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Dritter Teil.
Die Bäckerei und das Hotel


Die Stimme

Die Stunde des Mittagessens ist heilig. Unter Umständen, die noch vorauszusehen und menschlich sind, wird niemand sie versäumen oder verlegen, und wenn der Laden voll Kunden wäre. Übrigens kommen keine, die nächste Welle der Käufer erscheint vor dem Abendessen. Jetzt sitzen alle Leute um ihren gedeckten Tisch und haben Brot.

Die Bäckerin, Yvonne Vogt, verschloß eine Minute vor zwölf ihre Kasse. Um zwölf nahm sie in ihrer Küche das Navarin vom Feuer, gedünstetes Rindfleisch in gewürzter brauner Sauce, verbessert mit Karotten. Das Kraut Basilic duftete hindurch und lud ein, die dicke Camille war sofort zur Stelle. Sie holte vom Buffet den Wein, das Lehrmädchen vergaß ihn, wenn sie die Gedecke auflegte. Drei Flaschen vorläufig, für die Männer aus der Bäckerei reichte es nicht, für die Patronne noch weniger. »Na und ich?« dachte Camille Vaury. Daher stellte sie weitere drei Liter unauffällig beiseite; wer sie nicht bemerkte, schonte hoffentlich die ersten. Dem Lehrmädchen zeigte sie das Versteck; Marie, die es kannte, zuckte die Achseln.

»Du hast wieder den Wein vergessen«, sagte Camille für Marie. »Wohl, weil du keinen trinkst? Ich bin sicher, daß du es abends nachholst.« Das dicke Mädchen sprach mit dem schlanken wohlwollend. Maria Piccini, eine sehr junge Italienerin, kupferrotes Haar, die Knospen ihrer Brüste klopfen sichtbar gegen die Hemdbluse – dieser Typ wird nicht lange beim Geschäft bleiben. Schon fängt sie an auszugehen, bis jetzt sind es Angestellte, nicht älter als sie, nur Knaben, die ihr gefallen. Wird bald ein Patron kommen, dann ein Fremder aus dem Hotel und so fort. Bei gehörigem Ordnungssinn, an dem bei Marie zu zweifeln, wäre es eine Karriere, wenn auch keine für Camille. Aber sie betrachtet Marie ohne Übelwollen.

Der Bäcker mit seinen zwei Gehilfen war pünktlich. Er setzte sich neben die Patronne. »Votre apéritif«, sagte sie und mischte ihm eigenhändig einen Amer-Citron, denn sein Magen verlangte diese Fürsorge. Es ist anzunehmen, daß sie ihn hiermit auszeichnete, andernfalls hätte Camille ihn bedient. Er war ein Mann von Mitte Vierzig, mit schweren Augenlidern, aber für Yvonne fand er Blicke von träumerischer Sinnlichkeit. Ihr zu Ehren hatte er über sein offenes Hemd eine dunkle Jacke gehängt. Sie mochte hinsehen, wohin sie wollte, sie traf immer wieder seine nackte Brust, die weiß und wohlgebildet war. Leider fielen die Beine dagegen ab, es waren runde Bäckerbeine.

Die beiden Jungen erwiesen sich auch heute als hungrig, sonst nichts. Ihre Nachbarschaft mit zwei hübschen Mädchen vergaßen sie über dem Navarin. Maria Piccini hatte es mit dem einen versucht, war nicht darauf zurückgekommen, er aber hielt sich an die nahrhafte Camille, die ihm mehrmals den Teller füllte. Der andere Sechzehnjährige trug Pockennarben zur Schau, er war kantig ohne den Eindruck der Stärke. Die Italienerin, seine still Geliebte, übersah ihn. Ohne daß er auf sie verzichtet hätte, nahm er vorerst das Sichere: wenigstens im Essen übertraf er noch seinen bevorzugten Kameraden. Marie verübelte es ihm; ungeachtet ihrer Gleichgültigkeit gegen den Häßlichen hetzte sie den Hübschen. »Philippe verschlingt deine nächste Portion, Félix«, sagte sie mit Ironie und schmalen Augen.

Getrunken wurde nach Durst. Als das lange Weißbrot verschwunden, von dem Hauptgericht nichts übrig war, mußte nach der dritten zur vierten Flasche gegriffen werden. Marie wollte aufstehen, aber ihr Verehrer Philippe kam ihr zuvor. Ermutigt vom Essen und Trinken wagte er, die Hand auf ihre Schulter zu drücken, damit sie sitzen bleibe. Sie hatte ihre Genugtuung, verbunden mit etwas Scham über den lächerlichen Dienst, weshalb sie sich unbeteiligt stellte. Camille empfing mütterlich den Jungen und den Liter. Die Patronne und der Bäcker blinzelten vielsagend. Mit ihren gefüllten Gläsern stießen die beiden an.

