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Sechster Teil.
Das Sterbebett


Erscheinen des hohen Bildes

Madame Riquois, Besitzerin des Hôtel de Nice, war weder außer sich noch entsetzt. Ohne Erstaunen empfing sie, schon im Vestibül, Léon Jammes, der nicht ausbleiben konnte. Der Concierge mit seinen Tressen war für diesen Tag von ihr entlassen worden. Sie hatte ihre spärlichen, wenig interessanten Gäste auf die inneren Salons beschränkt, hatte um ein respektvolles Schweigen im vorderen Garten gebeten. Eine Schwerkranke, die eine Treppe hoch um den Atem kämpfte, bedurfte nahe ihrem Bett des geöffneten Fensters.

Die Wirtin wie der erwartete Besucher grüßten kaum merklich, ihre übernächtigen Gesichter verstanden einander jedenfalls. Beiden ging es um dieselbe Person, sonst nichts. Er sah angedeutet mit Bewegung und Gebärde, daß es gekommen sei, wie er wisse. Er hatte keine Mühe sich einzubilden, wie Blut, unerschöpflich Blut aus einem Mund, eine Brust herniederfloß. »Madame la Comtesse est épuisée au delà de toute idée. Pourtant eile vit.« Er gab sich einen grob sichtbaren Ruck, um zu sagen, daß der Wille zu leben entscheide. Bei sich meint er seinen eigenen Willen, der sie retten soll.

Der Arzt? Einberufen, der Hotelarzt, aber er hat versprochen, noch zu kommen. »Wenn er nicht schon mit der Micheline fährt«, denkt jemand, indes sie schweigend hinaufgehen. Des Luftzuges wegen stehen überall Fenster offen, im Korridor, den unbesetzten Zimmern. Vor dem allein bewohnten, zwischen Pfosten und Tür, zwängt ein Mensch sich in die Ecke. Kein Eindruck lässigen Anlehnens, die Hände sind verkrampft; gefaltet, würde man sagen, wenn nicht die Knöchel von der Anstrengung bleich wären. Des Neuen ansichtig, nimmt er die Finger auseinander, spannt ab, senkt das Gesicht. Der Neue verhält sich nicht anders. Will nicht gesehen werden. Betrachtet abwechselnd das Bett und den leeren Teppich.

Diese beiden Türwächter haben ein Amt; sie sind eingesetzt von Not und Tod, hatten aber von ihrer Lage nichts vorweggenommen. Madame Riquois, alles. Sie hat die Nacht gesessen und gewußt – wo ihr armes Kind sein wird, wie sie es wird wiedersehen. Sie hat ihm in voller Einsamkeit den gequälten Kopf gehalten, wie nachher, als es ihr wirklich gebracht wird. »Du läßt dich bringen. Du bist versichert, bei wem du es noch diesmal überstehst.« Das hat sie nie gesprochen, wer wäre da, zu hören. Sie ist ruiniert, muß aus dem Haus, ganz sicher, nun Frédéric Conard ihr fehlt: vertrieben hat ihn diese. Aber die Frau desselben Alters hat den endgültigen Anfall der Gefährtin zu dem ihren gemacht, das Blut der Gefährtin überlief auch sie. Als es nachließ, wusch sie die Ohnmächtige und küßte sie.

Jetzt hält sie von der Tür einen Abstand, weniger bescheiden als man meint. Ihre Erfahrung mit dem Unglück, mit der Hingabe an das Unglück bis zur Liebe, ihre Erfahrung gibt ihr einen Vorsprung von tausend Jahren. Die beiden Pfostenhalter leiden unbefangen, zum Erbarmen jung mit ihren vierzig, fünfundvierzig. Die Kranke, nach der sie schüchtern auslugen, schläft, sie verfolgt noch im Schlaf, was sich mit ihr begibt. Ihre Haare sind in dieser Nacht ergraut; auch davon weiß ihr Traum, so denkt ihre vorher ergraute Freundin. »Man muß sie kennen, wie sie sich und mir bekannt ist, nur dann bemerkt man die weißen Fäden unter der blonden Decke, die ich mit spitzen Fingern darüber gebreitet habe. Sie reicht nicht ganz. Schwester Philomène sieht es gewiß.«

