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Einsame Fahrt

Geräusche des Aufbruchs weckten sie. Beifall klappte nach, über den gerührten Dirigenten glitten endlich die Falten des Vorhanges, das Leben in Gestalt eines Publikums sickerte ab, es verlor sich hinter dem Ausgang ins Weite. Sie wendete den Kopf: der Unverlierbare war da. Schräg hinter ihr, in der folgenden Stuhlreihe saß er, hatte gewartet, bis sie erwachte und von ihm Kenntnis nahm. Hierauf sagte er: »Ich bin glücklich wieder da.« Die Ironie, wenn es Ironie war, ließ sie unerwidert.

»Ich habe nicht erwartet«, sagte sie, »daß Sie ausbleiben würden; und wenn Sie verschwänden, des Geldes war ich gewiß, es kommt wieder. Le voilà.« Sie nickte nach seinen beiden Ledertaschen, jede noch größer, noch voller als die andere. Sie ruhten schwer in seinen beiden Armen.

»Ich übernehme die Verantwortung«, entschied er, diesmal glaubwürdig und ernst. »Mir wäre wohler, der Hopfensack läge im Safe. Heute abend nicht mehr zu machen, was immer ich auf den Banken versprach. Ich fand nur, anstatt des Sackes, diese anständigen Umhüllungen. Eine Krone macht sie kenntlich«, sagte er ohne Betonung und nahm seine Hände fort. Wirklich sah sie zwei eingepreßte Kronen, golden, jede mit neun Zacken.

»Hat er mir zeigen wollen, daß er mich kenne?« fragte sie sich. »Daher die gekrönten Mappen, die er eine Stunde lang gesucht hat?« Sie antwortete sich selbst: »An die Absicht glaube ich nicht. Seit dem Morgen ist er verwandelt, aber das kommt von selbst. Er hat sich nicht vorgenommen, bescheidener zu werden. Er ist es mit oder ohne Willen, wie er jetzt zuverlässig ist. Nun ich reich bin, bezwingt es ihn, wie die Pressephotographen. Da ich Geld habe, gebühren mir neun Zacken, gleichviel, ob ich unter ihnen zur Welt kam. Davon muß er nichts wissen, braucht mich niemals gekannt zu haben.«

Dies ungefähr gesichert, verlangte sie aufzubrechen. Alsbald schnellte er vom Sitz. Sein Gepäck war kein Grund, ihre Person zu vernachlässigen. Er half ihr auf, ohne daß es nötig war, hatte mit zwei Aktenmappen dennoch einen Arm, den er ihr reichte. Geleitete sie nach der Halle, wo er, schon wieder bescheiden, ihre Wünsche abwartete. Vielleicht, weil sie müde war und ungern weiterging, sagte sie: »Ich könnte drinnen weiterspielen. Die Überraschung, wenn ich gleich jetzt das Geld zurückbringe! Die Klügsten täten es nächstes Jahr. Warum Zeit verlieren«, schloß sie, ganz und gar für sich. Das vorige war auch nicht gerade ihm bestimmt gewesen.

Er dagegen sagte, als hätte er nichts gehört: »Dieses Mal gebe ich Ihnen keinen Sack zur Bewachung, indes ich den Wagen hole. Er steht schon draußen.« – »Ah?« machte sie, ohne nach ihm umzusehen; sie hatte sich in Richtung der Spielsäle gewendet. »Hiergeblieben!« befahl er, bleich und verzerrt. Hier betrachtete sie ihn neugierig, lächelte nachsichtig, obwohl mit Spuren von Verachtung, und setzte ihren Gang fort. Er blieb am Fleck.

Neben der hohen Tür stand Edgar, der Diener, im Winkel und allein. Er trat nicht vor, als sie näherkam, aber er verneigte sich zeremoniös. »De l'aspirine. Madame la Comtesse me l'aurait demandé beaucoup plus tôt, qu'elle l'aurait quand même eue.« Er hielt ihr die kleine Rolle hin, auch das Glas mit Wasser.

