Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Eine scheint mehr zu wissen

Ihr war nicht anders, als sähe sie noch zwei von ihrer Mannschaft dahinten auftauchen, um alsbald unterzugehen. Es blieb im Zweifel, wer von beiden dem anderen nachstellte, ob Léon Jammes dem Comte X, den er in der Zwischenzeit umhergejagt hat, wie ein Mädchen – nun ja, ein schamhaftes Mädchen, das halb entkleidet ertappt wird. Es flüchtet ungeschickt, könnte hinfallen, aber seine keusche Angst nimmt nicht gerade die Miene des Wahnsinns an. Diesem Verfolgten ist sie beschieden, der Wahnsinn scheint ihm zu liegen, man könnte sagen, daß er von seiner Lage der gefährdeten Unschuld einen abscheulichen Genuß hat. Wenn Léon Jammes ihn losließe, er ihn nicht.

So, das war alles, die flüchtige Gruppe ist nicht mehr. Wer sie überrascht hat, bleibt beklommen, Spannung der Gefäße, sie hat Mühe, den Atem zu ordnen. Ein Wahnsinniger, aber der andere hält ihn für schwach wie sonst, davon wird er erst gefährlich. Dieser Benachteiligte kann seine lahme Hüfte aufschwingen, wäre fähig, seinen Feind zu erdrücken, zu erwürgen; dagegen aber spricht, daß Léon Jammes eine Autorität ist. Das ist nichts Kleines, er herrscht mit bloßer Autorität; die Geste der Gewalt ist seinem Abgang vorbehalten. Léon Jammes wird töten: Wen? Wann? »Wenn ich es nicht mehr sehe«, sagte sie. Ihr eigener Zustand einer schon Abberufenen machte sie empfänglich für die letzten Bestimmungen der anderen. Schwer ist es am Ende nicht. Für heute genügt zu wissen, wer die Mappen stehlen wird. »Ich kann es ihm sagen: seit meiner vorigen Szene kann ich ihm einen Namen nennen, wenn er käme.«

In jedem, der sie ansprach, hätte sie Léon Jammes gehört. Wirklich wurde gefragt, noch hinter der Wand, wo das Orchester spielte: »Wie ist Ihnen Ihr Tag bekommen, Frau Gräfin?« Sie blickte in ein fremdes Gesicht; aus welchem Grund betrachtete es sie angeregt, wie ein Gesicht, das man erwartet haben soll und gleich empfängt? Das Mädchen, das den Kopf über die Schulter des langen Jungen streckte, war leicht zu erkennen an ihrer vorgebauten roten Unterlippe; sie ist es, die »alle auf!« gerufen, die den feierlichen Umzug, eine Prozession, in Marsch gesetzt hat. Der Chef machte daraus die Pavane. Etwas anderes hat die üppige Wirtin gemeint, eine Verhöhnung, Entgleisung, gewiß eine Dummheit, gleichviel.

Der höfliche Kleine – er hatte aber an die zwei Meter – näherte leise seinen Mund ihrer Ohrmuschel. »Meine Freundin weiß nichts«, raunte er. »Frau Gräfin sehen schon viel besser aus.« Hier erkannte sie ihren Retter vom Morgen, Moineau. Blut im Mund, Wasser in den Augen, hatte sie ihn schlecht gesehen. »Meinen Glückwunsch!« sprach er laut. »Mit meinem«, rief Maria Piccini. »Ist das alles schön! Auf einmal berühmt und reich! Bei Vogt haben wir uns gefreut – wenn ich sage gefreut. Verrückt waren wir.« Hiermit verdrängte sie ihren Freund, um vorzukommen und zu reden – mit jedem Mittel des starken Ausdrucks, mit Händen, Augen, Schultern, der bewegten Stirn, wo stürmische Falten gingen, aber schon war ebenes Feld, das leuchtete. Sie sprach.