Der Bäcker, Monsieur Lecoing, gab die Hoffnung nicht auf, Patron des Hauses zu werden. Madame Yvonne hatte ihn, seines Erachtens, nicht endgültig abgewiesen, nur vertröstet. Schließlich war Vogt noch keine zwei Jahre tot, die Witwe indessen hing weniger an seinem Andenken als an ihrer geschäftlichen Selbständigkeit. Diese fand nach dem Gesetz ein Ende, sobald sie wieder heiratete.

Andererseits nahm sie keinen ihrer Bewerber ernster als ihn, wie Lecoing nicht allein von außen beobachtete. Die inneren Beziehungen zwischen ihm und der stattlichen Frau versicherten ihn, daß er oder keiner das Ziel erreichte, ob ein wenig früher oder später. Er wartete, bis sie reif war. Unbedingt wünschte sie ihn der Bäckerei zu erhalten. Er unterließ darauf hinzuweisen, er hatte Takt, hatte Zeit und brachte etwas Geld mit. Was fehlt da noch, außer der Gelegenheit, die entscheidet.

Er fühlte, daß sie nahe sei. Nicht nur, daß Madame häufiger als sonst seine helle Haut betrachtete – ihre war bräunlich; ihre Unruhe stieg überhaupt. Die Stirn unter dem sorgfältigen Gebäude schwarzer Locken mit Gedanken beladen, war sie um Luft bemüht, als ob die genossene Mahlzeit anfinge, sie zu bedrängen. Da sie aber der Schüssel gebackener Sellerie zusprach und es sowohl mit dem Camembert wie mit der Sahnentorte aufnahm, mußten ihre Seufzer, ihr bewegter Busen tiefere Ursachen haben. Camille, in ihrer Sorge um das Wohl aller, wurde aufmerksam. »Madame n'est pas dans son assiette«, sprach sie bekümmert.

»Ich weiß, was Madame hat«, sagte Marie; worauf Monsieur Lecoing: »Ich auch.« Die junge Italienerin bedachte ihn mit einem Blick überlegener Weiblichkeit. »Ihr Männer meint immer, auf euch käme es an, wir müßten einfach einen Mann haben.« – »So ist es wirklich«, entgegnete Camille, die sich nichts vergeben, sondern gleich heiraten wollte. In aller Stille wartete sie auf Lecoing, nicht ohne Hoffnung, die Patronne werde endgültig nein sagen.

Marie streckte ihre stolze junge Büste vor, die Knospen erschienen. »Du bist ein gutes Mädchen, Camille. Aber hierüber könnte ich dich etwas lehren. Même que j'en sais trop long«, erklärte sie, in vollem Ernst, der fünf Jahre älteren, die es hinnahm. Marie machte kein Geheimnis aus ihrem Wandel. Hypokrisie, nicht wahr, wird noch weniger geachtet. Camille verlangte ruhig: »Dann sage, was du im Sinn hast!«

Übrigens sprachen sie dies alles füreinander allein, an Félix vorbei. Er saß zwischen ihnen, aber mit Philippe, auf der anderen Seite der jungen Marie, hatte er Meinungsverschiedenheiten, wegen eines Pferderennens. Yvonne und Eugène, wie sie ihren Bäcker gerade in Geschäften nannte, fingen plötzlich, sie wußten nicht warum, vom Geschäft an. Die erfahrene Marie konnte ohne andere Zuhörer das gute Mädchen belehren.

»Nein, die Männer geben uns wenig zu tun, sie legen auf die Bagatelle so viel Wert, daß sie davon dumm werden. Pour ce qu'elle vaut«, sagte sie hochmütig. Camille begann zu flüstern. »Wenn einer aber auch den Laden haben will?« flüsterte sie. »Das ist mir noch nicht vorgekommen«, gestand Marie ihr zu. »Aber …« Ihr Ausdruck wurde mitleidig, die Stimme sanft belustigt. »Mag sein, daß er hinter dem Laden her ist – qu'il gobe la boutique –, sie jedenfalls hält auf den Mann – elle tient à l'homme; nur muß es nicht dieser sein.«

»Was sagst du da?« Camille, deren Hoffnung bestärkt wurde, hielt dennoch auf Sachlichkeit. »Wen sollte sie einem Bäcker vorziehen? Vielleicht den Uhrmacher!« In ihrer Vernunft beleidigt war Camille, wo hingegen Marie das Leben bis jetzt nach Gefühlen maß. Den Mund mit der Hand geschützt, aber nicht ohne einen Blick aus dem Winkel, auf die verstörte Patronne, sprach sie das Wesentliche aus. »Madame, mais elle est une femme à passions.«

