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Dieser Tag war lang

Die Szene bei Vogt hat ausgespielt, Marie und ihr Jüngling tanzen wieder, bei Lydia ist niemand. Ein ausgelassenes Fest, aber wie häufig bleibt die Gefeierte allein. Wem ist etwas zugestoßen? Die Ereignisse lassen seit achtzehn Stunden keine Lücke, man wird verwöhnt. Lydia wünscht, daß langweilige Leute es vermeiden, sich anzunähern. Die Haltung einer so angesehenen Erscheinung wird begriffen. In der Stimmung auszuschreiten wäre man gewesen. »Weshalb sie mir nicht zutrinken? Zuletzt, weil ich vergessen bin, auch dies wieder vergessen, wenn mir das wehtäte.«

Léon Jammes, auf einmal war er da. Sie nahm die Zigarette von der Lippe, die sie alsbald neu färbte. »Es scheint, hier soll uns nichts zustoßen. Wie steht es?« – »Verzweifelt, aber nicht ernst«, antwortete er in Lauten, die sie wirklich überraschten. Auch das Folgende sprach er deutsch. »Man darf uns nicht verstehen.« Mit beinahe stummen Lippen: »Um uns kreisen Gestirne, die Monsieur Laplace in sein System aufgenommen hat.« – »An ihn glauben Sie?« – »Bis er den Hals bricht. Dann werden Journalisten erschossen, der fette, der uns beobachtet. Industrielle werden nie erschossen. Aber wer weiß«, sprach Léon Jammes.

Er setzte sich, gab ihr Feuer, holte seine Pfeife hervor, ohne sie anzuzünden. Während er sein Getränk bestellte, in demselben Ton, der Kellner meinte, es sei für ihn – so vorsichtig versteckt, deutsch überdies sagte er: »Ihre Mappen, wenn Sie es wissen wollen, sind gestohlen.« – »Seit Sie deutsch reden, ahnt es mir.« Er hatte die Mitteilung eine Weile zurückgehalten, sie ging auch nicht gleich darauf ein. Sie erinnerte sich: in Paris, zu den Zeiten ihres Gatten, des Präsidenten der Société des Tabacs d'Orient, saß sie eines Abends neben einer Herzogin, die, ganz wie Léon Jammes, plötzlich ins Deutsche verfiel, aber in ein altes Deutsch, rauh und fremd, man dachte: wie ein Pandur. Woher sie das hatte? »Meine Verwandten sind alle in Österreich.« Zu verstehen: Tote von Jahrhunderten.

»Sie wollen sagen, ich spreche barbarisch?« fragt er. »Das gerade Gegenteil, wie Sie natürlich wissen. Zu sehr geschliffen. Die tiefen Schichten der Vergangenheit kehrten im Munde meiner Herzogin wieder. Bei der Gelegenheit: mit den Mappen ist gewiß auch unser Freund weg.« – »Der lahme, Sie erraten es. Überdies der andere, der die Mappen trug, von dem wir es nur wenig erwartet haben.« – »Sie sagen?« Er wiederholte nicht erst, sie hatte verstanden, diesmal leugnete sie kein Erschrecken, sie lag, halb ausgestreckt, an der Rückenlehne. Er murmelte: »Achtung auf den fetten Beobachter« – wobei er sein Glas gegen ihres stieß. Die Milch war ausgetrunken.

Sie erfaßte das leere Glas, mit Anstrengung kam sie hoch, sie schien sich an dem Glas hinaufzuziehen. »Des bêtises«, sagte sie versehentlich, begann aber ein leises Gelächter. Sie lachte gedämpft, in milden Glockentönen. Léon Jammes fürchtete ein Gefühl der feierlichen Rührung, das bei ihm mitklang – ungewohnt, noch nicht begriffen. Er lernte es kennen wie sonst die Anzeichen seiner kranken Leber: sie melden sich, bald werden sie ihm geläufig sein. »Alles ist anders, als es mitten im Leben war.«