Alles war längst bereit, wie damals. »C'est un recommencement?« Der sanfte, gebrochene Ton! Der Alte neigt die Schultern nochmals, als ein Diener nicht: ein Vater, schonungsvoll. »Jetzt sind Sie reich, jetzt ruhen Sie!« – »Vom Leben«, ergänzte sie und berührte seine Hand. »Wir beide verstehen uns. On se comprend, nous deux. On s'est toujours bien compris«, sagte sie ruhig, ohne weitere Absicht von Gefühl. »Sie bemitleidet sich nicht«, sah der alte Freund, recht erleichtert. »Froh ist sie auch nicht«, sah er. »Wenn sie das Geld gleich wieder zu verlieren wünscht, ich will sie lassen.«

Was Edgar aussprach, war nicht dies. Er erfuhr es erst während seiner Worte. »Madame a toujours eu l'affection des gens au dessous d'elle. C'est une qualité, Madame m'excusera de le dire, et de vous prier: n'y revenez plus.«

»Ich soll nicht mehr herkommen? Sie wollen, daß unsere neue Bekanntschaft gleich wieder aus sei? Sie sind hart mit mir, Edgar, obwohl Sie mich ansehen und zu mir reden wie der Schloßverwalter, als ich ein Kind war. Er hieß nicht Edgar«, setzte sie hinzu, denn es wäre ihm unangenehm gewesen. Sie sagte, was er gern hörte und auch sie nicht ungern.

»Sie werden mich manchmal sehen. Pas trop souvent und nicht daß ich spiele. Je serai sage. Mais je vais reprendre une villa, par ici. C'est vous qui en trouverez une à mon goût. Wer kennt mich wie Sie. Ja, in der Villa, die Sie mir aussuchen, will ich wohnen«, wiederholte sie, ganz glücklich, daß sie es glaubte und daß er es für wahr nahm. »Que Madame compte sur moi« – er lachte froh, war er doch nahe daran, ihr das Leben zuzutrauen.

»Comme je serai sage, mon ami Edgar ne fera pas d'histoires.« Ihre Stimme schwang überaus lieblich, er konnte, was sie sonst tat, unmöglich beachten. Er würde sie wohl verhindert haben, etwas in seiner Brusttasche zu versenken. Der Hand, die sie hervorzog, sah er nach und wurde ernst. Er fühlte auf seiner Brust den Packen Scheine, sie hatte Geld aus ihrem Beutel gezogen, als sie die Rolle Aspirin hineinlegte. Vor ihm hatte sie das tröstende Andenken verborgen, solange sie von der Villa erzählte und mit ihm lachte. »Fini de rire. Plus de villa«, denkt er, während sie schon dahingeht. Ein Abschied, Edgar ist traurig.

Der andere, kein Freund, nur ein Rätsel, war hier nicht mehr zu sehen. Dafür stand draußen der Wagen, eine große, durchaus herrschaftliche Limousine, er konnte sie in diesem Augenblick gekauft haben. Eigenmächtig, aber danach fragt man nicht.

Der ansehnliche Chauffeur hielt die Kappe gezogen, seiner Patronne öffnete er den Schlag wie altgewohnt. Sie stieg ein; von der anderen Seite ihr unverlierbarer Begleiter. Ihren Blick erwiderte er mit der Berufung auf seine beiden Ledertaschen. »Wer sollte sie tragen – und sie verteidigen, wenn es sein muß?« Dies auf englisch, mit französischem Akzent, während sein Französisch vom Beginn an einen amerikanischen Anklang verraten hatte. »Verraten oder vorgetäuscht?«

Sie legte den Zweifel zum übrigen. Mit ihrem Wagen, Chauffeur, Sekretär und Geld standen die Dinge für sie nur wenig anders als damals für den Kohlenträger des Marchese del Grillo. Er wird von seiner Herrlichkeit erwachen, wird nachher seinem Traum mißtrauen – nur, daß er weiter Kohlen trägt. »Ich nicht«, sagte sie und mußte lachen. Da fuhr der Wagen schon durch Condamine, und die Straße erglänzte.

