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Abschied

Das Orchester war aufgestellt, im Garten weiterhin, wo er dichter, weniger gestutzt, den Umrissen des Hauses folgte, bis er, nach oben umgebogen, auf dem Hügel verwilderte. Von der ausgesuchten Stelle lag das bekannte Fenster der Front entfernt genug, damit Kundgebungen nicht stürmisch eindrangen. Diese hätte es getan. Man bedenke, daß laute Instrumente nicht fehlen dürfen in einer Kapelle, wie le Cochon sans rancune sie pflegt. Aber der Dirigent hatte die angezeigte Vorsicht begriffen.

Fernand wollte ihn nicht erst zulassen, er verlangte: »Abzug! Was unterstehen Sie sich.« Da der Alte auf den Wunsch seiner Patronne verwies, lehnte Fernand sich vollends auf. »Reine? Das fehlte noch. Sie hat ihre Jugendfreundin genug mißbraucht. Gestern Triumphzug und Raubanfall, beide unter Musikbegleitung. Was ist heute der Sterbenden zugedacht – immer mit Musik?« – »Nur das Ständchen«, sagte der Kapellmeister. »Sie lieben es, um in die Ewigkeit einzugehen. Als meine angebetete Frau starb, habe ich eine Nacht lang ihr ins Ohr gegeigt.« – »Wie Sie wollen.« Auf einmal ließ Fernand von ihm ab, der andere ordnete seine Leute an, wie beschlossen. Das Zusammenspiel erreichte wirklich die von ihm gewollte Zartheit. Das Thema erlaubt es anders kaum, noch weniger die Gelegenheit.

Was ihren schon wieder gealterten Freund betrifft, er mußte sich abwenden, ihm war eingefallen, sie höre vielleicht nicht mehr. Niemand bei ihr, die letzten Neugierigen abgelenkt, weil Musik spielt; ihre Verlassenheit benutzt sie, noch stiller dahinzugehen. »Ihr ins Ohr geigen!« dachte er. »Für mich ist auch das nicht.« Hinter der Front des Hauses war er nicht zu sehen, wie er die Stirn anlehnte und bitterlich weinte. Damit ist er gestillt, für den Augenblick doch. Nicht aber Léon Jammes, der unbedingt fordert, daß sie lebt, bis die Fürstin da ist. Warum die Fürstin? Er selbst ist da und wird den Platz nicht räumen. Leben soll sie für ihn, sie wird leben.

Er fühlte eine Kraft, die er nicht kannte. Wäre sie soeben verstorben, er hätte sie auf erweckt. Es währte die Strecke bis hinein und auf die Treppe. Uber die Kraft gebot er zwei Minuten: das war viel arges Glück. Abwärts, ihm entgegen stiegen zwei bescheidene Männer. Warum nicht auch Alain von der Bank; aber stürmisch wie der Marsch begonnen, kommt man an keinem Alain Messager vorbei: der ist zu demütig, einen herrisch Leidenden gemahnt er an den ergebenen Schmerz, den er schuldet. Die drei hielten mitten auf der Treppe, der zweite wies still auf den dritten. »Das ist Edgar, ein Saaldiener aus dem Casino in Monte Carlo. Wir sind verspätet.« – »Ihr habt sie – nicht mehr gefunden?« – »Doch. Vielleicht sind wir die letzten.« – »Ihr war es recht«, sagte Léon Jammes, während er mit den beiden Dienern wieder umkehrte. Hatte sie wirklich den Abschied schon hinter sich, dann war es an ihrem trostlosen Anhänger nicht, sie zu betrachten mit dem Auge des Zurückverlangens. Zeit, sich zu verstecken, seine Zunge zu verschlingen oder zu heulen wie ein Hund.

Die Musik hat damals gespielt wie geübt und vorgeschrieben, nur zarter. Das Tempo blieb; mehr als die bekannten Minuten holt man aus dem Stück kaum heraus. »Pavane pour une Princesse morte«, hat der Kapellmeister den Seinen sinnvoll empfohlen, bevor er den Stab erhob. Sieh, daß sie überzeugt sind. Er ist von dem Ergebnis selbst ergriffen. Indes er hier den Takt schlägt, begegnet seinem Gedenken – wie einst ihm wirklich – eine vornehme, ja, außerordentliche Hörerin seiner Konzerte. Er sieht ihr an, daß er ihr Lob zu gewärtigen hat, wenn sie ihn jetzt anspricht. Unbeschadet ihrer eigenen Meinung, wird sie Manieren haben wie mit einem allgemein Anerkannten. Sie ist aber vorbeigegangen.

