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Ein Zwischenfall

»Eine Kundin wie ich«, denkt Kobalt auf ihrem aussichtslosen Gang. »Jahrelang hat die Bank mit meinem Vermögen nach Gefallen manipuliert. Jetzt hat sie neue Kapitalien für mich. Es ist klar, daß man schon gestern versucht hat, die angesehene Klientin telephonisch zu benachrichtigen. Man ist entschuldigt; umständehalber unterlasse ich vorläufig, meine Rufnummer und Adresse anzugeben. Morgen, spätestens übermorgen werde ich es nachholen. Das kleine Detail ist im Begriff sich zu ändern mit allem sonst.« Hiermit hatte sie die Place Masséna erreicht; mehrmals machte sie, in Traum verloren, um den Platz die Runde.

Endlich erwärmte sie sich auch, mag sein von der leichten Morgensonne, noch sicherer von ihren glücklichen Gedanken, den einzigen des Tages. Vor dem Café Monot waren die fünfzig Tische leer, bis auf einen, mit Skiläufern, die zeitig nach den Bergen aufbrachen. In der Eile entging ihnen die befremdliche Gestalt. Wenn aber fünfzig besetzte Tische sie beachtet hätten, sie in ihrem Geist sah andere Verzehrer, die nicht mehr von dieser Welt waren. Nachtfalter, die Damen in Roben, bis auf die Füße eng gespannt wie ihr eigener Rock. Pariser Gäste der Art, die für ein Zimmer im Royal vierhundert echte Francs zahlt. Keine langweiligen hivernants dabei.

Es ist Karneval oder Segelregatta, von der ephemeren Gesellschaft damals kennt jeder den anderen. Alle verließen, munter obwohl übermüdet, um acht Uhr früh den Ballsaal, Stil Dix-huitième, wo die Blumen über den Plätzen hängen, man wirft sie nach Personen, die man zu kennen wünscht. »Ich warf Rosen auf Fernand, so fing es an«, denkt der verlorene Blick einer späten übriggebliebenen. »Auch ein Café in der rue d'Angleterre wurde um diese Stunde besucht, pour s'encanailler, mit Straßenmädchen, die, wie wir, ihren Teil weghatten, samt ihren besoffenen Männern.«

An dieser Stelle lachte die einsam Irrende, eine große Szene der Eifersucht war ihr eingefallen, sie selbst die Heldin. Ihr Freund schwang die Champagnerflasche, der Zuhälter hatte sein Messer erhoben, alle sahen zu und applaudierten. Nur die Heldin nicht. In die erwartungsvolle Stille sprach sie wenige Worte, ihre unwiderstehliche Stimme nötigte die Kämpfer, so sehr beide nach ihr begehrten, einander die Hände zu reichen. Dann Aufbruch und zur Abkühlung ein Gang über den Quai, bis vor das Casino de la Jetée. Geschlossen, kein Frühstück: dieser Verstoß gegen die einstigen Sitten der schönen Welt veranlaßte ihren Widerspruch noch jetzt.

Quand même. Monot hielt damals ohne Unterbrechung offen. Alsbald, um zehn Uhr, trat draußen das Orchester an, um mehr oder weniger den ganzen Tag zu spielen. Eines Morgens war sie eingeschlafen, bei der Barkarole, die sie so sehr liebte, und in ihrem Bett fand sie sich wieder. Fernand hatte sie hingetragen. Sie war schwerer damals. Ihre heutige Magerkeit wurde ihr leider bewußt, dies beendete alle Erinnerungen. Zur Sache! Auf die Bank, ihr Geld erheben!

