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Ein anzüglicher Fremder

Das erste Mal geschah es, als Alain unterwegs nach dem Standort des Buchhalters war. Ihr im Rücken, eigentlich über ihre rechte Schulter, die er nahezu berührte, sah sie in das Gesicht eines Mannes. Sie war betroffen, nicht erschreckt; einige Schritte von hier herrschte Verkehr, auch um sie her war es nicht still. Die nächste Tür, eine weiter als das Zimmer des Direktors, stand offen, man hörte die Maschinen seiner Sekretärinnen. Aus Glasscheiben fiel Tageslicht in den Korridor, ohne daß es ihn durchaus übersichtlich machte.

Die Erscheinung hielt sich im Schatten der Wandpfeiler, streckte nur den Hals aus, bereit und willens, ihn alsbald wieder zurückzuziehen. Natürlich konnte jeder beruflich in diese Gegend gehören. Einer war neugierig; benutzte die Gelegenheit, ihr unter den Hut zu sehen, ausführlicher, als er sonst dürfte, auf der Straße. Sie wendete das Gesicht fort, in der Meinung, jetzt werde er genug haben. Überflüssigerweise sprach die Erscheinung. Was der Mann zu sagen wußte, war zwecklos – außer, der Mann wollte einfach ihre Stimme hören. War wohlunterrichtet.

»Madame, Sie kennen mich nicht.« Natürlich nicht, aber was antworten. Sie betrachtet die Tür des Direktors, inzwischen wird hinter ihr jemand es aufgeben. Weg ist er, happé par l'ombre. Indessen hat sie ihn in Wirklichkeit schon einmal erblickt, deutlicher als hier. Es war in voller Helligkeit, draußen unter dem Säulenportal, als die Geschäftsleute hereindrängten. Über ihre Schulter schob sich ein Gesicht, schmal, bleich, mit verschleierten, dennoch zudringlichen Augen. Hier, dasselbe Gesicht, dieser, der zweite Überfall. Auf einmal weiß sie es, vor der näheren Prüfung, die sie nachholen wird. Sie blickt nochmals um.

Der Unbekannte hatte aber die Geduld verloren, auch gut. Plötzlich war er wieder da, jetzt erschrak sie – vor keinem physischen Angriff, der war nicht gemeint. Eine alte Erfahrung, dieselbe knabenhafte Art, sie aus dem Dunkeln zu überraschen, kehrte aus ihrem früheren Leben zum Schein wieder, gespenstisch, wenn man wollte. Aber Zustände wie Menschen ahmen, viel später, einander nach, absichtslos, ohne Wissen davon, daß sie vorzeiten schon da waren. Zum Beispiel, eine Tür, die sie verwahrt glaubte, wird heftig aufgerissen. Vor dem scharfen Luftzug weicht sie zurück, schließt die Augen, hat auch schon über sich den Mann und seine Küsse.

Das alles tauchte hier so unpassend wie möglich auf. Das Erstaunliche war nicht, daß ein fremder Mensch sie erschrecken konnte: sondern die Unterbrechung ihrer inneren Rede an den Direktor währte länger als ihre Überraschung. Entschlossen richtete sie ihren Blick auf die Tür. Dahinter winkte ein endlich gewonnenes Schicksal, ein Wiederbeginn, dessen sie soeben noch sicher gewesen. Natürlich darf man von der Sache nicht abweichen, sich an Dummheiten erinnern und ein zufälliges Gesicht befragen. Das nähme die Geistesgegenwart, zuletzt den Mut. Hinter ihr sprach es: »Einige glauben, daß wir uns kennen.« Dies hätte sie hören sollen.

Sie mußte aber denken: »Geradeso unerwartet spielte Fernand mit allem und mir. Sein Geschmack war in mancher Hinsicht zweifelhaft: das machte ihn reizvoll, für eine mehr als Sensitive. Er war niemals vorauszusehen; von seiner Erziehung, dem guten Geschmack ließ er sich selten bestimmen. Auch das ist eine Anziehung, solange einer nicht mit dem Geld abreist und bis zum nächsten Krieg verschollen bleibt. Da jetzt wieder Krieg ist, könnte auch er sich eingefunden haben und beiläufig aussehen wie der Unbekannte mit dem schlechten Benehmen. Warte ich nicht auf ihn?«