Moineau sprach nicht mit, er dachte: »Die arme Frau. Nein, die große Frau, mein Stolz, daß ich für sie Handgriffe tun durfte am Morgen, als der Anfall sie überkam. Gewiß muß sie sterben, aber niemand wird gelebt haben, was ihr gelang, einen letzten Tag wie diesen. Übrigens, weiß man, wieviel Tage kommen, gehen und gezählt sind? Die Blutspur auf dem Waschtisch kaum getilgt – wer hat sie weggewischt? Monsieur Conard? Er kann auch nur dienen – da beginnt ihr Umtrieb; meiner ist eitel, war immer vorläufig, war halbe Kraft. Sie wäre das Beispiel, wenn ich mich in ihre Nähe versetzen dürfte. Die Kraft, das Glück, das kleine blasse Gesicht, die Stimme – unvergänglich dies alles«, hätte er schließen wollen.

Der vernünftige junge Mann hütete sich vor einem Widersinn. »Sie verbraucht ihren Rest gleich ganz, sie hat den Mut. Es könnte die Herkunft sein. Ich bin ein Bauernsohn ohne Land, ohne die Zähigkeit, den verlorenen Hof zurückzuholen. Sie hat beharrt, ja, ausgelacht, armselig, krank hat sie endlose Zwischenzeiten darauf bestanden zu bleiben, die sie gewesen, Gräfin Traun, Luxusexistenz, ich glaube, ja, ich glaube, eine hohe Existenz. Wahrhaftig hat sie nicht um Anerkennung gebeten, im Gegenteil hatte sie den Takt, sich nicht herabzulassen. An mir habe ich gefühlt, daß sie freundlich ist, nicht nötig hat, anders zu sein. Wer in ihrem Zustand täglich acht Stunden auf den Füßen war, immer den gleichen Weg. Ich habe halb ihr Alter und schon den dritten Beruf.«

Er war sich bewußt, daß er wieder einmal die Dinge auf die Spitze stellte, nach seiner Art, die noch nicht endgiltig sein muß. Allerdings kommen die Intellektuellen aus alten Bauernhäusern: wie der vorerst faschistische Jüngling, der bei Briançon fallen soll, aber auf der Gegenseite. Ein Bauer auch Moineau, gegenwärtig petit banquier, im Begriff sich schon wieder zu verändern. Da ihnen die Aufrichtigkeit geboten ist, gestand der junge Moineau in seinem Herzen, daß er diese großartige Auffassung einer Kobalt erst jetzt vertrete, nun sie die Bank gesprengt und sich berühmt gemacht hatte.

Der Erfolg entscheidet über einen Charakter. Aber wird man den Buchhalter Pigeon wert halten, neu betrachtet zu werden, wenn Intrigen ihn auf den Platz des Direktors tragen? Nein? »Par là c'est acquis que je reconsidère Kobalt, non pas tant pour ses nouvelles qualités, indépendantes d'elle – sie hat keine erworbenen Eigenschaften, nur ihren natürlichen Besitz, den man verkannte.« Aber er sah auch ein, bei weitem richtiger als er mache es seine kleine Freundin: sie fragte nicht, was sonst mit ihrer Heiligen vorgegangen, jetzt hat sie gesiegt.

Maria Piccini folgte der Bitte sich zu setzen, sprang aber gleich wieder auf. Meistens hatte sie auf dem Stuhl, den vorher die korpulente Wirtin innegehabt, nur eines ihrer Knie; wenigstens der eine ihrer Arme bewegte sich droben durch die Luft. Es kam ihrer schlanken Form zustatten, verstärkte die Haltung, befeuerte den Ausdruck, falls sie Vorgänge, die schon gespielt hatten, aufs neue veranschaulichen wollte. Nicht, daß Marie ihre Mittel berechnete. Man war völlig sicher, daß eine Natur sich hergab, den Abend bei Vogt vorzuspielen, gleichviel ob übertrieben, geschwindelt um der Farbigkeit willen, aber immer im Sinn der Szene, die schrie nach Maria Piccini und ihrem Talent.