Madame Riquois verständigte sich wortlos mit der Nonne, die hinter dem Bett im Schatten stand. Sie war nach dem Anruf im Kloster sogleich gekommen, noch hatte sie sich nicht gesetzt. Die alte Frau hielt, wie ein kleines Mädchen, die Hand unter die Wange: lassen wir sie schlafen. »Wird sie hinüberschlafen?« fragte das Gesicht, es war gefleckt vom Wachen. »Ma Sœur, ist dies das Ende?« Worauf jenes milchweiße ein einziges Mal die Augen schloß – sie aber öffnete, und hatte nichts gesagt.

Die Ankunft des Doktors wurde hörbar. Er verbat sich die Begleitung des Pagen, verlangte barsch nach Eis; von den Stufen nahm er je zwei. Die beiden Türwächter räumten den Platz; sie wählten eine andere Tür, jeder dieselbe, gegenüber, wo sie sehen konnten. Der Rahmen des neuen Zimmers umschloß eine neue Person, sie saß verhüllt und abgewendet, niemand erkannte sie. Drüben begann der Doktor zu agieren. Erste, unausbleibliche Handlung war, die Schwester zu begrüßen. Weiter wurde es ganz unmöglich, ihn aus den Augen zu lassen. Als er den Kopf der Sterbenden vom Kissen – ja, Ruhe, er hebt ihn auf ohne Umstände.

Auf seiner flachen Hand liegt das kleine blasse Gesicht; mit den blonden verwirren graue Haare sich, treffen die Lider, die nichts öffnet. Sichtbar von hier sind die Mühen des Atems. Zu hören – noch eher die Geräusche der Brust, die man abhorcht, als die Stimme. Unheilvoll ist, was in allem Keuchen abwesend bleibt: ein Laut der Stimme. Ein hohes Aufschluchzen diesseits, es bricht von selbst aus, die befallene Person weiß nicht, daß es ihr Wimmern ist. Eine schnelle Bewegung, gleichfalls unbewußt, der anderen beiden, hier gegenüber. Das Mädchen im dunklen Mantel zeigt ein verstörtes Gesicht, von weniger reinem Weiß als der Verband, der ihren Nacken einengt. Léon Jammes aber drückt in der Bestürzung einen Arm, unterhalb einer gebeugten Schulter. »Fernand.«

Der zweite schweigt. »Fernand, wenn sie nicht mehr spräche?« – Der zweite: »Sie hat gesprochen. Sie hat geatmet. Mein Leben hab ich dennoch schlecht verbracht. Sie blicken zurück?« Der erste Freund, der sie scheiden läßt, ist anzüglich, er kann nicht anders. Er hilft seinem Ausdruck nach, es muß sein. Erbarmenswert wird er gerade davon. Seine immer noch überlegenen Mittel fallen traurig ab von dem Nichts, das er ist. Ihr letzter Freund, wer Léon Jammes sonst gewesen sei, in Gesellschaft ihres frühesten soll er zurückbleiben, nun sie scheidet. Er bedenkt, wenn die Jagd der Worte, keine Zeit keine Zeit, ein Denken vorstellt: »Gut, meine Pflicht war – nicht mehr gestern –, ihn zu verhaften; sein Auftrag, längst beigelegt, war einst wohl, mich töten. Wir haben es vergessen. Hier stirbt sie.«