»N'importe, on se sera bien amusé«, sagte er aufgeräumt, hielt den Ton auch fest, als er wieder deutsch sprach. »Ein Freund wie dieser hat uns nicht verraten. Ihr Jugendfreund, es wäre schauderös.« Das Wort, eine Parodie, sollte sie belustigen. Sie bat, wie zum Scherz: »Monsieur Léon Jammes, Sie sind ein guter Mensch, lange weiß ich es noch nicht. Jetzt wenigstens geben Sie mir die Wahrheit!« – »Ich finde nichts«, gestand er. »Einen habe ich im Auge behalten, der aber war wahnsinnig oder verstellte sich. Der andere inzwischen tanzte. Nach unserer Jagd verschwand auch der meine auf der Tanzfläche, wo er verlorenging, der andere war es schon, mit den Mappen.«

»Was Mappen. Wo ist Fernand?« Dies war nun der Aufschrei. Er hatte ihn von allem Anfang, bei aller Vorsicht, für unvermeidlich gehalten. Den Namen wollte er nicht gehört haben. Sein Blick verließ langsam ihr Gesicht, ging an ihr nieder, schließlich betrachtete er den Tisch. Léon Jammes sprach nicht mehr. Lydia, unhörbar: »Der Wahnsinnige hätte ihn …?« – »Getötet?« beendete er. »Wo würde er ihn gelassen haben? Wo sich selbst? Mein Chauffeur, ein Polizist, paßt draußen auf. Jeder, der fliehen will, wird den zweiten Wagen stürmen, der fährt ihn nach dem Kommissariat. Ein geheimer Ausgang ist unauffindbar. Ich tue unrecht, Sie aufzuregen mit unfertigen Geheimnissen. Oder sind es keine? Was wissen Sie, Lydia?«

»Nichts von dem Diebstahl. Aber ich kenne den Dieb.« – »Sie wollen ihn nennen?« – »Wenn Sie mir versprechen, meinen Sekretär nicht zu belästigen.« – »Einen Toten? Oder lebt er, dann ist er der einzige, der seine nächsten Schritte kennt.« – »Léon Jammes«, sagte sie ihm in die Augen. »Ich rede nicht davon, daß Sie ihn verhaften. Er kann anderen in die Hände fallen, er wäre verloren. Er wäre um meinetwillen verloren.« – Er lachte auf; für die Umgebung scherzten sie. – »Denn Ihre Schwester in Brüssel arbeitet für den Krieg, die ernstgemeinte Verteidigung.« – »Ich zweifle nicht«, sagte Lydia. »Wenigstens meine Schwester weiß ich auswendig. Sonst niemand.«

Hier bildete sich eine Träne in ihren zu weit geöffneten Augen, sie mußte sie senken; der Haltung wegen sang sie die Musik mit, nicht übel, auch ein Triller gelang, nur daß die Stimme gläsern geworden war. »Unsere Verräter einmal an der Macht, können noch nicht die Fürstin bestrafen«, plauderte er. »Daher befindet sich die Schwester bis jetzt in Freiheit.« – »Und am Leben«, sang sie. »Nicht vergiftet, aber ich muß aufpassen.« Sie berührte nochmals das leere Milchglas. »Das ist alles, was ich den ganzen Abend zu mir nehme.«

Ein Augenblick. »Sie beargwöhnen die Wirtsleute.« Er hatte vergessen, einen künstlichen Tonfall einzuhalten. »Ich selbst ziehe in Betracht, daß der Mann gekauft ist.« – »Geschäftlich prahlt er, mehr als vernünftig.« Hier faltete sie ein einziges Mal die Brauen. »Seine Frau spielt die Obszöne, mehr als glaubhaft. Um sich aufzuspielen, kann man getötet haben. Die Frau haßt mich. Wenn dem Armen, der mir dient, etwas zugestoßen wäre, gerade dort konnte er es nicht erwarten.« – »Das alles zu wissen hätte sieben Minuten früher viel genützt.« – »Bei Ihrem Vorurteil, daß man im Grunde nur mir nachstellt?« – »On joue une valse, puisque vous avez envie de danser.« Er stand auf, er bot ihr seinen Arm, sie folgte wie zum Tanz.