»Je ne lui ai jamais connu d'amant« – Camille war einfach erstaunt. Marie erklärte es ihr auf eine Weise, die sie selbst nicht schonte. »Liebhaber findest du bei Typen wie ich. Die Leidenschaft muß meistens verzichten, weil sie gefährlich ist. Nur gerade diesen Morgen hat unsere gute Yvonne ihr Genüge getan.«

»Du bist romantisch, meine Liebe.« – »Ich bin es, je weniger bei mir selbst von Racine vorkommt. Heute, acht Uhr früh, sah ich eine tragische Liebende, die Phädra selbst!« – »Nicht möglich« – offener Mund Camilles. Gefaltete Braue Maries. »Du warst selbst dabei, begreifst du denn nicht? Oder hast du je gedacht, sie werde den Hunden einen Tisch mit Brot auf die Straße setzen?« Da die andere überlegte, ging die junge Marie hastig weiter. »Sie tat es nach dieser Nacht. Sie tat es in Aufregung und Reue. Sie wollte etwas büßen und hatte keinen Dolch.«

»Was denn?« fragte Camille, schwer von Begriff. Marie hob die Schultern, ihren Zeigefinger bohrte sie in die Schläfe. Ihre Augen wurden lasziv, Camille hörte endlich auf, dem Sinn der Dinge auszuweichen. »Das wäre es?« erkannte sie. »Allerdings schien eine andere Frau statt ihrer zu handeln. Même qu'elle tremblait und ließ ein Brot fallen. Ihre Unruhe hat nachher angehalten.«

Marie wendete auf dem Tisch die Hand um; es hieß: »Sieh doch, wie sie trinkt, wie sie schreit.« Denn tatsächlich, Madame Vogt und Monsieur Lecoing warfen einander unerhörte Zahlen ins Gesicht. Der Bäcker war von der Mahlzeit, oder von seinen Wünschen, gerötet, die Patronne sah vielmehr blaß aus, während sie lärmte »wie eine andere Frau«. Auch zitterte ihr schon wieder die Hand. Alles sprach dafür, daß sie etwas erlebt hatte, ob Lecoing es bemerkte oder nicht.

Die Mädchen überzeugten sich umsichtig, daß auch die Jungen sie nicht beachteten. Diese beiden waren aufgestanden, faßten jeder eine Schulter des anderen und riefen mit steigender Energie die Namen von Pferden. Camille und Marie, vom Tisch weit abgerückt, steckten die Köpfe zusammen, aber nur Marie sprach das verhängnisvolle Wort. »Gestern nacht hat sie ihren Eugène betrogen.«

Camille erschrak mit dem ganzen Oberkörper – Widerspruch bedeutete es nicht, Angst ergriff sie vor dem schweren Geheimnis, das sie tragen sollte, nun das Wort gefallen. Marie bestätigte es ihr nochmals. »Je suis payée pour le savoir«, sprach sie langsamer als alles vorige und sah auf einmal elend aus. Vorfälle wie dieser hätten das Mädchen Marie wohl erfreuen sollen? 0 nein! Sondern arbeiten und bei Tisch sitzen mit einer femme honnête hatte die noch unfertige poule erhoben und gestärkt für ihre Unordentlichkeiten, die ein Beruf werden sollten. Nicht die ordentliche Camille war stärker getroffen; nur Marie nannte den Zusammenbruch einer bewunderten Tugend tragisch.

Was die Gesellschaft bewegte, das Rennen, Racine und die hohen Zahlen, alles wurde plötzlich abgebrochen. Madame war es, sie zischte scharf, damit man sie horchen lasse. »Jemand ist im Laden«, sagte sie. Sogar aus einer Ohnmacht wäre sie erwacht, wenn jemand im Laden war. Lecoing besann sich, daß die Zeit vergehe. »Wir essen schon eine Stunde«, gestand er. »Ich kehre an die Arbeit zurück.«

Marie sah nach. »Es ist nur Antoinette«, berichtete sie. »Ich schicke sie fort?« fragte sie der Patronne ins Ohr. Die Aufwärterin mit dem Sohn in Eton erinnerte an sich. »Madame hat mich gewünscht«, rief sie herüber. »Kommen Sie!« antwortete Yvonne, ohne Begeisterung. Die angesagte Unterredung brachte sie nunmehr in Verlegenheit, der Gegenstand selbst so sehr wie das Publikum, das sie haben sollte. Zufall oder nicht, in dem Augenblick, als der Bäcker mit den beiden Jungen nach hinten verschwand, wendete sie den Kopf.