Das Mädchen hinter ihnen flüsterte: »0 warum spricht sie nicht. Sie hat den Doktor angesehen, ich schwöre, ihre Lider gingen auf. Wo ist ihre Stimme!« Das Flüstern bebte, sein dünner Faden riß. Mado à la voix flûtée, bekannt für Lautsein, wurde wieder ganz still, sie verkroch sich in die Kleidung, die Madame Riquois ihr aufgedrängt. Ihr abgeschminktes Gesicht würde keinen Streich fühlen, wo sie wahrhaftig eine wehrhafte Person gewesen. Sie ließ den Doktor, nachdem er den Kopf ihrer Freundin niedergelegt und verlassen, sein grobes Wesen treiben, die beiden Männer beachteten es auch nicht. Alle drei versagten ihre Achtung einem Menschen, der ihr Gestirn nicht liebte wie sie.

Sie fühlten dasselbe, obwohl jedes Herz seine besondere Sprache führte. »Es war die Stimme, weshalb man sie liebte, war aber noch mehr als die Stimme allein. Ihre Unvergänglichkeit, ja, unsere, erwies sich, wenn sie sprach.« Dies von ihrem letzten Freund. »Ich möchte noch einmal geboren sein.« Von ihrer letzten Freundin. – »Du Stern über den Sternen. Du Blume am Grunde eines Gartens, der von ihr duftet, dein armer Fernand will vergehen mit dir, ist aber aus gemeinem Stoff, muß weiter sich selbst ertragen. Wenn ich den kläglichsten Feigheiten doch noch widerstehen lerne, wird es sein, weil ich deinen letzten Tag, ob auch nie einen anderen, mit dir geatmet, und du sprachst zu mir. Lydia, sprich, bin ich verloren?«

Die drei Gesichter waren gesenkt, die Haltung der Figuren zeigte sie abwesend, mit der Einschränkung, daß der vorzügliche Ausdruck des Nichtdabeiseins viel Gegenwart darstellte. Der Doktor hatte seine hauptsächlich patzige Tätigkeit doch einmal beendet. Das Eis war entgegengenommen und unbrauchbar erklärt, la Sœur war belehrt über Verrichtungen, die ihr längst in den Fingern saßen; sie hörte wenig auf die kleine Autorität in Horizontblau, die sich hier zuletzt noch herbeiließ. La Sœur Philomène war stattlich, nicht nur hoch, auch geneigt zur Fülle, gesetzt, sie ließe sich gehen. Aber es gab vieles, das sie ihrem milchweißen Fleisch verbot. Die Augen gesenkt, bat sie für sich um ein Mittel, das ihre Anfechtungen niederschlug. Im Begriff das Rezept zu schreiben, besann der Doktor sich, daß es anders gehe. »Ich kann vor dem Abend nicht reisen. Besuchen Sie mich.«

Die Wirtin hielt sich immer noch bei der Tür, sie hatte den Pfosten umfaßt, von allem sah sie einzig das Kopfkissen, was darauf vorging. Da bekam sie von der unwirschen Autorität ihre Bescherung. »Madame Riquois, jetzt hab ich Ihretwegen eine Patientin bestellt, sollte aber unterwegs nach der Front sein. Was ist Ihnen eingefallen, mich zu rufen.« – »Jemand stirbt«, beschied sie ihn, schon der Treppe zugewendet. Er sollte anderswo sagen, was jetzt kam. Er folgte; nur von fern hätte man ihn gehört. Die zivilen Berühmtheiten verdienten weder, daß man den Arzt rief, noch irgendeine Wichtignahme.

»Was ist das. Sagen Sie sich selbst, Madame Riquois, was das ist. Eine Abenteurerin sprengt die Bank, wird reich in ihrem alten Kleid, aus einer Ruine eine große Frau, regt Presse und Leute auf, macht Skandal in einem Nachtclub, tut, was noch fehlt, mit einem Blutsturz. Wir aber haben Krieg, ein interessanteres Blut fließt.« – »Noch nicht«, warf sie ein. »Doktor, Sie sind bestellt für alle mit Menschengesicht. Jedes atmet. Jedes hat eine Stimme.« – »Nicht Ihre Gräfin«, erwiderte er. »Mein Wort, sie hat aufgehört zu sprechen. Mit dem Atem steht es, wie Sie wissen.« Er stieß ihr seinen Ellenbogen in die Seite. »Sie stirbt Ihnen. Warum erlauben Sie einer Fremden, Ihr Haus zu kompromittieren.«