Sie fragte weder wohin noch wozu: er hätte sich geweigert, sie allein zurückzulassen. Ob sie im Abgehen ihn noch bemerkten oder nicht, der fettleibige Reporter zog sein Notizbuch. Was konnte er schreiben? Sie hatten deutsch gesprochen. »Ce type-là va forcer son talent pour rendre ce qu'il n'a pas compris.« – »Si. Il y a un mot que j'ai choisi à son intention.« – »Lequel?« – »Obscène.« Die heisere allumeuse, Germaine, verließ einen Tisch, um zu sagen: »Au Cochon ça manque de surprises, obscènes ou autres. Vous ne trouvez pas, Monsieur Léon Jammes?« – »Zeigen Sie mir nur die Tür, hinter der ich auf Überraschungen stoße.« – »Très peu pour moi.« Die glitzernde Person verfiel auf einmal in äußerstes Mißtrauen. Sie war betrunken und eigensinnig. Sie hätte reden können.

Obwohl seine Begleiterin ihn am Arm zog, fragte Léon Jammes nach dem Ergehen der Wirtin. Wann war sie zuletzt gesehen worden? – »Das möchten Sie wissen. Avant qu'elle soit allée faire l'amour avec son homme. Beeilen Sie sich, Sie kommen noch darüber zu«, verlangte sie streitsüchtig. Ein plötzlicher Ausbruch sinnlicher Erregung machte, daß sie ihre Freundin Kobalt zu umarmen versuchte. »Ich verrate mich dir. Die Tür ist hinter dem Buffet.« Stark, furchtbar rauh, mit Bedeutung vielleicht, rief sie noch: »Dein geschminkter Junge tanzt wundervoll.« Hierauf war sie verschwunden, in dem zunehmenden Andrang; voll wie diesen Augenblick war es hier nie gewesen.

Die Überfüllung der Tanzfläche entzückte alle Welt, je gefährlicher es wurde, getreten und erdrückt dem Genuß nachzugehen. Paare gab es, mit Beinen so gut wie vertauscht, aber zeitweilig berührte keiner ihrer Füße den Boden. Eingekeilt, von fremden Körpern oben erhalten trotz ihrem eigenen Gewicht, erfreuten unbeachtete Gestalten sich ihrer vollzogenen Erhöhung über andere Köpfe. Der junge Faschist, der es nicht bleiben soll, war mit seiner Freundin in eben der Lage. Mitten aus dem Dicksten, von ganz oben, rief er: »Mado ist verlorengegangen, sucht sie!« Bei dem Überblick, den er hatte, konnte seine Aufforderung an Kobalt und ihren Polizisten gerichtet sein; sie standen am Rande, zwischen ihnen und der menschlichen Masse, die auch den Faschisten sogleich wieder wegdrehte, war ein Tisch.

Man gelangt, wohin man kann, sie jedenfalls sahen sich abgeschieden von der Masse vermittels eines Tisches, wenn es kein Buffet war. Nur die Getränke fehlten schon. Verzehrt wie sie war angeblich die zweite Verkehrsdame, Mado genannt. Weggeschluckt von derselben Menschenmasse – oder wie sonst? »Sie war liebenswürdig.« – »Und verräterisch?« fragte er, schonend, nur eines leisen Zweifels wegen. »Hätte sie Leslie ausgeliefert?« Den Namen Fernand vermied er, konnte ihn um ihretwillen sogar wegdenken. In den absichtlich vermischten Einzelheiten entwirrte er eine Tatsache: daß sie litt. Was von ihr übrig ist, leidet noch einmal, sei leise. Er hörte: »Wenn sie mich verrät, dann nur an eine Frau – die sie mehr liebt. Aber sie hat es nicht getan.«

Dies ließ er unentschieden. »Auf jeden Fall ist hier die Tür«, sagte er. »Nichts Neues, sie führt, schief herum, nach den Küchen.« Er drückte gegen einen ihrer Flügel. Sie hatte ihrer zwei, wie auch angemessen für eine ornamentierte Tür des Ballsaales. »Wir treten ein, Madame, bitte hinter mir.« Er hielt ihre Hand. Indessen taten sie nicht mehr als einen Schritt, sie konnten hinter sich die Tür nicht schließen, es wäre völlig finster gewesen. Der Gang nach der Wirtschaft lief schneckenförmig, kein erhelltes Ende wurde sichtbar. Geräusche, wohl, man hörte sie überhell, beherrscht wurden sie von den Befehlen des Wirtes. »Das ist nicht sein natürlicher Ton.«