Bei Monot, wie überall, bleibt die Musik aus. Öde beginnt der Tag und endet freudlos. Auch die neue Sorte von Gästen spielt wohl, billige Roulette natürlich, und weiß nicht, wozu. Dem ganzen Elend kann abgeholfen werden, nun sie ihre Millionen wiederhat. Sie wird ein erfahrenes Beispiel geben. Soll sie den eingegangenen Ballsaal Martell neu aufmachen? Die schöne Welt kann erstehen, wie sie war, nicht umsonst hat sie selbst ihren Freund zurück. Fernand schickt ihr Geld: um so eher sehnt er sich in Person herbei, war im Grunde bei ihr alle Zeit, mit seinen Wünschen unstillbar wie ihre. Sie und er haben dasselbe Temperament! Er findet keine zweite. Ihr ist jeder andere fremd.

Dies sind anstrengende Gedanken, daher atmete sie etwas beschwerlich, mußte auch ein wenig husten, nur leicht, allenfalls ließe es sich unterdrücken. Hätte sie etwas Glück – nein, viel! Sehr glücklich will sie sein, dann werden auch die Nächte besser. Gestern nacht, als ihr einfiel, er habe geschickt, kam gar kein Blut; übrigens kommt es selten. Mehr Sorge machten ihr die Kleider, hier in den Fenstern der Galeries Lafayette. »Soll ich mich wirklich anziehen wie diese lächerlichen Puppen? Die Moden sind lange genug heruntergekommen, offenbar werden die Schneider nächstens genötigt sein, uns wieder als Damen anzuziehen. Gut, daß ich die Pause überschlagen habe.«

Nicht, daß sie hinsichtlich ihrer eigenen Tracht sich Täuschungen ergab. Diese gehörte nicht unter die Leute: um so schlimmer für die Leute. Die Geldlosigkeit war eines Tages plötzlich eingetreten. In Übergängen verarmt, würde man jetzt die halben Schenkel freimachen, wie die Mädchen, die in den Morgenstunden sichtbar waren. »Qu'est-ce qu'il leur reste à montrer le soir?« Zuweilen waren es poules, die noch nicht geschlafen hatten, aber wie wenige gegen früher, als man sagte: »Il pleut des femmes.« Übrigens in Typ und Herrichtung kaum zu unterscheiden von den Verkäuferinnen, die viel zahlreicher als die Nachtarbeiterinnen vor Geschäftsbeginn aufgestanden waren.

Zwei Exemplare dieser unbestimmten Gattung, Tages - oder Nachtschicht, betrachteten gleichfalls die Auslagen und ähnlich wie die Erscheinung, die sie natürlich als Kobalt kannten, teilten auch sie ihre Aufmerksamkeit zwischen diesseits und drüben. Die Seitenstraße setzte hier die Front des Kaufhauses fort, gegenüber bog das Gebäude der Bank in sie ein. Sein abgerundeter Eingang mit dem Vorbau von Säulen blieb geschlossen, falls die Mädchen hierauf geachtet hätten. Sie sahen wohl etwas anderes, weiterhin um die Ecke.

Die Figur, die Kobalt heißt, wird nicht berührt. Aufpassen was vorgeht, widerspricht ihrer bekannten Art. Dennoch, als ob es Bestimmung wäre, folgt sie den beiden in die Straße und sieht. Sie sieht das angefahrene Automobil, den auf das Pflaster gestürzten Mann und die Frau, die ihn aufhebt. Der Mann ist ein gut angezogener Herr mit auffallend langer Nase. Das heißt, wenn er sein Gesicht bewacht, wird sie nicht so spitz vorstehen wie jetzt zwischen den erschlafften Wangen. Er wird nicht immer wie ein erstaunter Betrüger aussehen.

Übrigens fühlt er sich beobachtet, er wirft einen feindseligen Blick auf die Mädchen, die deshalb ihr Lachen unterdrücken. Die Zuschauerin dahinter, die er schwerlich bemerkt, fühlt sich nicht belustigt, sie ist in Sorge um die Begleiterin des Herrn. Diese junge und hübsche Dame war in dem Augenblick nach seinem Sturz nicht zuerst um ihn besorgt, in aller Eile überfliegt sie die Straße, prüft vorspringende Schatten, die Fenster und nahen Eingänge. Den nächsten hat sie im Rücken, die Tür, die noch dem Gebäude der Bank angehört, ein seitlicher Zutritt, mag man denken.