»Spricht der sonst beflissene Hotelarzt?« Madame Riquois blieb einfach, unberührt. Auch er mußte seinen Ton herabsetzen. »Hotelarzt, war einmal etwas. Hotelbesitzerin auch.« Womit er abging. Dem Pfarrer, der ankam, mußte er ausweichen: der Geistliche trug das Allerheiligste Sakrament. Das Kind im Chorkleid klingelte lauter, der Pfarrer achtete auf seine Schritte, das Sakrament trat ein. Madame Riquois hatte das Knie gebeugt, sich bekreuzigt, sie stellte sich an den Fuß der Treppe, sie erwartete den Vortritt des hohen Bildes, Abglanz des Unbekannten: man sieht nach ihm nicht dreist zurück.

Der Pfarrer fragte über seine Schulter, mehrere Stufen hinab: »Ist die Heilsbedürftige bei Bewußtsein?« – »Sie war es nicht, als ich Sie rief, mein Vater. Ich verspreche, bei Ihrem Erscheinen wird sie es sein.« Woher sie es weiß? Mado à la voix flûtée hat an einer gewissen Stelle gesehen und beschworen, daß Lydia die Augen erhob; nur für den Arzt war sie wieder eingeschlafen. Da nun der Vater mit dem Zeichen, das er trug, auf der Schwelle stand, zeigte es sich, daß Lydia vorbereitet war. Kein Eis umgab sie, der Nacken war an erhöhte Kissen gestützt, die Hände lagen frei auf der Decke; die Augen warteten, was geschähe. Ihr verblichenes Violett hatte gestrahlt zu seinen Stunden, die aus sind. Wenn diese Augen nicht leuchten dürfen, sie schwimmen dennoch in Sonne. Das Fenster hat die volle, noch rosige Sonne. Es ist immer erst sieben Uhr.

Madame Riquois, die sich überzeugt, daß die Kissen sie halten, hört geflüsterte Silben. »L'étole violette.« Der violette Überwurf auf den Schultern des Priesters, er allein würde das menschliche Wesen, das auf ewig versehen werden soll, für die Handlung gewinnen. Es selbst hat teil an dem Bild, das hier wiederkehrt: blasse Farbflecken einer Vergangenheit ohne scharfen Anfang, aber ihr Eigentum, wie ihr Knie. Als sie, noch jung, ihre Mutter, ihren Vater das Leben aufgeben sah, schimmerte auf dem Priester l'étole violette. Als sie, noch klein, in Klostergmund, eine Bäuerin gebären und sterben sah, trat der Unbekannte ein.

»Approchez mon Père, oh! approchez.« Nur die Wirtin unterschied in größter Nähe ein Raunen, rien qu'un soupçon de voix, rauque désormais, à la facon d'une Mado qui se ferait petite. Sollte die Wirtin auf Mado warten, sie kommt, sie hat alles Nötige beisammen, sie ist hinter der Tür, sie schiebt die Hälften auseinander. Das Badezimmer hat einen Ausgang drüben, von dort bringt Mado, feierlich langsam, das rollende Tischchen mit dem Aufbau, Kruzifix, Wattekugeln, Öl, darunter gehäuft die feinen Spitzen des Hauses.

Inzwischen sind über das Fenster die Vorhänge gezogen. Hingekniet sind Madame Riquois und la Sœur Philomène, da der Priester in Funktion hoch die Monstranz hebt. Die Monstranz übernimmt, was bisher die Sonne versah, zu strahlen auf ein atmendes Geschöpf. Schwacher Atem, kurz ausgestoßen; dennoch, die erschienene Person, die einmal und nicht wieder kommt, verlangt keinen Atem, enden sollen die Mühen. Daher werden sie zuletzt noch leicht. Lydia atmet.