»Monsieur Lecoing, bleiben Sie! Ihr Kaffee ist fertig.« Im Gegenteil machte Camille ihn erst jetzt, im Eifer des Gespräches war es unerhörterweise vergessen worden. Aber warum hielt Yvonne den am wenigsten erwünschten Zuhörer zurück? Sie war nicht sicher, ob seine Gegenwart dennoch angezeigt sei. »Die Jungen brauchen keinen Kaffee. Geben Sie ihnen Befehle und marsch!« Alles ging den Weg, den sie nicht wollte: jetzt war Lecoing ausdrücklich zugezogen, als Beteiligter an einem vielleicht folgenschweren Gespräch.

Er gehorchte; nach Entfernung der Jungen nahm er seinen Platz wieder ein, links von Madame, die am oberen Ende saß. Rechts setzte sie Antoinette, deren Nase die Luft der Küche untersuchte. »Ihr Navarin, Madame, ganz dasselbe, habe ich heute schon zweimal gekocht«, sagte sie, und Yvonne: »Dann werden Sie es satt haben. Camille!« rief sie, »Madame Antoinette liebt Plum-cake zum Kaffee.« Camille, am Herd, bestätigte: »Ich weiß.« – »Natürlich. Er schmeckt nach Arrak«, bezeugte Marie, hinter der Tür, wo sie auf Kunden paßte; zerschnitt auch gleich den Kuchen.

»Madame, Sie verwöhnen mich«, sagte die Aufwärterin, aber ohne sich zu zieren. Ihrer stämmigen Figur, dem geröteten Gesicht hätte niemand es geglaubt. Der Kaffee war fertig, der Kuchen aufgetragen, sie langte zu, als hätte sie nicht zweimal zu Mittag gegessen. »Der Arrak ist gut«, bemerkte sie, alsbald bekam sie von dem Alkohol in ihre Tasse. »Il n'y a rien tant que le café mouillé qui me fasse oublier mes fatigues«, erklärte sie. Aber sie hatte gegen ihre Ermüdungen keineswegs nur Kaffee mit Schnaps benutzt. Die Flasche Pernod war seit dem Morgen halb geleert, ein Blick in ihre große Tasche am Boden erwies es. Nicht, daß darum an ihrer Sicherheit, der leiblichen und geistigen, etwas gefehlt hätte. Eine erfolgreiche Arbeiterin vertraut ihrer Natur unbegrenzt.

Aus ihrem Sack zog sie den bewußten Brief, das Ereignis ihres Tages. »Ihnen, Madame, will ich ihn vorlesen, Sie verdienen es«, verkündete die stolze Mutter. Yvonne bestätigte: »Ihr Popol interessiert mich«; aber ihre Hand stellte sich von selbst gegen Antoinette, als ob sie Popol ablehnte. Seine Mutter hob die Wichtigkeit ihres Jungen hervor. »Er wird den Krieg gewinnen.«

»Wir werden keinen haben«, sagte Lecoing. »Die Nachricht kann nicht ernst sein. Weiß doch jeder: die Leute wollen keinen Krieg, das Land ist damit fertig. Natürlich, wenn es sein soll, verteidige ich Frankreich – bis aufs Messer!« sprach er kräftig. – »Sehen Sie wohl.« Die Mutter des künftigen Obersten war beruhigt hinsichtlich aller Dinge, die man nicht versteht. Andere machten ihr Sorgen. »Er hat keine Unterhosen mehr, und nur ich kann sie einkaufen; aber wie ist es mit dem Zoll nach England?« Als niemand es wußte, fiel ihr ein, daß sie erwartet werde. »Die Wohnung machen bei Fremden, die um eins noch im Bett sind.« – »Alle Tage?« fragte Lecoing. »Das ist das geringste, was mir vorkommt«, erklärte Antoinette.

Vogt dachte einzig an Kobalt. Unentschlossen, wie von ihr anzufangen, hatte sie die Unterhaltung aus der Hand verloren, schon drohte die Aufwärterin mit Fortgehen. »Madame« – in der Eile wurde die Stimme angstvoll. »Was hören Sie von Kobalt?« Angstvoll wegen Kobalt!