»Hier ist mehreres nicht natürlich, versuchen Sie doch, über nichts zu erstaunen«, riet er. – »Es ist schon vorbei«, sagte sie ungewohnt kindlich, wie eine Bitte, sie nicht zu verlassen, ihre Sache nicht, noch sie, der es zeitweilig dunkel vor Augen wurde. Wußte er es? Er bat, sie möge an den Türflügel gelehnt ihn offenhalten. Er war genötigt, die lichtlose Schnecke von Korridor zu untersuchen. »Nichts«, meldete er hinter den Windungen; es klang heller, als wenn er neben ihr stand. Auch der Wirt hatte gehört. »Wieder Sie«, ließ er vernehmen, unverbindlich, mißtrauisch, mit einem Unterton von Anspielung, es konnte heißen: »Wozu noch.«

»Ich störe Sie, Ihre Gäste wollen soupieren. Aber geben Sie den Weg frei, bei Ihnen gehen zu viele Leute verloren.« – »Ihre Gräfin auch schon?« Dies folgte ganz ohne Besinnen, entsetzt offenbar. Dann widerrief der Wirt seinen Schrecken, er wurde höflich. »Donnez-vous la peine d'entrer, cher Monsieur. Alle Räume sind so voll von Personal wie vorher, als Sie noch kein Kidnapping vermuteten.« – »Danke, genügt«, sagte Léon Jammes. »Der Mann mit den Mappen liegt wohl in keiner Bratpfanne?« Er hatte geflüstert, aber man hörte, dies und die Antwort. »Blagueur, va.« Der andere dämpfte seinen Ton aus Gefügigkeit, der Besucher ging schon.

Der Wirt des Cochon sans rancune begleitete ihn, plötzlich besorgt, durch zwei erste Windungen. Vor der nächsten hielt er an. »Sie haben Licht eingelassen, wer hält Ihnen die Tür offen«, sagte er und schien zu ersticken: es war beachtenswert, fand Léon Jammes, einen Augenblick zu spät. Ein Schuß knallte – beträchtlich, dank der Akustik des vertrackten Ganges. Enteilende Schritte, dann Stille. »Nichts«, sagte Léon Jammes, ruhig wie das erste Mal. Noch fühlte er Luftzug von dem Geschoß oder glaubte zu fühlen. Da es seinen Kopf verfehlt hatte, mußte es in der Wand stecken: die Wand ging von der Flügeltür aus, sie führte, massig und lückenlos, nach hinten.

Aber das Geschoß steckte nicht in der Wand, es hatte sie durchschlagen, sie war nur massig angestrichen, ihre Lücke kannte er auch schon. Er hatte darauf gerechnet, daß sein Anblick die tapfere Frau sogleich beruhigen werde. Sie lächelte sogar, als sie ihn empfing. »Ich sage Ihnen voraus, daß Sie niemals fallen werden.« Er blickte in ihr kleines blasses Gesicht, das zusammengezogen war von der Anstrengung, aufrecht an dem Türflügel zu lehnen. »Elle a les yeux bleus«, sprach er, als Ergebnis der Betrachtung. Sie dachte: »Er wird es noch morgen wissen. Aber das ist Nachwelt«, dachte sie, beinahe fröhlich.

Ihre Bewegung sagte ihm, daß sie allen seinen Einfällen folgen werde, Erklärungen überflüssig. Ohne Aufenthalt, wortlos machte er sich an den zweiten Flügel derselben Tür, der, wie vorhergesehen, nicht aufging. Der Ansatz und Verlauf der falschen Mauer hinter dem ersten Zugang hatte ihn überzeugt, hier sei ein zweiter, er öffne ein verheimlichtes Innere. Dies war die notwendige Lücke, war leicht festzustellen, wenn die Augen im Dunkeln sahen und eine Kugel ein Loch schlug. Für lange soll sicher nichts verheimlicht werden von der Tür eines öffentlichen Tanzplatzes, die kein Schloß hat. Aber sie gibt nicht nach. Drüben hält ein Riegel sie oder Gegenstände, die den Druck zurückgeben.