Der Abend, der heutige, von dem sie herkam, war hervorgehoben aus anderen Abenden der Bäckerei Vogt. Erstens hatte er kein Ende nehmen wollen. »Moi qui vous parle, noch sehe ich alle durcheinanderrennen, tiens, wie hier die Verrückten.« Angefangen aber hatte es heute früh, nach der Begegnung Vogts mit Kobalt. »Sie wissen, Madame?« – »Ich weiß; Vogt setzte Brot für mich auf die Straße.« – »Wer hat es Ihnen gesagt? Tant pis, ce n'est pas à Madame la Comtesse de s'expliquer. Ich und Moineau können nur schwer erklären, daß wir hier sind. Man hielt uns an den Fußgelenken zurück, dennoch sind wir hier.«

Der Junge überließ ihr zu reden und es zu verantworten. Er wagte zwei Gesten – die nicht störten, im Gegenteil sollten sie gegen Lärm und Zudrang schützen. Mit seinen beiden Händen zog er von der Wölbung über ihnen den Vorhang herab, den eingebildeten Vorhang, wenn man lieber wollte. Es waren die grünen Sonnen auf ihrem goldenen Hintergrund, alles unbeweglich. Moineau aber ließ, erste Geste, den Vorhang nieder, hiermit waren sie unter sich; kein Cochon, wäre es sogar harmlos gewesen, herrschte um sie her. Zweite Geste, er machte, daß der Vorhang wieder oben war, freie Aussicht stellte er her nach dem Schauplatz, wohin er sie versetzte. Veränderter Schauplatz. Man befindet sich bei Vogt im Laden. Marie kann erzählen, was alles dort vorgegangen ist, ehe sie mit ihrem Freund nach dem Cochon aufbrach.

Ein bequemes, einfaches Verfahren, zu direkt wohl: die Erzählerin bekommt erregte Brusttöne, mit unfreiwilligem Schluchzen. Ihr Freund täte gut, sie aufzuhalten, er bringt es nicht über sich. Kobalt, wie sie hier heißt, läßt oft die Augen geschlossen. Was sie sahen:

Bei Vogt trat die Katastrophe ein, als Antoinette die Abendzeitung brachte. »Madame, das Bild hier geht Sie an.« – »Kobalt! Ich wußte es. Ist sie tot?« – »Sie läßt sich photographieren, manche tun es beim Sterben. Aber sehen Sie die Überschrift.« Statt der Patronne, deren Augen sich trübten, las Monsieur Lecoing über ihre Schulter. »Die Bank gesprengt. Eine Millionärin. La Comtesse de Trône. Erster Erfolg der Kriegserklärung – wenn das geistreich ist«, sagte Monsieur Lecoing. Antoinette hatte noch Zeit zu rufen: »Einen Stuhl!« Camille Vaury schob ihn unter, sie gab acht, daß Yvonne Vogt nicht danebenfiel. »Begraben werden vom Glück ist auch ein Ende«, stöhnte Yvonne. Ein Druck vor dem Magen machte ihr auf einmal das Atmen schwer. Sie wunderte sich, bis sie bemerkte: ihre Physis ahmte eine andere nach.

»Madame freut sich nicht, daß Kobalt reich ist« – dies von der Aufwärterin. Maria Piccini wagte deutlich zu sein. »Ihr ein Stück Brot vor die Tür setzen: mehr Glück darf sie nicht haben.« Hierauf Vogt, schon wieder mit Selbstbehauptung: »Sie nimmt von mir Abschied, das tat sie; dann soll sie Glück haben, wieder leben, wieder reich sein? Ce ne serait pas honnête.« So wirkt die verwandelte Kobalt in die Ferne, auf eine Gefährtin aus alten Tagen. Aber sind dies Gefühle, die man zeigt? Auch andere ließen sich gehen in der allgemeinen Erregung. »Ihre eigenen Jahre als femme honnête reuen Madame«, erklärte die junge Marie ihrem Verehrer Philippe. »Jetzt kommt wieder das lustige Leben.«

Der pockennarbige Junge erfuhr auf einmal zuviel Vertrauen, ihm wurde unheimlich. Es rächte sich wirklich, er sah die Patronne vom Stuhl hochkommen, erbleicht floh er unter den Ladentisch. Seine Mitschuldige benutzte den letzten Augenblick, gerade hätte man sie am Genick gehabt. Yvonne wäre den beiden nachgesetzt, Lecoing, die geduldige Camille und Félix, der hübsche Lehrling, waren ihrer drei nicht zu viel, die Empörte zu halten.