Bis diese Stunde hatte sie ihren alten Geliebten erwartet: das Geld und ihn, das Geld, damit auch er käme. War nicht müde geworden; erst in diesem Augenblick begannen ihre Zweifel. »Fernand und der zudringliche Fremde würden einander ausweichen. Das heißt, der junge Fernand von einst seinem gealterten Nachahmer. Was sage ich, Nachahmer? Da ist kein Zug, der beiden gleich wäre. Ich will mich überzeugen … Schon wieder in Luft aufgelöst«, bemerkte sie, fragte aber, ohne die Stimme zu erheben: »Woher kommen Sie?«

»Dasselbe wollte ich Sie fragen.« Tatsächlich, er war da, machte den Hals lang, zeigte ihr sein ironisches Lächeln, das sie zu gut kannte. Es war ohne Anmaßung, nur dreist und leicht; beiläufig sagte das Lächeln: »Sollen wir noch mehr Unsinn machen? Zu deiner Verfügung, ma jolie.« So ließ sie ihn reden, obwohl er ein anderer war, bestimmt nicht der Knabe von einst, der das Recht gehabt hatte, den Mund zu verziehen, während er zärtliche Worte gab. Sie betrachtete den Fremden, mit einer Gleichgültigkeit, die niemand ermutigen konnte.

Er blieb unberührt, vielleicht zuckte er die Achseln; das Versteck, an dem er festhielt, machte seine Bewegungen unklar. Er sprach: »Da Sie mir zuvorgekommen sind, befriedige ich Ihren Wunsch zuerst. Natürlich bin ich in Geschäften hier. Oder wollten Sie wissen, warum ich mich nicht blicken lasse, außer von Ihnen?« Was ungefähr heißen konnte, daß der Türhüter Alain seine Bekanntschaft bisher versäumt hatte; daß er sich ungehörig hier aufhielt. Sie sprach: »Sie wünschen drinnen nicht angemeldet zu werden. Es wäre auch zwecklos. Die nächste halbe Stunde ist mir vorbehalten. Ich und Monsieur Conard stehen vor wichtigen Transaktionen«, setzte sie wider Willen hinzu. Es war nicht richtig, wie ihr wohl bewußt war, einem Unbeteiligten ihre Angelegenheiten aufzudecken – zu beginnen, als täte sie es. Leider war dieser Mensch imstande gewesen, Zweifel bei ihr zu erregen, den ersten Zweifel sowohl an Fernand selbst wie an seiner versprochenen Rückkehr, ja, an dem Gelde, das drinnen wartete.

Er sprach: »Ich weiß, daß Sie Geschäfte haben. Madame, Sie werden unverrichtetersache dort wieder herauskommen. Noch dazu ist Krieg.« Sofort fiel sie ein. »Was geht es mich an, sobald die Überweisung daliegt? Sie können über mich nichts wissen.« Ihr Ton war nicht ermutigend; von ihren Sachen hatte sie wieder etwas enthüllt.

Seine Antwort: »Jeder sagt mir, daß Sie hier in der Bank das ganze Jahr verkehrt haben. Andere meinen: jahrein, jahraus.« Die Ironie, auch seine bescheidene, hatte ihn verlassen. Aber er entschuldigte nicht weiter, daß er offenbar, hier und sonst, sich über sie erkundigt hatte. Das war nicht neu. »Ich gelte für eine Sehenswürdigkeit, ein Fremder bekommt Auskunft.« Was fiel ihr dann auf? Daß seine Stimme nicht mehr ganz sicher war? »Jahrein, jahraus« – dies hatte er ohne Ausdruck gesprochen, d'une voix blanche. Alles ist möglich; ein Mensch will sie bemitleiden, ist aber um Takt bemüht.

Das wäre dem Jungen, mit dem sie ihn verglich, niemals eingefallen. Was nicht hindert, daß der Neue sie abstößt, allein schon mit seinem Akzent. Welcher ist es, er scheint mehrere zu haben. Drückt man sich aus wie er, sollte man auch seinen Mund beherrschen. Sie haßt Akzent. »Wer nicht hier geboren ist, wird Fehler machen bis ins hohe Alter, oder manchmal bleibt er stecken, das vermeiden gerade die Sorgfältigsten nicht. Dagegen, Akzent? Man hat ihn abgewaschen.« Ihre Meinung oder nicht, hierbei wünschte sie stehenzubleiben. Seine Sprache einmal abgelehnt, wollte sie nicht mehr hören, was er zu sagen hatte. Indessen sah sie in sein Gesicht, als wartete sie.

Er sprach. Er kam darauf zurück, daß er die Ehre nicht habe, ihr bekannt zu sein. Er wisse es, aber anders die Leute. Man nehme an, daß sie einander irgendwann begegnet seien. Warum? Problem. »Gerüchte«, sagte er, »müssen keinen noch auffindbaren Ursprung haben. Er verliert sich im Dunkel …« Wie das Individuum selbst, denn es verschwand wieder einmal hinter dem Pfeiler. Es war der Zeitpunkt, als Alain Messager sich von Monsieur Pigeon getrennt hatte, seinen Rückzug antrat und unterwegs verharrte, weil Kobalt nicht mehr allein war.