»Wir haben Zuschauer.« Als er zögerte anzurennen, sagte sie es, widersprach sich aber sogleich. »Warum hilft niemand? Ein einziger Betrunkener sollte sich losreißen aus der zähen Masse, die sie umtreibt.« – »Hier ist er«, antwortete der junge Faschist, der es nicht bleiben wird. »Ich habe es mit der Tür schon aufgenommen. Diesmal bin ich bewaffnet.« Er warf sich auf den Boden, in den Spalt unten wollte er ein langes Messer stoßen. »Halt«, befahl Léon Jammes. Der Jüngere sah auf. Betrunken oder nicht, er hatte begriffen. »Es könnte etwas Weiches treffen?« Er verlangte keine Antwort, seine Augen gingen zu der Frau über: wohin mit ihr, während einer von ihnen bloßlegte, was verdeckt war. Er stand auf, die Schultern des anderen waren kräftiger.

»Lassen wir ihn machen, wir sind nicht neugierig«, sagte er. Da sie schwieg, suchte er unter dem gesenkten Hut, fand die Augen geschlossen, stützte auch schon sein Knie gegen den offenen Türflügel, daß Madame nicht abrutschen konnte. Sie bewies, daß ihr nichts entging. »Dasselbe tat, auf der Straße, bevor ich eintrat, Mado, die wir sogleich entdecken sollen.« – »Wenn Sie es wissen.« – »Niemals hätte ich eintreten dürfen.« – »Vielleicht nicht, vielleicht doch. Verzichten auf ein schönes Fest? Mit Rücksicht auf Zwischenfälle, die, so oder anders, unvermeidlich sind? Ich kann sie Ihnen beschreiben, damit Sie nicht überrascht sind.«

Jetzt umklammerte sie, ohne Zurückhaltung, den Arm, der sich anbot; jeder von beiden hatte mehr zu beachten als ihre, seine Gesten. »Wie schrecklich langsam er die Tür fortschiebt«, klagte sie. Musik, die schleifenden Füße, aufgerissenen Münder verschlangen den armen Laut ihrer Furcht. Der Unbekannte, der sie aufrecht hielt, hörte nichts, er wiederholte: »Ich kann sie Ihnen beschreiben.« – »Langsam wie die Folter geht es«, wiederholte sie. »Zum Teufel, wollen Sie hören«, verlangte er. »Der Deckel wird früh genug entfernt von den versammelten Leichen. Nein doch, meine Zunge gehorcht mir nicht, von den Liebenden, will ich sagen.«

Léon Jammes verwendete mehr Vorsicht als Kraft. Sooft die Tür um ein Geringes wich, untersuchte er, hingehockt, wie weit er gehen dürfe. Eine Hand, die endlich hineinlangte, zog er schnell zurück. »Wer ist als erster hinter die Tür gefallen oder hineingezogen?« fragte er. »Das will ich Madame die ganze Zeit erklären«, begann der junge Maurin. Sie unterbrach. Sie hatte nichts zu sagen; nur noch den Augenblick nicht hören müssen! Aber die Ohnmacht, die sie sich nur zu erlauben brauchte, blieb aus. »Was wollen Sie gesehen haben, als Sie sich mit der Masse drehten? Dieselbe Masse nimmt nicht wahr, was wir tun.« Sie mußte denken: »Wir sind unsichtbar, worüber sollen wir noch erstaunen, das übrige weiß ich.«

»Wenn Sie nicht reden«, drohte Léon Jammes dem Jungen, »stoße ich Sie durch den Spalt und überlasse Sie den ausführenden Organen.« – »Sehr freundlich, aber machen Sie den Spalt weit genug, dann brauchen Sie meine Lügen nicht. Ihr Scharfsinn genügt.« Der Junge hielt auf seine Würde. Außerdem wollte er, als es zu spät war, Madame verdrängen. »Die Polizei!« warnte er. »Da ist sie, Präsident Laplace in eigener Person, haben Sie gedacht, er ließe es sich nehmen?« Erst hier handelte Maurin wie ein Betrunkener; es hatte zur Folge, daß er erstaunt zurückblieb, als Léon Jammes die beschützte Frau nicht zart, nur recht und schlecht nach sich zog.