Hinsichtlich der Dame kann angenommen werden, daß sie in einer mehr oder weniger ungewöhnlichen, jedenfalls peinlichen Lage ist. Mußte ihr Freund gerade hier ausgleiten und zu Fall kommen? Unbemerkt hätte der Wagen sie absetzen sollen, sie wäre um die Ecke verschwunden. Statt dessen sitzt der Mann mit der einen Hüfte in dem schillernden Ölfleck und kommt nicht auf. Was ihn verhindert? Er ist erstaunt über die Blöße, die er sich gibt. Wahrscheinlich macht sonst die liebe junge Frau ihre Fehler, der Nachsichtige darf immer er selbst sein, jetzt aber sitzt er, zum Schaden ihres Rufes, im Öl. Um sich in die Höhe zu stützen, müßte er auch noch seinen Arm hinein legen. Bis er sich entschließt, werden Leute kommen.

Er sieht sie an, wie jemand, der Macht über sie hat, oder ist es seine lange Nase, die einen so zwingenden Ausdruck bekommt, daß die Frau ihm unbedingt die Hand reichen muß, gleichviel wie viele beiwohnen. Vor der Bank ist der Platz nicht mehr leer. Eine Zeugin des Vorganges wie die hier vorhandene fände ihn hassenswert, gesetzt, sie ginge näher auf ihn ein. Indessen hört sie, wie die Bank öffnet. Sie wird dort benötigt. Mag denn die Anfängerin, die dergleichen Fälle noch nicht kennt, ihrem langnäsigen Betrüger vor aller Welt aufhelfen, sie selbst muß dies nicht mehr mitmachen.

Unter dem Vorbau, den Säulen tragen, bekam sie noch einmal Zeit, sich der leichtfertig mißbrauchten Dame zu erinnern; hier wurde gedrängt, ihr war es lieber, jeden voranzulassen. Das erschreckte Gesicht hatte sich ihr eingeprägt; wie wehrlos es dem unerwarteten Auftritt begegnete. Das Erschrecken fortgedacht, war es unbefangen, rein, glücklich und ohne Eile, obwohl dem allen gerade der Auftritt widersprach. »Der war Zufall, Erklärungen sind notwendig falsch. Man kann nur hoffen, daß sie gerade diesem Mann nicht oft zu gehorchen hat.«

Ihre Erwägungen brachen ab, da man sie anstieß; sie hatte vergessen, den vorderen nachzurücken. Sie sah nicht um, hinter ihr drängten zweifellos dieselben früh aufgestandenen Geschäftsleute wie vor ihr; zahlreich waren sie nicht, nur rücksichtslos. Indessen, plötzlich schob sich über ihre Schulter ein Gesicht anderer Art, schmal, bleich, mit verschleierten, dennoch zudringlichen Augen. Sie wendete den Kopf fort. Ein Vermögen verlangt nach ihr und ihren Entschlüssen, aber sogar jetzt noch gibt es Lästige. In der weit offenen Tür angelangt, hatte sie den Überfall vergessen. Was vorher unter ihren Augen stattgefunden, hätte sie auch nicht sagen können. Ihre Aufgabe vertrieb aus ihrem Bewußtsein alles, was störte.

Die ersten der Eingedrungenen strahlten alsbald in verschiedene Richtungen aus, jeder nach dem Schalter, wo er zu tun hatte. Auch die Pfeilergalerie, die an der ganzen Wand hin nach weniger öffentlichen Hintergründen führt, wurde von einer Gestalt beschritten. Die bedeutende Kundin der Banque Commerciale machte hier noch keinen Unterschied zwischen den Stellen, wo Geschäfte sich abwickeln. Angenehm wäre es nirgends gewesen, umdrängt und angestoßen die Abfertigung zu erwarten.