»Das soll mich lehren ein gutes Herz haben«, schrie Vogt, deren Glieder plötzlich nachgaben: sie hing, aber niemand wußte, weshalb sie gerade am Hals des jungen Félix hing. Nur die zynische junge Marie zweifelte an nichts; endlich besaß sie greifbar die Auflösung dieses rätselhaften Tages. Félix hieß die Auflösung. Marie schwieg, um der Frau, die sich bis heute bezwungen hatte, nicht noch mehr zuzumuten.

Lecoing schien plötzlich verwildert, er riß die phlegmatische Camille an seine Brust. Im gröbsten Ton sagte er: »Die Patronne ist verrückt geworden. Wir gehen zusammen, wir machen eine neue Bäckerei auf, À Voltaire wird sie heißen.« Den Namen warf er hin als Zeichen seiner Auflehnung gegen die ganze bisherige Ordnung. Die Treulose am Hals des jungen Félix zu sehen, hatte ihm ähnlich zugesetzt wie der frühreifen Marie, obwohl ihn keine greifbaren Vorstellungen überkamen wie ihre.

Antoinette, schon lange ohne jeden Pernod, bediente sich mit Arrak, als einer berechtigten Nachhilfe ihres hiesigen Auftretens. Da sie schnell ausgetrunken hatte, machte der erregte Lecoing ihr den Eindruck, als stände die Mordlust ihm im Gesicht. Félix dagegen, nach dem er wild die Augen rollte, war unschuldig anzusehen, wenn auch befangen von all der Aufmerksamkeit auf seine Person, wer verträgt das. Mit der Sicherheit des genossenen Alkohols sprach die Mutter des Eton-Schülers: »Monsieur Lecoing, vergreifen Sie sich nicht an dem Kind, ich würde glauben, daß es meinem Popol geschieht.« – »Wovon reden Sie«, stotterte der Bäcker.

Sie sagte: »Um so besser, daß Sie Ihren Verstand noch haben. Hier kommt man um ihn.« Gleichwohl schützte sie den Jungen mit ihrem stämmigen Rücken. In seinem jungfräulichen Gesicht blieben, bei aller Gefahr, die Lider gesenkt. Er betrachtete seine Hände, die weiß nur vom Mehl, übrigens rötlich waren, was ihm mißfiel. Die Flucht hatte er versäumt, schmeichelhafter als ein Aufenthalt unter dem Ladentisch erschien ihm sein Zustand wie er war, Félix, das interessanteste Objekt im Laden.

Dieses Gefühl wünschte er zu erhöhen. Was er dann wirklich tat und aussprach, war schlechthin unermeßlich, vonseiten eines anständigen Jungen begreift man es nicht. Er selbst begriff es nicht, brachte aber deutlich hervor: »Sie wollte es nun mal.« Dies geschehen, mußte er natürlich die Wirkung feststellen, er ließ von seinen großen Pfoten ab, hob die langen Wimpern auf: nichts, jede Beachtung hatte plötzlich aufgehört, als er die Patronne verriet oder verdächtigte. Vielleicht, daß Lecoing und Antoinette nicht verstanden, wer von ihm, nun was denn, gewollt hatte. Sie waren zwei Schritte von ihm fortgetreten, gleich gerieten sie in Streit, aber nur miteinander. Ihn angreifen, ihn verteidigen, niemand dachte daran. Félix war Luft, sein gewagtes Wort hatte mit ihm aufgeräumt.

Anerkennung suchte er bei Marie und Philippe, die ihn ebensogut gehört hatten. »Sie wollte es nun mal« ist ein Ausspruch, der keinem entgeht. Indessen machten sie wie die anderen. Sie saßen jetzt auf dem Ladentisch, aber abgewendet, für Félix hatten sie keinen Blick. Der Unterschied war, daß sie nicht stritten; das Mädchen hatte das Wort, es erfuhr keinen Widerspruch von dem demütigen Philippe. Oder seinen Einwand faßte er in eine bloße Frage: wohin die Patronne sei. Maria Piccini drehte sich um und um. Keine Yvonne Vogt, da erschrak sie und schwieg. Natürlich hatte ihr geahnt, Vogt müsse auf und davon sein nach erfolgter Enthüllung; wenn sie dabei wäre, spräche man nicht laut von ihrem Temperament. Marie schwieg, sie beugte sich tief über den Tisch, in Wahrheit über ihr Gewissen.