Die Schiffe im Hafen von Condamine zündeten, eins nach dem anderen, immer mehr Lichter an. Zur Rechten die vorderen Hotels beleuchteten sich stattlich. Das ergab der Farben viele und ein üppiges Nachtblau der Luft. Die weiße Yacht dort, so blank und gepflegt, daß ihr Rumpf alle Töne widerspiegelte, entzückte lange den Blick dieser Fremden. Ja, fremd meinte sie zu sein, Gast einer Landschaft, die sie entdeckte, in der sie fortan gewohnt und geruht hätte. Gesetzt, alles vorige wäre etwas anders verlaufen – was nur eine leichte Wendung erfordert, an einer unbekannten Stelle des Lebens. »Wir könnten anders sein.«

Ein einmaliges Wissen durchdrang sie so innig, daß es schmerzte. »Was ich war, was ich mir nachgiebig erlaubte zu sein, hatte auf mich kein Vorrecht. On a pris le pas sur moi. On s'est emparé du tabouret qui me revenait.« Sie sprach von sich als von einer anderen und als habe die andere sie selbst benachteiligt, habe ihr den Vortritt gestohlen, sich auf das ihr bestimmte Kissen gesetzt.

»Mit Leichtigkeit wäre ich eine andere gewesen, unter uns Traun, die zahlreich waren. Wir hatten Blut des ganzen Europa, ich sollte gewählt haben, wohin mit mir, oder vor meiner Geburt sollte gewählt worden sein. Was nur? Mein letzter Bruder hat im vorigen Krieg den Johanniterzug über sich gehabt. Nachher, jenseits des Ozeans, heiratete er eine Erbin, die das Geschäft der Ehe gründlicher verstand als ein Graf Traun. Armer Erhardt, geschieden und abgefunden verschwand er aus der Welt. Hatte er den Mut verloren? Hat auch mir eigentlich nur der Mut gefehlt?«

Zwischen ihren Augenbrauen höhlte das Nachdenken die Stirn aus. Ein Scheinwerfer auf dem Wasser schickte seinen Lichtstreif in den Wagen und unter ihren Hut; er entblößte ein sehr weißes Gesicht. Plötzlich fiel ihr ein, umzusehen nach jener Yacht in Condamine. Oh! dahin. Verschwunden, als wären es zwanzig Jahre.

»Aber meine letzte Schwester! Sie wenigstens erhält sich am Hof von Belgien. Le prince son mari se fit tuer pour elle. Sie behauptet sich. Mich liebte sie nicht, obwohl Léon Jammes es anders weiß. Das wäre neu. Es scheint, mein Wandel schadet ihr, mehr als ihr eigener. Sie liebt nicht die ich bin, würde mich aber anders ebensowenig lieben. Als ein junges Mädchen war sie eifersüchtig, auf meine Stimme, und auf mehr. Noch voriges Jahr wollte sie mich entmündigen, fortbringen, einsperren. Wer hat es verhindert? Doch nicht der Mann des Deuxième Bureau, ein Informateur? Problem.«

Sie fand: »Kein sonderliches – du moment que je suis sûre, et bien sûre, d'être sans protecteur. Einen Beschützer habe ich nicht. Wer bekümmert sich um eine Frau, die nur spielt, mit sich und dem Leben. Denn ich war nicht ernst. Im besten Fall lebt eine Fremde unter meinem Namen – welcher Name? –, und ich bin die Fremde. Tiens, c'est en Toscane que j'eus la révélation d'être moi-même. Ein Zweig der Familie bestand dort, noch zu meiner Zeit, so erfuhr ich, wer ich bin. Meine Tante Raminga liebte mich, als ich klein war und sie uns besuchte in Klostergmund.«

Stille. Ein Gedanke, »meine Stimme war ihre«, wiederholte sich ein über das andere Mal. Verstand sie sich selbst? Oder ließ einen unbegriffenen Gedanken kommen und gehen? Endlich dachte sie, als ob es laut wäre: »Die hat mich geliebt! Sie sagte, ich habe ihre Stimme. Wer uns hörte, sagte: sie haben nur eine Stimme. Wer es nicht hören mochte, wurde schlechter Laune; Marie-Lou, jetzt von meinen Schwestern die letzte, wurde anzüglich. Niemand ist gegen sie aufgetreten, weder mein schweigsamer Vater noch meine Mutter, die bald ganz verstummte. Gut, ich will aus Toscana gekommen sein, warum nicht auch dorther. Es ist Unsinn, eine Unterschiebung hat nicht stattgefunden. Pourtant l'identité est interchangeable.«

Der Wagen fuhr vorüber an der Stadt Villefranche, die von außen nicht viel sehen läßt. Drinnen ging man in überwölbten Straßen, das Tageslicht sickerte bleich hinunter. Eine Totenstadt – bis wieder ein Schiff landet. Da locken blühende Seeleute hervor, was ruht, die weißen Mädchen in Schwarz, die Juwelenfarben der Flaschen mit Alkohol. Im Hafen, ein bauchiger Kutter aus anderen Jahrhunderten. Sein vergoldeter Umriß war freigebig illuminiert, mitsamt den Masten, woran die ausgespannten Segel von keinem Wind gefüllt wurden. Der bunte Glanz des Filmschiffes lieh ein weniges auch dem dunklen Kriegsschiff dahinter, das nur gerade seine Wachtlichter brannte.