Das Tischchen, schließlich bis zum Rand des Bettes gerollt, präsentiert nunmehr in seiner Mitte die große Platte aus reinem Gold; sie ist vom Datum der verewigten Großfürsten und untergegangenen Soupers. Mado ist es, die Monsieur Lescun, den Pfarrer, hinweist; er setzt die Monstranz auf das reine Gold. Bei der Gelegenheit berührt er mit zwei Fingern den verbundenen Nacken des unbestimmten Mädchens, das hier dient, verhüllt von einem Mantel bis auf die Füße; sie stehen in großen Filzschuhen. Nicht ohne ein strenges Interesse ist sein Blick in das früh verwelkte Gesicht, die zerriebenen Reste der Aufmachung. Hinein hängt, unter dem enge geschlossenen Verband des Kopfes, eine gelbe Haarsträhne.

Aber das Kind vor der äußeren Tür rührt sein Glöckchen, der Priester kniet hin wie die Frauen, in seinem Rücken, ungesehen, Mado. Er spricht zwei lateinische Gebete, die Klage zuerst, dann die Verzeihung. Die Nonne begleitet ihn fließend, Madame Riquois zögert, Mado fällt ein. Sie weiß, hat gelernt und immer behalten; übt, was sie kann, nunmehr für eine andere, die sich entfernt, die entlassen wird aus der Welt, wo vieles nicht recht war. Bleibt übrig ein Herz, das von ihr entzückt war, zum Abschied schmeichelt es sich an ihr graues Haar. Monsieur Lescun stellt sein Heiligtum auf reines Gold.

Der Priester hielt hiernach seiner Befohlenen das Kruzifix vor ihr kleines blasses Gesicht. Sie hätte weniger Mühe gehabt, ihre Lippen auf die Brust zu drücken; sie küßte aber zuerst die Füße. Schwach keuchend, verhielt sie sich dennoch überlegt, mit deutlichem Sinn für das Schauspiel, das sie gab. Gab sie es wirklich, dann vielen, die nicht sichtbar wurden; verlangten aber von ihr den Anstand der letzten Stunde. Monsieur Lescun entnahm den Manieren der Sterbenden, daß Madame Riquois ihm nicht zu viel gesagt über ihre Bedeutung.

Tiefer Einblicke war er ungewohnt, übrigens hätten sie in der Praxis gestört. Hier genügt seine Erfahrung, um zu sehen, daß die Frau nicht fromm ist, weder im Glauben noch im Gefühl. Auch ihre Todesfurcht läßt sie spröde. Sie will für alle, die ihresgleichen waren, mit Würde abgehen. Das genaue Einhalten der Zeremonie reiht sie unter die Ahnen, ihren unabsehbaren Anhang aus langen Zeiten. Sie war abgewichen; aber nichts von Widerruf, von Reue, nur Pflicht und Verbundenheit mit dem ungewöhnlich Hohen oder ganz Demütigen: der Gott am Kreuz, das verletzte, verlebte Mädchen. Le Curé de Saint-Roch erhebt keine Einwände – täglich muß er gegen Unwürdigkeiten vorgehen, hier läßt er gut sein, aber sein Schweigen ist verlegen. Die Frau, die ihn beunruhigt, hat jetzt die Augen geschlossen, er weiß nicht ob um seinetwillen.

Die Pause war ungewollt, bis er die letzte Ölung vornahm. Er sah um; wer ihm die Schale mit Öl und auf chinesischem Porzellan die Wattebäuschchen hinreichte, war Mado à la voix flûtée. Ihr nahte nichts von Verlegenheit in ihrem ruhigen Eifer, ehrfurchtsvoll, aber sachlich. Schneller Blick nach der Hauptperson, ob sie Bescheid weiß. Ja, die Lider sind geschlossen. Der Priester berührt diese Augen – die zuviel gesehen haben von der Welt wie sie ist.