So schnell von Begriff war Monsieur Lecoing keineswegs. Während ein endgültiges Unheil nur von dem Verschwinden der Patronne drohte, stand er noch immer bei der Affäre Félix. »Ich danke meinem Schutzengel, daß es heraus ist«, sprach er ergriffen, verhalten aus Ehrfurcht für seine wunderbare Rettung. »Ich hätte sie geheiratet – eine galante Frau«, sagte er, statt des Namens, den er meinte. Madame Antoinette erklärte ihm schlicht: »Monsieur Lecoing, vous perdez la boule. Schon wird der alberne Junge von allen beargwöhnt; nur Sie haben niemals gehört, daß Kinder falsch aussagen, sogar vor Gericht, aus Ruhmsucht.« – »Possible«, ließ der Arme fallen, als ob dies an der Sache nichts änderte.

Antoinette verzichtete auf seinen bon sens, sie rief die Anwesenden zu Hilfe. »Wir schwatzen, als ob wir keine Schuld hätten, wenn ein Unglück geschieht. Eine Verzweifelte, die wegläuft, findet leicht die Brücke, von der sie ins Wasser springt.« Hier sprang Maria Piccini – vom Ladentisch, aber alle, auch Monsieur Lecoing, hörten Wasser aufspritzen. Félix äußerte ein Gewinsel, worauf er von dem stürmischen Mädchen einen Backenstreich empfing und wieder aufgenommen war in die Gemeinschaft.

Marie, einen Fuß schon auf der Straße, verlor einen kurzen Augenblick mit unaufhaltsamen Selbstanklagen. Sie war es, die Yvonne verleumdet hatte, seit aller Frühe, als die Patronne ihr Herz für Kobalt entdeckte. Ein sexueller Komplex sollte es verursacht haben. »Des bêtises, den sexuellen Komplex hab ich allein. À preuve qu'à l'heure qu'il est, un nouvel amant sèche d'impatience. Moineau hält es nicht aus, bis ich komme. Celui-là n'a pas de chance, il faut que je rattrape la patronne.« Moineau kann warten. Eingeholt werden muß Yvonne. Marie flog schon dahin. Ebenso luftig war sie gleich wieder zurück. »Mon sac!« Sie hatte vergessen, wohin ihr Beutel geraten war; die Idee beherrschte sie ohne erklärten Grund, um einer ehrbaren Frau das Leben zu retten, brauche sie Geld.

Vergebens machte Monsieur Lecoing sich einen Hals wie erkältet, um zu verkünden, das gehe ihn an, er komme mit. Die Rauheit sollte anzeigen, daß er, beleidigt wie er war, dennoch auf sein menschliches Mitgefühl hörte. Was sie wirklich verriet, war dunkle Scham, war unbegriffene Reue. Oh! auch sie werden demnächst erläutert sein. Die Wahrheit ist hierher unterwegs, niemand muß an der See, an der grande bleue auf einen Steg hinauslaufen, kein Grund, in dem Wasser, das morgen wieder blau sein wird, nach etwas Versunkenem zu suchen.

Hier drinnen herrscht eine ungewohnt schwache Beleuchtung nur von der Straße her. Zwei Stunden nach dem üblichen Ladenschluß brennt keine Lampe. Der Eintritt einer Katastrophe macht es auch nicht heller hier; überdies scheint man es wenig zu wünschen. Alle Versammelten suchen, schattenhaft hin und wider bewegt, nach der Handtasche. Dennoch stört die Wahrnehmung, daß sie um eine Person zu wenig sind. Die bisher Vermißte ist nicht gemeint, noch eine fehlt, unerforschlich, wie lange schon. Bevor jemand spricht, meldet sich im Zimmer nebenan eine ruhige Stimme. »Der Beutel ist hier«, mehr sagt sie nicht, aber es ist Camille. Kein Grund zu erschrecken.