Klein, verfettet, wer wird ihm auf der Straße glauben, daß er es fertigbringt, über la Valse, von Ravel, hoch oben auf allen Geräuschen des Wiener Hofballes, dieses geheime Schluchzen erscheinen zu lassen. Ganz recht, es kam und ging zauberhaft, keiner macht das seither. Sie hat den Kleinen nicht beschämen wollen, sie schritt vorbei. Dafür ist er heute zu ihr gekommen: Vergeltung, Wiederbeginn. Er, der musikalische Leiter eines Nachtlokals, die Patronne, aus Haß oder Liebe, schickt ihn, nun gut. Sie dagegen, groß von jeher, seit gestern ein volkstümlicher Ruhm, fremdartig auch, aber das bleibt man aus Gründen immer – sie stirbt heute unter einem Aufsehen, wie Monsieur Laplace de Revers erst noch zeigen soll, daß er stirbt.

Er selbst kommt zur Zeit, das weiß der Musikmacher. In ihren letzten Träumen vernimmt sie ihre Pavane. La Valse desselben Komponisten schluchzte hoch oben, über Tumult und Glanz. Ernst ohne auffallendes Gefühl schreitet unten um ihr Bett der Tanz für eine tote Prinzessin, diesmal will er sie entführen. Was sie zweifellos auch wahrnimmt, wenn man ihr zusähe. Hier ist sie allein, ist allein wie nie. Sie atmet, hört, atmet. Die Pavane trägt sie, ihr Atem ist leicht, eines leichteren gedenkt sie kaum, seit Klostergmund. Das Leben war schön, und gut ist, wie es endet, zurückgezogen in den Hintergrund des Bewußtseins, wo gar nicht wenig vorgeht. Die Pavane würde mit halbem Bewußtsein nicht wiedererkannt? Aber solange sie spielt, die Vergehende fühlt es, ist ihr Atem vor Aufruhr gesichert, und das kann für immer sein. Diese Leichtigkeit! »Ce qu'il fallait avoir, c'est la facilité. Es scheint, man hat sie zuletzt.«

Ihre Haltung auf dem Kissen war geblieben, wie la Sœur Philomène sie geordnet hatte. Das kleine blasse Gesicht, ein weißer Schatten zu der bald abendlichen Stunde, neigte sich rechts gegen die Hand, die an der Wange ruhte, ohne sie zu halten. Die schmalen Finger, gebogen wie um niederzutropfen, hielten nichts. Das Wesen lächelte, weil es lebte, aber geheim, nach einem Schlaftrunk, wenn nichts mehr schmerzt. Die Lippen wurden mehrmals bewegt. Mado, auf ihrem Posten hinter der Tür des Badezimmers, bezweifelte die Lippen, es kann nicht sein, daß sie sich rühren. Auf einmal sah sie auch die Wimpern sachte zittern. Man sucht nach ihr! »Me voici, mon adorée«, dachte sie lautlos. Die andere hatte lautlose Lippen, die aber tätig waren. Sie diktierten.

Zurückgezogen in den tiefen Hintergrund seiner selbst, wird auch nie mehr hervorkommen, wiederholt jemand noch immer sein Leben, erklärt, rechtfertigt und bekennt, wünscht all dies aufgezeichnet, vielleicht in einem Brief. Wer sollte ihn aber verstehen? Die Gedanken fliehen, verwickeln sich, wenden sich auch und grüßen – wen? »Liebe Schwester«, sprach der Traum. Die Empfängerin wäre dann die leibliche Schwester der Träumerin gewesen. Wer das Diktat aufnimmt, soll die defekten Memoiren eines einschlafenden Gehirns in verständliche Sprache fassen. Die Schwester hätte gelesen: »Ma chere Marie-Lou, désormais vous n'allez plus médire de votre pauvre sœur, décédée. Vous aurez raison de penser qu'elle ne fut ni méchante ni bonne, ayant eu de la facilité pour bien des choses, hormis l'art de vivre. Alles wurde ihr leicht, das Gute, das Böse, nur nicht die Kunst zu leben. Haben Sie es?« kam zwischen hinein die Frage an den aufnehmenden Sekretär. Indessen stand er im Garten, die Stirn an das Haus gedrückt.