»Wie denn?« Antoinette prüfte nur ausnahmsweise ein Gesicht, sie erlaubte jedem Spuren zu tragen, vom Trinken oder wovon man wollte. Die Bäckerin aber sah nach unerklärten Exzessen aus. »Haben Sie schlecht geschlafen, Madame Yvonne?« fragte sie, um Zeit zu gewinnen. »Ich bemerkte es gleich in der Frühe«; was nicht wirklich der Fall war. Aber etwas mußte geschehen sein, wie denn, mit Kobalt? »Es geht ihr gut«, antwortete sie. »Erst diesen Morgen, ich schüttelte Teppiche aus dem Fenster, sie bekam etwas ab, das hielt sie nicht auf. Man kennt ihre Wege, die keinen Aufschub erlauben.« Hierauf Vogt: »Zufällig habe ich sie überrascht, wie ihr sehr unwohl wurde.« Der Ton stieg an, was nicht immer Fragen bedeutet, es kann ein Befehl sein. Die andere sollte weiterreden. Antoinette schob zunächst ihre Tasse hin, damit Lecoing sie füllte, diesmal halb mit Arrak. Endlich war sie bereit für eine Feststellung – gegen ihren Willen konnte sie anzüglich befunden werden. »Das ist natürlich, Madame. Kobalt hat ihr Leben genossen. Sie hat ihre Kerze von beiden Seiten gebrannt.«

»Meinen Sie.« Jetzt sank der Ton, es bedeutet, daß man mehr weiß, eher zuviel weiß. »Nicht möglich«, dachte Antoinette. »Oder bei ihr treten die Folgen spät ein.« Auch Lecoing wurde aufmerksam. Er zögerte, bevor er sagte: »Manch eine amüsiert sich, bis es zu spät ist.« Aber die Frau, die er heiraten wollte, verwies es ihm. »Reden Sie, was Sie verstehen!« Dies klang weniger vorwurfsvoll als traurig. Eine Pause trat ein.

Camille und Marie bedienten im Laden. Mit dem anderen Ohr horchten sie nach der Küche. Soeben waren viele Käufer auf einmal dagewesen. »Hast du verstanden?« fragte die junge Marie und gab ihrer Kameradin einen schweren Blick. »Madame will ihm alles beichten.« Camille glaubte es noch nicht. »Das von gestern nacht? Damit kommt sie nicht heraus, so schnell und im Beisein anderer. Warum erinnert man sie, daß auch sie sich lange amüsiert hat. Bei ihr wurde es nicht zu spät.«

Marie fand es nötig, sich zu verteidigen gegen mögliche Verwechslungen. »Wenn du mich meinst, ich denke es so weit zu bringen wie die Patronne.« Da sie hierfür belächelt wurde, wagte sie zu behaupten: »Wenn ein anderer Monsieur Vogt mich heiratet, wird er Glück haben. Das Glück bringe ich mit.«

Camille war milde, ungerechnet, daß sie bequem war. Sie grub nicht nach, wie es für eine alternde Liebhaberin steht, wenn sie, gewöhnt an bessere Unterhaltung, einen Lecoing nimmt. Antoinette ihrerseits trank aus. In die Tasse hinein vermutete sie unhörbar: »Vogt ist wieder die alte. Sie hat einen Rückfall.« Laut sprach sie, für Lecoing: »Madame Yvonne war immer ehrbar, daher wundert sie eine Person wie Kobalt, die nur aus Geldmangel auf junge Männer verzichtet. Die reichen Engländerinnen sind sogar älter.«

»Antoinette, Sie kennen mich fünfzehn Jahre.« Dies in einer Betonung, die gefällige Lügen ablehnte. Lecoing mochte verstehen oder nicht. »Um so schlimmer für ihn«, meinte die Frau, deren dritter Abschnitt die Ehrbarkeit selbst gewesen.

»Damals verkehrte ich mit Kobalt, beinahe als Freundin. Wir sprechen uns nicht mehr. Meine Geschichten sind alt, wie ihre. Eine poule war sie nie, sie erlaubte sich Zerstreuungen. Man hat allnächtlich in denselben Lokalen einander gegenüber gesessen. Ich tanzte gern mit ihr. Einst wurde sie eifersüchtig.«

»Weil Sie mit anderen tanzten?« fragte Lecoing, endlich aufgeschreckt von Überraschungen, die sich jagten. Übrigens antwortete sie ihm nicht.