Ein so herausfordernder Anblick verbietet, länger zu schweigen. Ihr wurde bewußt, daß sie noch nicht den Mund geöffnet hatte. Ihr Sekretär oder wer er war, äußerte einen Laut des Erstaunens. Sie erwiderte darauf. »Wie lange mögen Sie hier sein, daß Sie das alte Schiff nicht kennen.« Hierauf schloß ihr Ohr sich von selbst, sie hörte ihn nicht sprechen; wozu, er log doch. Ihr Sinn befand sich, wie vorher, auf Reisen.

Er dagegen äußerte nicht die geringsten Tatsachen, die ihn genötigt hätten, sie umzuarbeiten, damit sie präsentabel wurden. Er erinnerte einfach daran, daß sie selbst so wenig Zeit gehabt habe wie er, das Reklameschiff anzusehen – »à moins de négliger des affaires plus intéressantes«. Wobei er deutlich machte, welche Angelegenheiten wichtiger seien: jede der beiden Mappen bezeichnete er mit dem Finger. Er hatte sie nicht von seinen Knien gelassen.

Er sprach weiter. Ihre Abwesenheit bemerkte er noch nicht. Als er Kenntnis genommen hatte, brach er ab und rückte beiseite. Sie befand sich mit ihrem verstorbenen Gatten auf Reisen, in Toscana, wo sie Verwandte, die noch lebten, hätte aufsuchen wollen. Nicht Raminga, »die Umgetriebene«, denn sie war allem Treiben entkommen und war tot. Aber ihre Tochter sollte übrig sein, mithin vielleicht auch ihre Stimme. »Ich wünschte die Stimme zu hören. Damals wünschte ich nichts fest genug: wie hätte ich es vermocht. Nicht ich, Kowalsky war für mich verantwortlich, beschützte mich und verfügte.«

Sie verweilte bei ihm. »Nicht, daß er mich in ernsten Punkten gehindert hätte. Wenn dennoch, dann so höflich. Ich habe den höflichsten Mann geliebt. C'est à contrecœur qu'il me déconseilla ce voyage, er riet nur ab, weil er ahnte, ich würde krank werden, craignant, par ses suggestions d'aggraver le mal. Er hatte recht, obwohl Juli war und der Apennin die herbe Kühle seiner Fichten verbreitet. Abetone: dort oben war Cesira, meine Cousine.

Der Zug fuhr aber durch die schwere Luft von siebzig Tunnels. In dem vorletzten versagte meine Atmung, was auch damals schon vorkam; oder war das Gefühl zu ersticken nur erst verursacht vom Sonnengeflecht?«

Tiefer Blick zurück. »Wie man später sich wiedererkennt: immer dieselbe, semper eadem, verrät mir mein Dichter, Baudelaire. Und immer erstaunt, gerade diese zu sein. Weshalb ich damals am Fuß des Berges ausruhte von meinem phantastischen Anfall, den ich nicht glauben wollte; versäumte aber die Tage. Endlich, auf Zureden Kowalskys, den Berg hinan – und keine Cesira mehr. Plus jamais, ma cousine, vous ne m'appellerez de ma propre voix, en admettant qu'une autre bouche en eût fait entendre une identique. Hast du mit meiner Stimme gesprochen, Cousine, die ich niemals sehen werde? War ich noch einmal und war anders da?« Der Frage hing die Abwesende nach, um zu schließen: »Mais j'ai la fièvre.« Sie lächelte still. Noch eben kühn: »Emporte-moi, wagon! Enlève-moi, frégate!« Schon meldet sich ihr anderer Dichter, Platen. »Wer wußte je das Leben recht zu fassen? Wer hat die Hälfte nicht davon verloren, im Traum, im Fieber …« C'est cela. »… im Gespräch mit Toren.« Hier erinnerte sie sich ihres Begleiters.


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