Indessen, niemand der nicht zusammenfährt, Philippe sogar mit Schmerzenslaut, er, der Bescheidenste. Marie, nicht weit davon, taumelt, sie läßt sich gegen ihn sinken. Er empfängt sie in einem Zustand zwischen Beseligung und Geschlagenheit, beide unwahrscheinlich bis diesen Augenblick, oder schon unter dem Ladentisch wären sie einander nähergekommen. Finsternis macht unsichtbar, man beschließt, daß man unsichtbar ist. On est invisible sans l'être, tout en l'êtant. Nahe seinem Gesicht ohne Pockennarben, denn im Glück vergißt Philippe sie endlich, beben die Worte seiner heiß Begehrten. »Madame ist nebenan. Sie ist tot.« Schrecklich von Bedeutung, aber anzuhören selig, von der Geliebten, die man küßt. Philippe küßt Marie, sie widerstrebt nicht, ihr Druck wird fester. Was war das? Es ist weit gegangen, es ist schon aus.

Licht. Félix hat es angemacht, seine Schuld bestimmt ihn, sich auszuzeichnen. Was nicht jeder täte, er soll als erster dort hineingehen. Nichts Gutes steht zu erwarten. Bei der Absicht bleibt es vorerst, da fragt Antoinette: »Ist ihr etwas zugestoßen?« Von drinnen antwortet Camille: »Sie schläft« was alsbald jedem einleuchtet. Soeben stand für die ganze Gesellschaft eine Verlorene auf dem Sprung ins Wasser, wenn sie nicht schon unterging. Camille hat bis zuletzt verschwiegen, daß Madame hier ist. Sie ist nicht nur sicher aufgehoben, sie hat geschlafen, während andere, in abweichenden Fassungen, ihre Sache für sie durchstanden. Das ist unerlaubt, weil keiner daran gedacht hatte. Es fällt auf Camille zurück.

Lecoing, Maria Piccini, die alte, aber stämmige Antoinette überrennen die beiden Knaben, in einer Reihe brechen sie durch die Tür, daß die Füllungen krachen. Sie machen, alle gleichzeitig, der phlegmatischen Camille widerspruchsvolle Vorhaltungen: sie schlafe selbst, die Patronne verstelle sich. Sie halte die Leute zum besten. Vogt sei anmaßend. »Wie Monsieur Laplace de Revers«, schmetterte der Bäcker, nicht mehr heiser. Angestoßen von allen Seiten, erschrak er. Die eingetretene Stille erlaubte der vernünftigen Camille Vaury ein Wort. »Ihr waret alle verrückt geworden. Die arme Unschuldige mußte vor euch behütet werden. Hört lieber, was sie sagt.«

Dies hätte sie besser nicht vorgeschlagen. Madame lag mit dem Gesicht auf den Armen, zu unterscheiden war dennoch, was sie unter dem Siegel des Geheimnisses sich selbst anvertraute – schwerlich hat sie gewußt, daß sie es dachte, sogar von sich gab. »Diese Camille! Dieser Lecoing! Gewiß liebe ich ihn noch nicht einmal wie den seligen Vogt, nach sieben Jahren der Gewohnheit: da liebte ich den Laden. Von Lecoing will ich keinen Laden haben, wie Camille.« So schloß das schwache Gemurmel. Es hätte jede andere herausgefordert; das Herz Camilles schlug langsam, es kannte die Nächstenliebe. Lecoing hörte von ihr: »Sie liebt Sie. Nur backen sollen Sie.«

Das Merkwürdige, insofern die Verwirrten dafür das Ohr hatten, war die Nüchternheit der gesprochenen Worte. Camille wußte sich nicht getroffen, kaum beteiligt. Ihre Patronne hatte sie nicht angeklagt, sich selbst nahm Madame auch nur für einen Gegenstand des Geschehens; dem Leben wird nichts nachgetragen. Diese unpersönliche Art ist dennoch die unheimliche, gesetzt, die Anwesenden wären noch soeben bewegt von Affekten in dies Zimmer gestürmt. Über den Tisch gebreitet fände man auf einmal etwas Ruhendes, das nichts mehr will, alles schon weiß, sich abgefunden hat lebenslänglich. Das ist fremd, man liebt es wenig, besonders in einem Zimmer, wo meistens kräftig getafelt wird. Nur Félix schnupperte in die Luft, aber hatten nicht für alle Nasen, pas plus tard que ce matin, hier die Speisen geduftet?