»Heute morgen aber«, sprach die Bäckerin hinunter auf den Tisch. Sie begann nochmals, schwer und gedämpft. »Heute morgen ging es nicht anders, ich legte altes Brot auf die Straße hinaus, wie für hungrige Hunde. Es war nicht für Hunde, sie leiden weniger Hunger als Kobalt. Ich will nicht wissen, was ihr überdies fehlt.«

»Aber sie nimmt kein Brot mit, geschweige anderes«, versicherte die Aufwärterin. »Ich komme in der Stadt umher, niemand klagt über Kobalt. Sie interessiert nicht mehr. Punkt, das ist alles. Ich muß gehen, meine Fremden sind aufgestanden.« Lecoing benutzte die Gelegenheit. Das Gespräch mißfiel ihm. »Auch für mich wird es Zeit. Die Jungen machen nur Dummheiten.«

Sehr bestimmt erwiderte die Patronne ihm: »Bleiben Sie lieber! Man hört nicht alle Tage, was man doch wissen muß. Nachher ärgert man sich.« Für sich allein sagte sie: »Wie Vogt. Il séchait de dépit, als er nach der Hochzeit hörte, wer ich war. Ein Zugereister erfährt es vorher nicht. Der Mann wurde niemals ganz damit fertig. Sooft wir stritten … Soviel ist richtig, ihm gehörte der Laden, ich hatte gerade mein Hemd. Lecoing soll still sein, seine Mittel reichen für kein eigenes Geschäft, dieses bringe ich ihm mit!«

Die Überlegung blieb ohne wirklichen Erfolg, insofern Yvonne ihr erschüttertes Selbstgefühl zu festigen dachte. Gegen andere, o ja. Ungeahntes fand sie zu bereinigen mit sich selbst. Während ihres Redens und Schweigens schenkte sie ein mittleres Glas mit Arrak voll. Antoinette verschob den Aufbruch.

Inzwischen war im Laden ein wahrer Sturm auf Plumcake ausgebrochen. Die beiden Mädchen genügten ihm angestrengt; zu langsam fand man sie dennoch. Als das Wechselgeld ausging, nahm Marie die Freiheit, Madame zu stören. Den Schlüssel zur Kasse? Sie erwartete nicht, ihn zu bekommen; so gut wie sicher kam die Patronne selbst herüber – nicht aus Mißtrauen, sondern der Ordnung wegen. Nein, der Anfängerin auf mehreren Gebieten überließ sie die Verantwortung. Ohne zu fragen oder nur hinzusehen, händigte sie den Schlüssel aus.

Camille gestand: »Ich bin nicht gegangen, weil ich fürchtete, sogar mir würde sie ihn abschlagen. Was hat sie gesagt?« – »Gar nichts zu mir. Sie weiß, daß ich seriös bin. Aber zu Lecoing sagte sie genau dies.« Hier warf Marie sich in die Brust. »Bleiben Sie! Man hört nicht alle Tage, was man doch hören muß. Genau dies. Dann machte sie eine Pause, bis ich draußen war. Die betrunkene Antoinette stört sie nicht. Jetzt wird Monsieur Lecoing schon eingeweiht sein, daß er eine femme à passions heiratet. Schön dumm, wenn es ihn abhält. Ich gebe Madame recht.«

»Ich auch – wenn es wahr ist. Vorher aber, das vergißt du, Marie …« Camille versuchte etwas einzuwenden, sie wurde unterbrochen, zuerst von Kundinnen, die ein Gespräch anfangen wollten. Sie mußten verzichten, die Verkäuferinnen tun manchmal vornehm, wer sind sie denn. Wieder allein mit ihrer phantasievollen Gefährtin, setzte Camille an, wo sie aufgehört hatte. »Du vergißt Kobalt. Die Idee in deinem Kopf läßt dich alles andere überhören. Wir wissen jetzt, daß sie das altbackene Brot nicht für die Hunde hinausgesetzt hat. Dann hat sie auch die Nacht nicht zu bereuen.«

»Was noch?« Marie zuckte die Achseln. »Es kann eine Ausrede gewesen sein, für Lecoing, der sie verändert findet. Die Wahrheit läßt sie ihn dennoch erraten. Er soll ihr nachher nichts vorwerfen. Für den Anstand wird sie zu sorgen wissen. Ich auch. Niemand kann behaupten, daß einer meiner Freunde den Laden betritt.«

Camille seufzte. Das einseitig interessierte Geschöpf hinderte sie zu verstehen, was die Personen in der Küche sprachen. Sie waren sehr leise geworden, zweifellos auch sehr geheimnisvoll. Worüber verhandeln sie wohl? »Hörst du? Schon wieder Kobalt.«

»Eins möchte ich wissen.« Yvonne Vogt sprach. »Woher hat Kobalt ihre feinen Schuhe, das einzige Neue an ihr?« Sie wartete auf Antwort. Die Aufwärterin schwieg aus Vorsicht; Betrunkenheit machte sie nur verschwiegener. Übrigens kannte sie nichts Verbürgtes. Lecoing wollte vielmehr leichtgeschürzt sein. »Ein Verein muß sie wohl mit Schuhen versehen. Haben die Inhaber der Schuhläden, die hierorts so zahlreich sind, keinen Schutzverband für verarmte Kundinnen?« Die Aufwärterin nahm es ernst. »Davon hätte ich erfahren«, beschied sie ihn.

