschaft des Kaisers kein Fehler begangen wird.«

»Eure kaiserliche Hoheit täuschen sich,« sagte die Kaiserin, »wie ich glaube, denn der Kaiser, mein Gemahl, hat bei seiner Abreise von Paris mir seine Rechte übertragen und mir Vollmacht gegeben, in seinem Namen zu handeln, und auch heute noch gilt diese Vollmacht, heute noch halte ich jenes Recht in meinen Händen, – auch bin ich umgeben von treuen und zuverlässigen Ratgebern, und wenn Sie, Monseigneur, sich diesen zugesellen wollen, so wird gewiß in allen Fragen Ihre Ansicht und Ihre Meinung als diejenige des ersten Prinzen von Geblüt die ihr gebührende Beachtung finden.«

»Ich zweifle nicht an der Vortrefflichkeit der Ratgeber, welche Eure Majestät umgeben,« sagte der Prinz, »obgleich es dem Kaiser nicht besonders Glück gebracht hat, den Rat derjenigen zu verschmähen, welche durch die Bande des Bluts ihm am nächsten stehen, und sich mit Fremden zu umgeben, die es dahin gebracht haben, daß ich hier im Exil vor Ihnen stehe, Madame.«

»Wenn auf irgend jemandem eine Schuld liegt, Monseigneur,« erwiderte die Kaiserin, »so ist es ausschließlich Sache des Kaisers, diese Schuld zu prüfen, diesen Vorwurf auszusprechen. Ich halte mich dazu nicht für berechtigt und bin auch nicht imstande, Eurer kaiserlichen Hoheit ein solches Recht zuzugestehen.«

»Ich aber, Madame,« rief der Prinz, »nehme dieses Recht für mich in Anspruch. Ich trage den Namen meines großen Oheims, in mir fließt sein Blut, und nach dem Kaiser bin ich das Haupt der Familie, solange der Prinz Louis noch ein Kind ist. Deshalb nehme ich das Recht in Anspruch, es auszusprechen, daß der Kaiser schlecht beraten war. Ich will von dem letzten Ministerium nicht sprechen, welches wie die Eintagsfliegen zwischen zwei verlorenen Schlachten umherflatterte: – das aber sage ich Eurer Majestät, – das sage ich überall – und die Geschichte wird es wiederholen mit lautem Ton durch alle Jahrhunderte hin, daß jenes Ministerium, welches den Kaiser zum Kriege gebracht hat und mit so leichtem Sinn die Verantwortung für dies Unheil übernahm, das jetzt auf uns lastet, daß jenes Ministerium eine Gesellschaft von Blödsinnigen, von Kretins war, und daß der Kaiser wahrlich besser getan hätte, den Rat seiner Verwandten und wahren Freunde zu hören.«

Die Kaiserin stand auf, ihre Augen öffneten sich groß und weit und funkelten und blitzten durch das Halbdunkel des von der Lampe nur matt erleuchteten Zimmers zu dem Prinzen hinüber, und kaum die schönen Zähne öffnend, sprach sie mit scharfem, schneidendem Ton:

»Ich vermag nicht zu beurteilen, Monseigneur, was Sie unter Blödsinnigen verstehen, und wie Sie dazu kommen, für Ihre Unterhaltung in meinem Salon diesen Ton und diese Ausdrücke zu wählen, – das aber weiß ich, daß der Kaiser stets von treuen und ergebenen Freunden umringt war, – welche irren konnten wie alle Menschen, – aber nach sorgfältiger Prüfung in aufrichtigster Überzeugung ihm ihren Rat gegeben haben.