Sie stiegen über etwas hinweg, der dritte hätte sagen können, über was, wenn es auch falsch war. Nach seiner Beobachtung war ein Wahnsinniger, der gefährlich wurde, dort innen niedergeschlagen von dem geheimen Agenten selbst, der nunmehr auf diplomatischem Wege das Opfer beseitigte. »Etwas vorzumachen, mir, der ich noch ganz anders verfahren wäre mit meinem Freund Lehideux. Wie ich sieht ein klassischer Zeuge aus.« Dies die Illusionen eines nicht besonders tüchtigen Knaben, lebt auch nicht lange; als seine Freundin ihn von einer Tür der verschlossenen Tatsachen fortholt, ergibt er sich ihr gleich und weint sehr.

Hinter der Tür war es eng, den Boden, am Fuß einer schmalen Treppe, deckten zwei Körper. Zwei Personen, die sie besichtigen wollten, fanden den Platz nur an die Tür gedrängt; im weiteren ist sie unbeweglich. Er fürchtete nicht, Lydia zu sich zu nehmen wie sein Kind; auch auf die Knie hätte er sie genommen. In einem Lebensalter, wenn dies kaum vorkommt, verleiht es einige Sicherheit, daß man liebt. Ob sie will oder nicht tröstet auch sie die Wärme ihres Liebenden, Léon Jammes, über den ersten Anblick der Entdeckungen, die er ihr zumuten muß. Sein Schutz, seine Wärme hielten ihr Erschrecken noch auf. Geduld, die Ängste werden folgen.

Zwei Tote, zwei Liebende, ihre Stellung erlaubte beides, sie war indezent oder schmerzlich. Was immer, vollzog sich unter einem bleichen, schwachen Schein, er filterte aus der Höhe der Treppe, die nicht hoch schien, aber das Licht entstand weiterhin. Die beiden Betrachter hielten an sich, der eine wog ab und verband. Sie blieb in der Macht des wirklichen Anblicks allein. Ein Schauder überlief sie kalt. Da liegt der Mann, den sie verleugnet hat, mißhandelt und erniedrigt hat – indessen er demütig die Strafe annahm, den Dienst versah, ihr Geld – und sein Leben – auf offener Hand trug. Hier liegt er.

Hier liegt Mado, ein armes Mädchen ohne Mißgefühl, in der vollen Freude ihrer Freundschaft für eine Fremde, die ihr nichts vergilt. »Beiden bin ich schuldig geblieben, ihr noch mehr.« Neuer Schauder. »Das ist Blut. An ihrem Nacken ist Blut«, versuchte sie ohne Laut zu melden. Um so heftiger brach ihr Schluchzen aus, es ging über in einen Kampf um den Atem. Keuchend, konnte ihr verstörtes Gesicht das seine nicht sehen, er hätte es auch nicht gewünscht. Er weiß, daß er in glückliche Gesichter des Lebens nicht oft mehr blicken wird. Dieses vom Leben mißhandelte wäre auserwählt: so unschuldig sind sein Leid und seine Reue. Er gäbe alles darum, es glücklich zu wissen. Die Dinge wollen, daß auch er es wieder nur peinigt.

»Hören Sie«, sprach er an ihrem Ohr. »Ich erkläre Ihnen, wie es hier zuging: recht milde noch, nach allem, was für eine Mordaffäre sprach.« – »Beide leben?« muß sie hier gefragt haben. »Beide leben?« Er hörte nichts, aber er antwortete: »Sie etwas weniger als er. Sie verteidigte sein Gepäck, als er schon auf dem Rücken lag. Sie ist schwer getroffen von derselben Hand, über ihn gestürzt. Wer es beiden besorgt hat? Der Typ, den ich verlor, als ich an Ihrem Tisch die Zeit verplauderte. Ihren Freund hat er, von hinten umschlungen, durch die Tür geholt. Niedergeschlagen oder nicht, Leslie ist bis auf weiteres ohne Bewußtsein oder tut so.« – »Das arme Mädchen hört uns noch weniger. Warum wollte sie Geld retten, mein Geld, vor einem Räuber, den man kannte.«