Yvonne stützte das Kinn in ihre beiden Hände: eine längst nicht mehr gewohnte Haltung, angenommen, daß sie in früheren Lebensformen nachlässig dagesessen hat, den Busen, der nicht klein ist, zerdrückt auf der Tischplatte. Das Gesicht, man hätte gemeint, zerflossen, der Blick unerlaubt weich, nach seiner üblichen Beherrschtheit – Lecoing mißbilligte all diese Neuheiten.

Sein Tadel schützte ihn nicht davor, sich angezogen zu fühlen mehr als sonst. Dem Typ, den sie hier vorstellte, fehlte offenbar die Zigarette. Er bot sie ihr an, wollte zurückzucken, aber Yvonne hatte sie genommen. Dies war der Augenblick für ihn, auf Ideen zu kommen, dieselben liederlichen Ideen, die eigentlich im Bereich einer Maria Piccini liegen, nur so begreift sie die Welt. Einem Lecoing ist durchaus nicht wohl dabei, besonders wenn ihm, noch vor seiner Zeit, Hörner wachsen sollen.

Unter dem Tisch rückten seine Knie in Richtung des Ausganges; kein Zweifel, daß er diesmal unbeachtet entkommen wäre. Die unheimliche Patronne sprach für sich selbst in die Luft hinauf. Was sagte sie? Man sah die Lippen sich bewegen. »Die Stimme! Ihre bezaubernde Stimme, als wir unbesonnen und glücklich waren. Da ist sie wieder, ich höre. Der alte Klang, aber woher? Aus einer Mansarde, Spelunke, aus den schrecklichen taudis, die ich vom Lesen kenne? Wir aber tanzten mit Brillanten behangen, ihre waren echt. Zu denken, zwei Schönheiten, Lydia, Yvonne, große Frauen. Was wird aus der Größe?«

Dies geschah. Die selbstbewußte propriétaire nannte in einem Zuge, demselben Flug der Erkenntnisse, sich und eine Verlorene. Man ist immer verloren, da unfehlbar das Leben abstirbt, ob taudis oder wohlbestellter Laden, eine Wohnung voll Kissen und Pflanzen, im offenen Fenster die Kanarienvögel. Einst hat man gelebt – könnte es noch jetzt, mit Lydia, wie immer das Leben sei. Wenn die Rollen vertauscht wären? Die Existenz, die auf jede von uns trifft, hängt an einem Faden, nicht ich mußte davonkommen.

Zerflossen wie das Gesicht der Bäckerin, hauchten ihre Gedanken dahin; in ihrem festen Zustand nannte sie dies einen Anfall sinnloser Erweichung – »das Glück, das ich hatte, brachte ich selbst mit«, würde sie sagen und brauchte sich einen Anfall wie diesen nicht erst zu verbieten. Nun er da war, machte das Unbegreifliche ihr keine Sorge. Nur die Stimme! Ein Klang traf ein, aus der Ferne, aber wirklich. Ging geradenwegs ihr ins Ohr, unmöglich wegzuhören. Auf einmal besann sie sich. »Das gibt es«, sprach sie vernehmlich. »Mit Lydia geschieht heute etwas.«

Hierbei fiel die Zigarette von der Lippe, an der sie klebte. Lecoing mußte das Tischtuch retten; der kurze Augenblick, sich selbst zu retten, war vorbei. Inzwischen kam ihm die Neugier. »Lydia?« fragte er. »Ist das Kobalt?«

Ihr Gesicht – er sah nur auf, da hatte es sich schon wieder ins Normale verwandelt. »Lächerlich normal«, sah er. »Mit mir ist etwas los, ich selbst muß den Anfall gehabt haben. Entdecke plötzlich in der braven Vogt eine Ninon!« – »Natürlich Kobalt«, antwortete sie ihm, eher ungeduldig als betroffen. »Kobalt, eine Bekannte. Man hat nicht ewig dieselben. Heute stand ich dabei, als ihr sehr schlecht wurde. Es ist nicht zu verwundern, daß ich wissen möchte, wie sie lebt. Wovon. Wo.«