Dies fragten sie wörtlich, mochte einer nur stumm die Schulter eines anderen berühren. Hier war um Mittag begierig genossen? Hier gestritten? Geschmiedet? Ein wenig verraten? »Mais ce n'est pas naturel« – über die sonderbare Vogt geneigt, verriet die Aufwärterin ihren aufsteigenden Verdacht. Der Bäcker antwortete: »Possible.« Er hatte ganz, aber ganz, den Weg verloren. Die zynische junge Marie lehnte sich als erste auf. Zunächst schickte sie den zudringlichen Philippe im Bogen an die Wand, was nicht verfehlte, den allgemeinen Zustand zu erleichtern. Gleichzeitig, mit dem gewöhnlichen Aufwand von Selbstgefühl, behauptete sie: »Madame kommt zu sich. Sie wird nicht länger orakeln wie eine Sirene.«

Die falsch gewählte Vokabel war kein Hindernis, Madame tat, was gewünscht wurde. Sie änderte Haltung, Sprache, sie befahl die volle Beleuchtung. Angeregt sagte sie: »Kinder, ihr ahnt es nicht, heute stirbt Kobalt.« – »Besser, als Sie stürben«, sagte Camille. – Yvonne, etwas scharf: »Gekocht hast du nicht? Gib mir ein Sandwich, damit ich orakeln kann.« Hiermit erhielt jeder die Gelegenheit, seinen Hunger einzugestehen. Die belegten Brote kamen und verschwanden, wie die Flaschen. Yvonne indessen hat nach einem Schluck und Bissen genug. Sie muß sprechen. Allerdings gibt sie vor, daß sie das erste Beste sage.

»Gut denn, Kobalt stirbt, ich mit ihr, un point c'est tout.« Man widerspricht ihr, wie es der Anstand gebietet. Peinlich bleibt die Luft oder l'ambiance, leichtnehmen hilft nicht. Hier aber ist die rüstige Aufwärterin, die ihre Sache kennt. Sie hebt die geleerte Flasche Pernod ins Licht. »Madame Yvonne, ich trinke, wenn Sie es wissen wollen. Wären Sie bei den lockeren Sitten geblieben wie ich beim Alkohol, die Frage des Sterbens stellte sich nicht.« – »Aber ich bin bei den lockeren Sitten geblieben«, sprach zur allgemeinen Verblüffung die Patronne. Lecoing schlug seine nackte Brust. »Ich verstehe schon längst nicht mehr. Wer sie aber jetzt noch versteht, darf vieille cruche zu mir sagen.« – »Vieille cruche«, flüsterte der junge Philippe.

Er war bescheiden. Was er enthüllen konnte, erfuhr nur Maria Piccini: ihr schuldete er seine ungewöhnliche Kenntnis, empfangen in dem ärmsten Herzen, dies eine Mal vergibt es seinen Reichtum, dann schweigt es. Philippe flüsterte: »Marie, Kobalt muß sterben, denn sie hat ihren Geliebten wieder.« – »Welchen Geliebten?« – »Um dessentwillen sie so lange keusch war. Sie muß nicht weiter darben, sprengt die Bank, stirbt.« – »Das hast du ganz allein gefunden?« – »Nein du. Ich les es von deinen Augen – von deiner Brust.« – »P'tiot, t'es trop malin. Der Junge ist mir zu raffiniert. Sag auch noch, daß Vogt keusch war.« – »Die hat nur den Ehrgeiz gehabt, eine ehrbare Frau zu sein.« – »Den hab ich auch.« – »Das macht der Abstand, zwischen euch und Kobalt. Sie war nie ehrbar, sie war keusch.«