»Und ferner weiß ich,« rief sie, dicht vor den Prinzen hintretend und mit ihren flammenden Blicken ihn durchbohrend, – »ferner weiß ich, daß Sie, Monseigneur, dem Kaiserreich, dem Sie alles verdanken, was Sie sind, stets Schwierigkeiten bereitet haben, – Sie und Ihre Freunde haben nie aufgehört, dem Kaiserreich Opposition zu machen, und selbst heute, da der Kaiser unter den Schlägen des Unglücks zu Boden gestürzt ist, verfolgen Sie uns noch. Ich bedaure,« sagte sie mit schneidendem Hohn, – »daß Sie nicht am vierten September in Paris waren, um uns Ihren Rat in jenem schweren und entscheidenden Augenblick zu geben, – aber Sie waren abwesend an jenem Tage, Monseigneur, – wie Sie es bisher stets im Augenblick der Gefahr waren – zu Ihrem Bedauern, wie ich überzeugt bin –, und wäre hier eine Gefahr zu befürchten, – ich würde gewiß nicht den Vorzug haben, Sie bei mir zu sehen!«

Sie schleuderte noch einen Blick auf den Prinzen, wie er stolzer nicht auf der Höhe der kaiserlichen Macht aus ihren Augen hätte sprühen können, und wendete sich dann zu dem Kanapee, auf das sie sich niederließ.

Herr Chevreau und Herr Fillion standen unbeweglich mit zur Erde gesenkten Augen auf ihrem Platz.

Der Prinz Napoleon war bleicher und bleicher geworden bei den letzten Worten der Kaiserin. Seine Lippen zuckten, Haß und Zorn blitzte aus seinen Augen. Als die Kaiserin geendet, atmete er tief auf, trat einen Schritt vor und schien sprechen zu wollen, – dann aber biß er heftig die Zähne auf die Lippen, als wolle er den Sturm, der in ihm tobte, zurückdrängen, nahm seinen Hut, und mit einer kurzen Verbeugung gegen die Kaiserin, ohne die beiden Herren anzusehen, verließ er das Zimmer.

Die Kaiserin stand auf und seufzte aus tiefer Brust auf, als sei sie von einer Last befreit.

»Er wird nicht wiederkommen,« sagte sie, – »o, das tut wohl, gesagt zu haben, was mir so lang das Herz drückte! – War ich zu heftig? – habe ich unrecht gehabt?« fragte sie dann, sich zu Herrn Chevreau wendend.

»Ich bin stets der Meinung gewesen, Madame,« erwiderte dieser, »daß der Kaiser zu nachsichtig gegen diesen Prinzen war, der niemals weder die Pflichten noch die Würde seiner Stellung begreifen konnte, – das starke Kaiserreich konnte ihn ertragen, – jetzt, Madame, würde er das Verderben der Dynastie sein, – und Eure Majestät haben recht gehabt, ihm ein für allemal bestimmt den Standpunkt anzuweisen, der ihm gehört.«

»Das freut mich,« sagte die Kaiserin, »daß Sie mir recht geben, – Sie werden mir das bezeugen, – Sie wissen, welche Schwäche der Kaiser für seinen Vetter hat. – Doch nun,« sagte sie dann, »lassen Sie uns unser Diner nicht vergessen, – ich glaube, es erwartet uns seit einer Stunde.«

Herr Chevreau öffnete die Tür, die Kaiserin begab sich, von den Herren gefolgt, in den Empfangssalon neben dem Speisezimmer, wo der Prinz, Madame Lebreton und noch einige Herren des Gefolges sie erwarteten.

Die Kaiserin reichte ihrem Sohn den Arm, der Haushofmeister öffnete die Türen des Speisezimmers, und bald setzte sich diese kleine, im Schiffbruch des großen Weltensturms hier in dies stille Asyl verschlagene Gesellschaft zu Tisch, – während der General Bourbaki voll finsterer Verzweiflung die Fahnen wieder zu erreichen strebte, die er verlassen, – während Herr Regnier nach neuen Kombinationen suchte, um das Kaiserreich selbst wider dessen Willen zu retten – und während der Prinz Napoleon voll Zorn und Grimm tausend abenteuerliche Pläne und Gedanken in seinem Kopf umherwälzte.


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