Er hütete sich, nochmals zu scherzen, wie mit dem angeblichen Hilfsverein für heruntergekommene Damen. Im stillen wunderte es ihn dennoch, daß man jahrelang vor einer Verrückten die Tür zumachte, plötzlich aber hätte man sie hereingebeten, sie eingeladen. Er war bemüht, der komischen Figur einen ernsten Gedanken zu widmen. »Ich muß mich erinnern. In Pont Magnan ist ein Restaurateur, der sie einmal erwähnte. Wenn er ungewöhnlich früh ins Geschäft ging, sah er sie aus einem Haus treten, in großer Tenue, versteht sich. Aber es ist lange her. Leute, die nicht zahlen, verschwinden bald aus dem Bezirk, der Kommissar kennt seine Pflicht.«

Die Patronne sagte ruhig: »Es wäre seine Pflicht, die Leute aus den taudis herauszuholen. Gegen die unzeitgemäßen Höhlen der Ärmsten gibt es eine Bewegung der Öffentlichkeit. Nur muß man finden, wo sie gegenwärtig untergekrochen ist.«

Hierbei nahm sie der Aufwärterin die Flasche weg. »Genug. Sie sagen gar nichts?« Antoinette bediente sich allerdings mit Alkohol; um so vorsichtiger verschwieg sie, was sie nicht wußte. »Ich ziehe vor, mir nichts auszudenken. Aber es gibt Gründe, weshalb sie jetzt anständig wohnen könnte – noch weiter draußen, vielleicht bei Fischern, die nur im Sommer an ordentliche Gäste vermieten, und die kommen nicht mehr, seitdem man vom Krieg spricht.«

Lecoing bestätigte: »Sogar wir Einwohner reisen ab, das heißt die ängstlichen. Bisher konnten sie jedesmal umkehren. Es ist leicht zu berechnen, daß eine Hütte am leeren Strand unter diesen Umständen nichts einbringt.«

Die Bäckerin war wenig befriedigt. »Um zu wohnen, muß man auch dort bezahlen.« Mit Blick auf die gewitzte Trinkerin, die sicher mit etwas zurückhielt. Das ging nicht länger, sie entschloß sich. »Man will sie bemerkt haben mit einer Art Männer, qui donnent dans les anciennes. C'est une ancienne, n'est-ce pas, Madame?«

Ob Madame wußte, daß Kobalt eine Ehemalige war! Früher hatte sie kein Geld gebraucht – gleichviel. Die Eröffnung stieß Yvonne nicht ab, sie ergriff sie. Indessen nahm Antoinette mehr als halb zurück, was sie verraten hatte. »Niemand behauptet, daß Kobalt sich anbietet. Von Schaufenster zu Schaufenster, durch die Avenue de la Victoire, gelangt sie wohl einmal nach dem Bahnhof. Es wäre erstaunlich, wenn dort niemand sie anspräche. Gewisse Fremde sind kaum eingetroffen, sie halten den Koffer noch in der Hand, schon soll eine Frau mit ihnen in den Wagen steigen. Wenn es nun einer ist, dem der Vorkriegstyp teure Erlebnisse zurückruft …«

Jetzt redete Antoinette zu ausführlich, ohne daß sie etwas sagte. »Was meinen Sie eigentlich?« wurde sie ziemlich streng unterbrochen. »Geht sie mit oder nicht?«

»Sie denken doch nicht. Bei ihrem Stolz. Ich selbst« – Antoinette schlug sich auf die Brust – »habe gesehen, daß sie einen Reisenden stehenließ, in der Art, wie sie uns alle nicht zu kennen scheint. Den Hut über das Gesicht, Sie verstehen.«

»Das bringt uns nicht weiter.« Die Bäckerin entschied sich für den Ton der Patronne. »Wenn Sie sonst nichts zu melden hatten, Madame, wären Sie nützlicher gewesen bei Ihren Fremden, die seit einer Stunde auf sind.«

»Erlaubten Sie es mir, Madame?« Die Aufwärterin verließ ihren Stuhl nicht ohne Mühe. »Je ne suis plus jeune«, war, wenn dies vorkam, ihre Erklärung. »Aber – la carcasse est bonne. Ein gutes Gerüst« – hiermit ging sie, stämmig und ohne Wank. Von der Tür her sprach sie noch, die Kunden im Laden konnten hören: »Wohlverstanden war ich nicht dabei. Einmal, nur das eine Mal, hat sie im Hôtel Cécil zu Mittag gegessen mit einem neu Angekommenen, der aber das Nachsehen hatte. Von der Straße in das Restaurant und zurück auf die Straße, das ist alles, was man weiß.«

Endgültig aus der Küche, rief sie nach dem Hintergrund: »À bientôt, Madame.« Denn sie fühlte, daß es diesmal an Vogt war, Briefe zu zeigen oder ihr Herz aufzuschließen. Vor Antoinette lag es ohnedies offen: sie hatte ihr Leben satt, sie beneidete eine unordentliche Frau.


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