Sie kniete über Mado. Er sagte: »Nicht derselbe Räuber. Der lag auch schon, seine Spur ist sichtbar im Staub.« Sie küßte Mado, die nicht erwachte. »Wozu das alles, der Mann ist fort.« – »Er ist fort, weil von der Treppe her ein schwerer Gegenstand seinen Nacken traf. Wehrlos, war er leicht hinaufzuziehen, vorausgesetzt, daß eine kräftige Person ihn über das Geländer hob.« – Sie trennte blutigen Flitter von der armen Gestalt. – »Die kräftige Person?« – »Haben Sie selbst mir genannt.« – »Nicht weiter! Wenn Sie wollen, daß ich den Mut behalte, Mado beizustehen.« – »Sie wird es nicht brauchen«, sagte er, auf die Gefahr, daß sie sein Wort für tödlich nahm. Er benutzte ihren Schrecken, um sie von der Leblosen zu entfernen.

Ein Kampf entstand, so schonend er ihn führte. »Ich muß hinauf. Sie dürfen nicht bleiben. Um Ihr Leben geht es in Wahrheit, obwohl das Unglück andere trifft, gleich drei hinter einer Saaltür.« – »Sie übergehen den Schuß, der Sie verfehlt hat. Auf Sie will ich kein Attentat mehr lenken.« – »Übrigens bin ich da« – in den Wettstreit mischte sich eine dritte, besonders scharfe Stimme, wessen, begriffen sie nicht gleich. »Ich weiß selbst nicht«, es kam unter Mado hervor, »wie lange ich wieder da bin. Gehört habe ich nichts, gesehen noch weniger, als Sie, der Mann des Deuxième Bureau, mit Ihrer Gefährtin allein waren. Wenn mir recht ist, waren Sie zärtlich.«

Der ironische Komödiant, wie je. Léon Jammes überlegte nur solange ein Pfiff durch die Zähne währt. »Leslie, Sie waren niemals bewußtlos. Lassen Sie sehen, unter Ihrem blutigen Opfer haben Sie etwas versteckt.« – »Ihres! wollen Sie sagen. Ihr blutiges Opfer. Hätten Sie aufgepaßt!« Aber er half, die Flitter, Locken und das willenlose Fleisch von sich wegheben. Zum Vorschein kam die gekrönte Mappe, nicht mehr als eine. »Waren es mehrere?« fragte er töricht, mit den Fingern suchte er den Umriß seines Kopfes ab, nach Erinnerungen wohl. Nach so alten, daß sie einen weiten Weg hatten? Lydia aber sprach sie alle aus. Sie rief ihn: »Fernand.«

Léon Jammes wendete sich fort. Er verbarg ihnen sein Gesicht; niemand soll es erblicken in dem einen Augenblick der Unbeherrschtheit, als es endlich den Zustand des Mannes sehen ließ. Seit er Kobalt kannte, die vergangene Zeit der Ungewißheit, waren seine Eindrücke zusammengetragen. Sie entzückten ihn, er hatte nicht gewußt wie sehr. Nur, daß sie wie Wunden schmerzten, erfuhr er. In diesem Augenblick bekommt alles seinen fertigen Sinn: eine unerkannte Liebe als Zeichen des Endes. Wärest du wenigstens fehlgegangen. Nein, das Ziel war dieses, war die Trauer, war der Tod.

Ohne Hast erstieg er die Treppe. Drunten saß am Boden die Frau seiner Träume, davon abgesehen, daß er keine Träume hat, nur ein armes Wissen – sie spricht aber einen anderen Namen, den sonst verbannten Namen ihres einst Verlorenen. Wenn nicht die Verwundete an ihr lehnte, was täte sie. Der bleiche Mensch vor ihr, nach allen Wirren seines Wandels, stand er, sah darein wie ein Kind, hielt die Arme schüchtern erhoben, ob sie käme. Sie spricht: »Fernand, ich habe dich erwartet. Der Tag war lang.«


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