Die Augen gehen auf, da hat er die ungefähre Gewißheit, daß niemals Trachten und Begehren sie irr und blind gemacht hat. Erraten, was dunkel bleiben soll, war ihr Mißbrauch. Das zweite, die Nasenflügel, mit ihren beiden Öffnungen nach den groben Sinnen: wer ihnen ergeben wäre, nähert sich wenigstens hiermit dem Durchschnitt, er erwirbt dafür Verzeihung. Der Priester mißtraut den Nasenflügeln, er tuscht darüber hin. Das dritte, der Mund. Aber er wird sprechen, anstatt geweiht und versiegelt werden für die Ewigkeit. In einer Stunde oder in wenigen fehlen ihm die beweglichen Muskeln, er wird der Mund einer Toten sein. Diesen Moment lebt in seinem bloßen Umriß die Stimme, die sie hatte. Der Priester hat sie einst gehört, er weiß es wieder, unvergleichlich will ein Klang zurückkehren, aus der Kirche, wo sie ihm dankte für die Besprengung mit Weihwasser.

Noch hat er die Lippen nicht berührt, vergißt im stillen, was er zu tun sich anschickt: der Mund war rein, von jeher rein. Hat er denn nie gelogen? Eine reine, aber doppelte Sprache führte er, Ironie, verzauberte Heiterkeit, zusammen sind sie dünkelhaft. Monsieur Lescun ergibt sich einem soeben unversehenen Haß gegen Vornehmheiten. Die Aristokratin der Augen, Nüstern, Lippen hätte ihn beinahe getäuscht. Viertens, fünftens die Hände und Füße. Er nimmt das Öl von Mado, ihre bescheidene Miene will ihn dennoch bedeuten, was er finden wird. Nun liegen die beiden Hände übereinander gebreitet, die bleichen Rücken oben. »Ces longs doigts effilés ne me disent rien qui vaille.«

Er wendet sie. »Mais la paume est meurtrie.« Dies ist der aufgerissene, verdickte Handballen einer Arbeiterin. Die Augen des Curé de Saint-Roch sind gesenkt, als er sie salbt. Zu den Füßen. Sie haben gelitten von allen den Wegen der Erde, die sie gingen, aber letztens von der Straße der Illusion und der Not. Gewandert sind sie Tag für Tag herein, um vergebliche Geschäfte, hinaus meilenweit über Stein und Staub, nach billigen Wohnungen. Spitze Kiesel des Meeres, das sie wusch, drangen in die nackten Sohlen.

Genug. Der Pfarrer trocknet seine Hände vom Öl. »C'est tout«, sagt er ohne Vorschrift oder Nötigung, der banale Abschluß soll dämpfen, was in der stillen Handlung dennoch prahlerisch war und nach der Todsünde des Stolzes schmeckte. Er betrachtet, wie es steht. Die Kranke war ruhig gewesen, beherrscht, soweit diese Spanne Lebens es zuläßt. Nach Beendung des Vorganges und ihrer Rolle keucht sie. Kein Vergleich, zum ersten Mal arbeitet an ihr der eifrige Tod, die Rippen eilen auf und nieder, das Herz ist zu sehen, wie es springt. Das Zeichen des Kreuzes über diesen Menschenrest, Monsieur Lescun bricht auf, die Hände um die Monstranz. Bei der Tür und dem Kind, das sein Glöckchen regt, fragt er, halb rückwärts: »Daß ich es nicht vergesse, wie ist der Name?«

Madame Riquois antwortet. Seit gestern weiß sie Auskunft über mehreres. Sicher, mit Nachdruck sagt sie her: »La baronne Kovalsky, Marie-Thérèse Dolorès Lydie Comtesse de Traun, de la maison Traun-Montéformoso.«


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