Sie erwiderte: »Handelt es sich wirklich um die Meinung der Leute? Wir teilen sie nicht.« Sie ließ unentschieden, ob er hervor aus seinem Versteck sei. Alain dort drüben, sah sie die Lippen bewegen, scheinbar für niemand als sich selbst. »Es wäre möglich, daß alle Gereisten irgendwo in der Welt schon zusammengetroffen sein müssen – außer uns. Sie wären mir sonst auch damals gefolgt und aus dem Grund wie heute. Ihr Geschäft hier, wenn ich recht verstehe, betrifft es mich.«

»Ja«, sagte er. Pause, ihr Atem hatte gestockt. Weil sie ungewohnt lange sprach? Oder war dies ein Zwischenfall, der die Dinge änderte? Welche Dinge? Da sie ihn hinter seinem Pfeiler nicht vor Augen hatte, wurde es ihr leicht, die Einzelheiten seiner Person aufzuzählen, ja, hinter dem Sichtbaren das Wesentliche zu nennen. Sie stellte Betrachtungen an, wie Einsame es gewöhnt sind; aber es währte kurz. Ein Zug des wiedererrungenen Atems genügte für ihre unparteiische Entscheidung, die sie ihm auch mitteilte. »Sie hatten mich beunruhigt, bevor Sie endlich verraten, was Sie herführt. Dasselbe veranlaßt andere, meine Bekanntschaft zu suchen, ohne daß jeder sich Ihre Wichtigkeit beilegt. Man hat mich sprechen gehört, obwohl ich nicht wüßte, wann. Man folgt mir, um mehr zu hören.«

Wo war er? Er antwortete nicht. Ihre folgenden Betrachtungen mußte sie ohnehin für sich behalten. Hatte ein Mann – der Mann, den dieser, ohne sein Wissen natürlich, vortäuschte – sie einstmals gehört, lange, oft, überall und auf dem Kopfkissen gehört, dann mochte sie in der Zwischenzeit gealtert, verarmt, erkrankt sein, er selbst an ihrer Lage die Schuld tragen: nichts hielt ihn auf, aus ihm, ob er wollte oder nicht, hätte die Erinnerung gesprochen. »Du bist es, ich erkenne deine Stimme.«

Dieser hatte sich vielmehr unbefangen gegeben – als der einzige, der nicht um sie zu hören kam, sondern um sich ihr zu zeigen. Warum? Ihr war er noch immer nicht bekannter geworden, im Gegenteil verloren sich gewisse Ähnlichkeiten, der Akzent machte sie unwahrscheinlich. Der Mann war nicht eigentlich anmaßend, als ihr alter Geliebter hätte er es sein können. Oder er hätte seither sich bescheiden gelernt, was entwertet. Das neue Exemplar ist etwas wie ein Mann von Welt, mehr als der junge Fernand gewesen. Welcher Welt? Eine bessere Beleuchtung hätte darüber aufgeklärt.

Er war belanglos. Dahin wurde sie mit sich einig, obwohl er, zugegeben, einen hübschen Mund gehabt hätte. Gewiß, er verzerrte ihn, in der Art wie sein unbekanntes Vorbild. Das Original gewöhnte es sich damals aus Laune an; der Nachahmer konnte nicht mehr anders, übrigens war auch das Profil annehmbar, was nichts bedeutete. Welche Nase hat der erste gehabt? Ein abwesendes Gesicht geht Zug um Zug verloren. Soviel man von ihm weiß, man sieht es nicht mehr. Ganz unsichtbar sind die Toten.