Ihr Gesicht nahe dem seinen, riß Marie ein einziges Mal die Augen auf, dann flüchtete sie, wäre am liebsten in einer Menge untergetaucht. Sie fand nur den anderen Knaben, Félix, der war so herzlich dumm. Yvonne, in der voreiligen Annahme, die beiden, Marie mit Félix, seien vereint, segnete sie. Marie brach in Zorn aus. »Madame, Sie sind rührselig wie die Nutten. Was machen Sie für Komödie? Sie vergessen wohl, wer Kobalt ist, eine Gräfin, berühmt, reich, aber Sie? Sogar Monsieur Lecoing schwankt. Stürben Sie aber an demselben Tag wie Kobalt, alles liefe zu ihr, sogar wir. Délaissée, vous serez réduite à vous morfondre dans votre boîte – sur un lit de roses«, ergänzte sie, damit das Bild annehmbar wäre.

Die Patronne seufzte bei der Vorstellung ihres eigenen Sarges, weiße Seide, Rosen, das verklärte Angesicht wie zwanzig Jahre. Nochmals stöhnte sie, als sie bemerkte, daß sie sich mit Kobalt verwechselte. »Heute früh das Brot, déjà je me mettais dans sa peau; was ihr heute widerfahren sollte, wußte ich voraus, wir waren nie auseinander« – dachte sie aufrichtig. Die noch so lange Entfremdung ist aufgehoben, das Ende kommt. Es kommt für die eine. Die zweite in ihrem Laden ist die gewöhnliche Frau, sie liest den Roman der anderen, will, daß es ihrer sei, begreift, warum mit dem Tod das Glück eintritt. Nicht bei ihr, aber sie stirbt auch nicht.

Das Erscheinen des jungen Moineau war allen ein Rätsel; die leere Straße, die Mitternacht. Maria Piccini hat ihn gerade erst kennengelernt, ihm ist ein Besuch im Laden streng verboten, er hätte ihn gewiß unterlassen. »Kobalt schickt ihn«, sprach Madame, bestimmt genug, daß Marie ihr glaubte. Sie blieb zurück, als Madame zu ihm hinausging. Hier fühlt noch einer, Philippe, ein Bäckerjunge, daß er gemeint ist. »Du wirst mir treu bleiben«, erklärt er fest. Marie lacht ihn nicht aus. Eher fürchtet sie sich vor ihm. »Wie hast du vorhin geredet? Mein Lieber, das geht nicht, du bist kein gestürzter Engel. Steig hinunter in die Backstube.«

Das tat er alsbald. Alle Bestimmungen dieser Personen vollzogen sich von jetzt an ohne Widerstand. Nach ihrem langen innigen Geflüster mit einem Liebhaber ihrer Angestellten, den sie das erste Mal sah, kehrte Madame Yvonne für Augenblicke in die Küche zurück. Sie entschied: »Marie, ihr beide könnt gehen.« Wortloser Abzug Maries mit ihrem neuen Freund. Philippe war nicht mehr da, er weinte anderswo. Den hübschen Félix legte die Patronne aus eigener Macht in die Arme der phlegmatischen Camille, damit sie nicht beiseite bleibe. Für sich selbst sorgte sie entschlossen, nahm Lecoing beim Arm, erhobenen Hauptes brachte sie ihn auf den Weg zum Hochzeitsbett. »Bis frisch gebacken wird, haben wir zwei Stunden«, bestimmte sie. Auch verfügte sie über Antoinette, die unter Flaschen schlummerte. »Wir werden sie einschließen, sie hütet den Laden.«

Sogleich stand die Alte rüstig auf den Füßen, war draußen vor dem Paar, dem sie noch zurief: »C'est vous les fatigués.« Dies ihr Dank für den Abend. Der leere Widerhall trug das letzte Wort bis zu dem jungen Paar, weit vorne. »Voilà les braves gens«, sagte Maria Piccini, »les voilà bien. C'est pourquoi j'adore Kobalt.« Moineau sagte: »Du sollst sie feiern. Wir finden sie an dem rechten Ort, wo sonst. Wenn ich berühmt wäre …« Maria, schnell: »Unsinn. Woher willst du sie kennen?« Dies gestand er nicht. Der Bäckerin Yvonne Vogt hatte er es anvertraut, da sie mehr als er, mehr als alle zu wissen schien von Madame la Comtesse de Trône.


 << zurück weiter >>