Jeder bekommt eine numerierte Marke. Während sie aufpassen, ob ihre Zahl gerufen wird, ermuntern sie einander mit ungeheuren Summen, die sie in den Mund nehmen. In der Hand halten sie zuletzt einige kleine Scheine. Eine Kundin, für die tatsächlich phantastische Beträge daliegen, wird begreiflicherweise außer der Reihe bedient. Nicht hier, sondern drinnen beim Direktor, von ihm selbst. Merkwürdig, daß sie diese einfache Wahrheit erst heute entdeckt. Warum heute und jetzt? Sie weiß es.

Der Grund ist, daß sie nachträglich eine Gestalt erkannt hat, die einzelne, die von den übrigen abgezweigt, zwischen den Pfeilern weiterging. »Léon Jammes, was tut er hier? War er es wirklich? Sein militärischer Rücken täuscht nicht.« Aber Jammes konnte, während sie weggesehen hatte, die Richtung verändert haben. Er war beruflich überall; nicht nötig, ihn beim Direktor zu suchen, übrigens, was tat es? Sie beschloß, gerade jetzt sich melden zu lassen. Ihr eilte es. Der Agent, der sie beargwöhnt hat, darf zusehen, wie sie siegt.

Zu lange schon hat sie es falsch gemacht. Sie ist den Instanzenweg gegangen, daher ihr Mißerfolg, die zahllosen Enttäuschungen, die Demütigungen. »Als ob Millionäre ihre Transaktionen am Schalter vornähmen«, wiederholte sie ungeduldig. Das Überschreiten der breiten Halle, bevor sie auf ihren Weg kam, drängte ihr Erinnerungen auf – die sie unglaubhaft fand, so wenig paßten sie zu ihrer wirklichen, glänzenden Lage.

Les petits banquiers, wie die untergeordneten Beamten sich nennen, geben nächstens ihr Fest, so zu lesen auf weißen Kartons, die sie selbst beschrieben haben. »An das Publikum! Erlaubt den petits banquiers ein wohlverdientes Vergnügen! Wir stehen immer zur Verfügung Ihrer Wünsche. Kaufen Sie, meine Dame, mein Herr, Karten für unser Gala!«

Die Millionärin nahm hiervon Kenntnis, ohne mit der Wimper zu zucken. Dieselben petits banquiers hatten ihr, wer weiß wie oft, Nichtachtung und Hohn erwiesen. Was sie jetzt behaupten, ist Herausforderung und Lüge. »Zur Verfügung meiner Wünsche, wagen sie zu sagen, haben mich aber abgewiesen, sooft ich Geld, nur eine Anzahlung, holen wollte. Mehrmals sah ich den Moment kommen, wo sie mich dem Portier übergeben würden. Davor haben die petits banquiers sich gehütet, aber eine andere ernste Kundin wäre noch heftiger erbittert worden, wenn sie dreist in meiner Gegenwart ihre alberne Meinung äußerten und mit dem Finger ihre eigene Stirn zeigten. Sie verkennen, mit wieviel Grund.« Übrigens lasen heute manche die Zeitung, nicht verstohlen, sondern einer über den anderen gebeugt. Es war gegen die Vorschrift, eine erfahrene Kundin bemerkte es.

Ohne weiteres verfügte sie sich seitwärts an das Ende der Halle. Ein Stück nach dem letzten Pfeiler ging es in das Zimmer des Direktors. Sie wußte Bescheid, sie hatte es betreten, als sie seinerzeit reich, das vorige Mal reich gewesen war. Die Idee, dieses Zimmer aufzusuchen, hätte ihr wahrhaftig eine Woche früher kommen können, auch schon vergangenes Jahr oder wann immer. Indessen war dies der Tag, Einfälle zu haben und unternehmend zu sein: bestes Zeichen, daß die Glückssträhne einsetzt. Das Glück, wenn es naht, erhellt außerordentlich den Kopf und alle Fähigkeiten. Stunde und Platz sind danach angetan, daß sie genau aufnimmt, was vorgeht, den Leuten in das Gesicht sieht anstatt vorbei, und daß sie reden wird. Ganze Reden fühlt sie im voraus über ihre Zunge fließen.


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