Stirn und Augen – auch hier wie einst, ein soupcon von Intellektualität, was anfangs Leidenschaft verspricht, nur pflegt es zu enttäuschen. Die wahre Leidenschaft für eine Frau sollte immerhin davor bewahren, daß man mit ihrem Geld abreist und sie vergißt. Übrigens, in dem neuen Fall leuchtet kein Witz von der Stirn mehr, dann war auch in dem vorigen nur die Jugend so hell. Kein überflüssiger Kräfteverbrauch findet statt vonseiten der méninges. Die Wahrheit ist einfach: die Stirn des Mannes fängt an sich nach oben zu entblößen. So jung der Mann in seinem Gehaben – gesetzt, daß wenigstens sein Körper nicht lügt –, erinnert er doch an eine abgetretene Generation, die gelebt hat, als man wußte, was dies heißt. Plötzlich schien er ihr kein Fremder; sie empfand, und ein kurzer Anfall von Schwindel bestätigte es ihr, die engste Vertrautheit mit dem Typ. Sie hätte nicht geglaubt, ein Schlag ihresgleichen könnte dem verwandten männlichen je wieder begegnen. Es mußte ein Irrtum sein. Es eilte ihr, den Menschen noch einmal zu überprüfen, jetzt endgültig. Er war da, unter mehr Licht sogar, seit die Tür des Sekretariates weit offenstand. Sie sah, daß seine Kleidung gewählt und vernachlässigt war, das Gesicht gefurcht mehr als vorher angenommen, überdies aber … Sie warf den Hutrand zurück, damit sie den Umstand feststellen konnte. Tatsächlich war er geschminkt.

Er verfolgte ihren Eindruck. Eine Geste bat sie, von Äußerlichkeiten abzusehen. Auf ihre Stimme schien sie sich vergebens berufen zu haben; ihre Betrachtungen waren ihre Sache. Er fragte: »Wirklich, Sie wissen nichts?« – »Was soll ich wissen?« fragte sie, aber er schwieg und verschwand. Denn hier begab sich der Aufzug des Präsidenten Laplace – der Buchhalter Pigeon ihm entgegen, alle Aufmerksamkeit des Hauses nach der Gruppe der beiden gewendet. Monsieur Laplace de Revers änderte die Richtung, er hätte sonst Kobalt gestreift, sie saß am Weg nach dem Zimmer.

Seinen Blick erhielt sie dennoch. Auch Alain Messager bekam einen und vergaß ihn ebensowenig. Kobalt, vonseiten der Passanten gewöhnt an Neugier und sonst nichts, stutzte; angesehen hatte sie der Haß, wenn sie recht verstand. Sie kannte den Haß nicht. Schon war er vorbei und außer Sicht, ihn unzweifelhaft feststellen ging nicht. Sie flüsterte, nicht mehr bestürzt, aber mit peinlichem Staunen: »Was will er von mir? Ich muß gehen.« Sie wiederholte wenig lauter: »Ich gehe. Es ist genug. Der Tag hat falsch angefangen.« Womit sie beide Begegnungen meinte, den mächtigen Herrn, der sie, bis seine Maske fiel, immer übersehen hatte wie sie ihn; und dann – nicht weniger verfehlt – die Wiederkehr des alten Bekannten, der sich versteckte.

Buchhalter und Präsident sind abgegangen, hier bemerkt man nichts von ihrem Verbleib. Alain, der sich unterrichtet, was vorgeht, zeigt den Rücken. Der andere ist wieder da, er sagt: »Sie haben gesehen.« Der, ein alter Bekannter? Wie konnte sie ihn so nennen, nur ihre Verwirrung erklärt es. »Ja, ich habe gesehen, was weiter.« Ihr Ton ist eher hochfahrend, ihn hält es nicht auf. »Manche glauben, daß wir uns kennen. Ich bereitete Sie vor, Sie überhörten es; jetzt sind Sie belehrt.« Sie zuckte die Achseln. »Aucun rapport. Mich muß man verwechselt haben. Oder sind Sie es, den er mit Blicken töten wollte? Sie hatten sich doch versteckt.«

»Weil ich sicher war zu mißfallen, und Ihnen zu schaden«, behauptete er; sie dagegen nochmals, mit ihr habe das nichts zu schaffen. Worauf er zuerst ihr Gesicht prüfte, ob sie wirklich nichts wisse, oder auch, wieviel sie ertrage. Dann beeilte er sich mit seiner Geschichte. Die Klingel hatte angeschlagen, Alain Messager war eingetreten. Endlich eine ungestörte Rede, aber die Zeit ist knapp. »Alles kann ich nicht gleich klarmachen. Nur darf ich Ihnen unmöglich verheimlichen, daß Sie, noch keine Stunde ist es her, in großer Gefahr schwebten. Gehen Sie nicht mehr allein aus!«

»Ich könnte Monsieur Laplace begegnen?« fragte sie. Er berichtigte: »Schlimmer wäre, einem seiner Agenten. Zum Beispiel mir … Ich scherze«, gab er zu, als sie schnell und befremdet seine Augen suchte. Ihre erste unwillkürliche Bewegung; es war ihm gelungen, ihr unheimlich zu sein. »Aber ich übertreibe nur wenig«, sagte er, damit ihr Eindruck anhalte. Indessen war sein Erfolg zu Ende, schon hätte sie ihn aufgegeben, hätte von ihm fortgesehen, da war nur sein zugespitzter Blick. Erstaunlich, wie geschärft er seine Augen einbohren konnte – ein anderer hatte dasselbe vermocht, wenn er zufällig etwas durchsetzen wollte, einen schädlichen Unsinn, oder wenn sie ihm von seinen Flunkereien mehr glauben sollte, als sie mochte.