Der Traum sprach: »Sehr jung war ich, als du mir schon ansahest, daß ich es bis zu dem Rang einer Sternkreuzordensdame niemals bringen werde. Es verstimmte dich, obwohl du schon damals vorgehabt hast, mich zu überholen. Ich machte es dir leicht, ich war nicht ehrgeizig. Ein sehr großer Fehler. Dich verstimmte, daß ich den Wettbewerb ausschlug, anstatt trotz Widerstand besiegt zu werden. Dies währte, bis du für endgültig hinnähmest, deine, nicht meine Natur sei der Erfolg. Meine, wenn ich mich beim Sterben noch schämen soll, war der Hochmut. Die Ehren der Welt nicht anstreben ist Hochmut. Ich, nicht meine Schwester, die Sternkreuzordensdame, war die Hoffärtige. Der Kaiser, der Herr unserer Wirklichkeit, hat mich gleich erkannt, da ich vor seine Füße stürzte. Romantisch, so sagte er, als ob er spräche: Rebellin.«

Die Träumerin atmet schwach, aber gelassen, ihr Gesicht bleibt verklärt. »Siehst du, daher mein gestörter Atem, meine Mühen, ihn zu ordnen. Vertane Kraft – außerhalb des Opportunen; wer kann wissen, wie ungewöhnlich viel Kraft man gehabt haben muß. Mein versagender Atem quittierte für ein Leben, das vielleicht mißverstanden war. Auch reich könnte es gewesen sein. Marie-Louise, ma sœur bien-aimée, tu m'as vaincue et bien vaincue, est-ce là une raison pour me haïr? Aussi m'aimes-tu. Von euch Sternkreuzordensdamen sind nur drei noch übrig, euer gealtertes Dreigestirn: ich fehle. Du bedauerst es. Mußt du allein sein, dann wärest du es gern mit mir, bevor es endet. Wir dürfen uns wieder lieben. War es doch von Haus aus, mit allem was uns bevorstand, daß wir uns liebten so gut wie haßten.«

Bei dem Signal Liebe wendet sich die schon Verabschiedete zurück nach dem je Geliebten. Aber das ist viel. Selbst sowohl groß wie gering, hat sie Geringes und Großes geliebt. Ob sie Selbstachtung vorbehielt oder sich gemeinmachte, hat sie ihrer unwiderstehlichen Stimme erlaubt, Liebe zu erobern. Dies bis in die Jahre der Einsamkeit, als ihre eigene Liebe ein verklungener Name, Fernand, war. Ja, bis gestern, denn wieviel unbegreifliche Liebe empfängt sie seit gestern. Da ist der unerklärte Punkt. Womit verdient sie Frédéric, Estelle, den zurückgekehrten Fernand, die Wirtin Riquois und Reine, auch Reine, mitsamt Léon Jammes, dem Empörer Vertugas, der bürgerlichen Vogt. Folgt der Aufmarsch der Bescheidenen, der Diener, Arbeiter, armen Mädchen, wie sie noch heute vorbei an diesem Sterbebett zogen. Eine große Liebe, von den späten, bleibt und verweilt. »Nur Zeit, sie zu erwidern! Ich hab es immer versäumt. Frédéric? Estelle? Ihr kehrt nie wieder. Ich bin mit Schuld bedeckt bis an den Mund. Erst diese Nacht, ce sinistre réduit unter der Treppe, übereinander lagen zwei meiner Opfer. Mado, so komm doch du!«

Mado verweilt, wartet, sie liegt sogar mit dem halben Leib über einem Tischchen, das sie herbeigezogen. Seit die Wimpern sich wirklich rühren, zweifelt sie nicht länger, daß sie gemeint ist und gebraucht wird. Unwert, sie weiß sich unwert, aber allein zugegen. Recht hat, wer da ist. So schnell wie geräuschlos, da es im Traum und Fieber geschieht, hat sie den kleinen Tisch bereitgestellt – geheiligte Dienste hat der Tisch auch schon leisten dürfen, wie sie. Das Hotelzimmer schwankt, dies könnte ein Schiff sein. Sie aber wirtschaftet und tut Dienst. Von dem Kamin herab fühlt sie sich angeblickt. Auch die Tänzerin Thais ist mit Recht da wie Mado, beide haben teil.