»Sie übertreiben gar nicht«, sagte sie. »Anstatt mich zu verderben, haben Sie mich gerettet. Das wollen Sie sagen.« Er bestätigte es noch nicht, obwohl er ihre Herausforderung annahm. Ein anderer, eröffnete er ihr, würde sie heute morgen entführt, wahrscheinlich mißhandelt haben. Dann kam es, mit Nachdruck. »Aber ich war zur Stelle. Le Comte X wußte, daß ich ihn verfolgen, ihn niederschießen werde. Er zog vor, auf dem Pflaster auszugleiten, wobei Sie zugegen waren.« Es hörte sich einfach an, weil er aus seinem Leben nur die alltäglichste Begebenheit zu berichten schien. »Sie lügen«, sagte sie ebenso natürlich.

»Immerhin möglich«, gestand er. »Obwohl es wahr ist, daß ich jedes andere Verbrechen eher hätte geschehen lassen.« Sie vollendete: »Als einen Überfall auf mich. Danke. Mir war nicht in den Sinn gekommen, daß man mir nachstellen mochte. Ich glaubte mich ohne Bedeutung für Persönlichkeiten wie Monsieur Laplace und Comte X.«

Pause, bis er raunte: »Ohne Bedeutung, auch für den Agenten Leon Jammes, der drinnen eine Beratung abhält, und sie zieht sich hin? Um wen, meinen Sie, handelt es sich? Nach allem Ermessen um eine Frau, die nicht heißt, wie sie genannt wird.« – »Das bin ich?« wollte sie fragen, aber er ließ sich nicht unterbrechen. »Sie ist Kommunistin, das Unpassendste, was man jetzt sein kann, bei ihr muß es ernst genommen werden infolge ihrer Herkunft und einflußreichen Beziehungen.«

Ihr gelang es einzuschieben: »Die sie nicht unterhält, und Gesinnungen hat sie mehr als eine, dank ihrer Herkunft und den ungleichen Abschnitten ihres Lebens. Einem Spion, der zu viel Falsches kennt, gesteht man besser gleich Tatsachen.« Sie schob mit dem Ellenbogen seine Hand weg, als diese ihr genähert wurde, um abzubitten. Er begann aber, ganz anders als vorher, mit einer Art Inbrunst. »Ein Spion hätte über eine so vorsichtige Person wie die unsere nichts erfahren. Der Polizist dort drinnen weiß so viel nicht. Ich aber habe als Journalist dem Bruder der Frau geholfen. Mein Wort, die amerikanische Erbin, von der er geschieden wurde, hätte ihn finanziell und sozial abgeschlachtet. Seinen vornehmen Anhang in Brüssel habe ich auch interviewt.«

Eine Minute früher würde sie ergänzt haben: »Und beide Male wurden Sie ausgewiesen.« Etwas hinderte sie. Der Mann war jetzt ehrlich, ihr Eindruck von ihm, und was noch alles, war neu zu betrachten. Aber sie schwieg. Er versuchte nochmals: »Unter anderen Umständen wäre Ihre Vergangenheit, Madame la Comtesse …« Er hätte vielleicht beendet: »Unerheblich« oder »Mir allein bekannt.« Indessen wurde von innen die Tür geöffnet, Alain stand darunter.

Sein erstes war eine leichte Verneigung, sie sollte wissen, daß sie empfangen werde. Sie erhob sich nicht; es wäre auch voreilig gewesen. Er trat näher, um vertraulich zu melden: »Noch ein wenig Geduld. Der Herr erwartet Sie, wenn nicht beide Herren. Kaum daß ich Sie genannt hatte, Madame, zogen Monsieur Conard und Léon Jammes sich bis an das zweite Fenster zurück. Bescheid bekam ich, als sie fertig waren.«

»Es ist gut, Alain«, sagte sie. »Nach meiner Unterredung werde ich mich Ihnen zweifellos erkenntlich zeigen.« Er lächelte, ohne betonten Unglauben, nur still. Bei sich selbst erwog sie, daß der anzügliche Unbekannte dennoch das eine oder andere – schwerlich gewußt, aber geschickt erraten habe. Wo war er? Endgültig verschwunden.


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