Mado soll nachschreiben, was die Sterbende denkt. Sie sucht, fühlt sich angeblickt von Thais – richtig, hinter dem weißen Rücken der Büste findet sie Schreibzeug. Wieder liegt sie über den Tisch gestreckt. Sie versucht zu buchstabieren, Worte, die auf den stummen Lippen eines kleinen blassen Gesichtes dennoch erscheinen und zittern. Lies sie, du wirst verzaubert sein, schön, gut, glücklich. Es mißlingt. Auf einmal scheint es zu gelingen. War es dies? Sie ist in Träume eingeladen, sie zu erraten. Beinahe hätte sie das Wort von den Lippen gelesen, aber es verschwimmt, ist aufgelöst, genau wie eine Schrift in Träumen. Bleibt nur, die Augen zu schließen. Das Unerkannte, um das gerungen war, wer weiß, wenig später ergibt es sich ohne Bemühen. Das Papier steht leer bis jetzt, nur eine Träne ist allerdings darauf getropft.

Haben die schlagenden Wimpern ihr wenigstens einen Blick der geliebten Augen gegönnt? Mado ist nicht mehr sicher, ob man Kenntnis hat von ihr und ihrer wunderbaren Anstrengung, die sie aufzehren müßte, wenn sie dauert. Aber still, Abschied nimmt deine Heldin, die nur ein Schimmer auf einem Kissen ist. Dieses Wohlbefinden und leichte Sterben, begleitet von geahnten Erkenntnissen und sanfter Musik, kann sich keine zwei Minuten hinziehen. Die Sterbende weiß es. »Eile, Lydia, ich höre dich«, hat die Schwester, näher, bald ganz nahe, ihr zugesprochen, da sammelt sie ihre geheimsten Kräfte. »Tu m'écoutes, Marie-Louise. Tu n'es plus fatiguée de mes divagations. Souvent elles t'excédaient. Sache donc qu'à travers mes vicissitudes j'ai continué de faire mes prières. Jeden Abend, wie immer es mit mir stand, habe ich gebetet. Ich betete nicht um die Gnade der Armut, des Verzichtes, des Selbstvergessens. Ich betete für dich und mich um eine bessere Zukunft, ungeachtet ich wußte, wir hatten keine Zukunft. Aber ich betete auch um einen leichten Tod, für mich und dich. Ça, du moins, collait. Je te lègue ma prière toute exaucée. Wir sterben gut, je t'en fiche mon billet.« Immer das verklärte Gesicht, ein belustigtes Lachen geschah tief innen.

Mado konnte es unmöglich hören. Was sie hörte, war der Atem, ein freier Atemzug, der glücklichste des Tages. Ihre Herrin war glücklich. Dieses Zimmer, vom Abendschatten schon eingenommen, hatte Sekunden, da es flirrte und blitzte vom Glück – der Herrin, der Dienerin, des Lebens selbst, mitgerechnet seinen letzten Akt, wie er stattfindet. Die glückliche Lydia, die nur die Minute hatte, diese Minute, sprach ihrer Marie-Lou ins Ohr, was sie noch Gutes wußte von ihnen beiden.

»Liebling«, sagte sie in der neuen Vertraulichkeit der Ausgelebten, Fernen, die um so näher als Schatten und dessen froh ist. »Ma Chérie«, sagte sie, »wie gut, daß dein Herz jetzt Demut kennt, nach viel erfülltem Ehrgeiz; der enttäuschte zählt doch immer für mehr. Ich, die keinen hatte, bin von meiner Enthaltung nur stolz geworden. Unser Haus darf zufrieden sein. Du wärest mit mir zufrieden. Der Kaiser wäre es. Er sagt nicht Rebellin zu mir, auf meinen Knien lieg ich nicht. Du Sternkreuzordensdame hast es gelernt, aber wo kniest du? Vor wem? Ich sehe dich. Ich darf dich nicht mehr sehen. Meine Schwester, lebe wohl!«

Hier schrieb Mado auf ihr Blatt diese Worte, wie immer sie zu ihr gedrungen waren: »Ma sœur bien-aiméee, je te dis adieu à jamais.« Hinzu fügte Mado: »À Madame la Princesse Marie-Louise de Vigne, née Comtesse de Traun, en son hôtel, à Bruxelles.« Inzwischen hat die ganz Verabschiedete in ihrer tiefen Stille nur eines gedacht. Angenommen sei, daß ihr Gehirn nicht vorher entschlief, dann dachte sie, in der Mundart ihrer Kindheit: »Hoffärtig war i halt.«

Ihr letzter Seufzer ist nicht gehört worden. Ein Schuß krachte.


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