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Ein Blick hinter das Leben

Sie fragte nicht, welche Person; genug, daß jemand sie abhielt sich anzukleiden – im Beisein des Toten, den sie nicht verleugnen, der Jungfer, die sie nicht entfernen konnte. Angelangt bei der Glastür, das Gesicht schon für Besucher zurechtgelegt, fiel ihr ein, daß Manette dort hinten aufräumen konnte: nachsehen vielmehr, was los war. »Manette!« Nur keine erregte Sprache. »Sie kommen mit mir und nehmen endlich das Kaffeegeschirr fort.« Die Gegenwart des Präsidenten hatte es verhindert, aber das artige Mädchen wendete nichts ein, wurde noch artiger, öffnete der Herrin die Glastür, die schon offen war. Hier oder wo sonst, überall in der Amtswohnung eines Bankdirektors locken heute Geheimnisse.

Estelle hatte in die Scheibe geblickt, die Figur, die dastand, war fertig beurteilt: eine vornehme Frau, der eigensinnige Anzug wäre jedenfalls zu vermeiden gewesen; heruntergekommen, arm, muß man dennoch so nicht gehen. Aber der Anzug nahm ihr nichts. Er verkleidete sie kaum, verband sich eher der Haltung Kobalts, ihrem Ausdruck von Entferntheit, ihrer bedeckten Blässe, aber hier in gedämpfter Sonne schimmerte sie. Natürlich war es Kobalt, erstens, weil Estelle seit dem frühen Morgen die Phantasie von ihr voll hatte. Außerdem wird die Stimme es sogleich erweisen. Dies ist eine Kranke, aber Kranke ihrer Ordnung und Herkunft haben klangvolle Stimmen und behalten sie. Abgemagert, ja; aber andere Kennzeichen des Leidens werden von der Energie und dem Geschmack gezügelt, wenn man aus gutem Haus ist: soviel weiß Estelle.

»Madame, je suis à votre Service«, sagte die Frau des Bankdirektors, die sich anders ausgedrückt hätte – aber hinter ihr war etwas geschehen, vor sich hat sie Kobalt, die, wenn sie genug wüßte, Estelle fürchten muß. Statt dessen kommt sie freiwillig her. Augenblicke folgen, da Estelle der anderen mißtraut mehr als diese ihr. Die Bitte, Platz zu nehmen, die Antwort, der Besuch zähle nach Minuten, aber kein Widerspruch, als la dame de céans ihre Jungfer um frischen Kaffee schickt. Manette hatte vorgegeben, daß sie abräumte. Sie eilte, entschlossen, sehr bald wieder dabeizusein.

Die Stimme: »Es ist wahr, ich hatte heute noch keinen Kaffee. Eine kleine Tasse wird mir helfen, eine Unterredung steht bevor, ich weiß nicht, wie schwierig, ob nicht sogar verhängnisvoll.«

»Im Zimmer des Direktors«, sagte Estelle und schwieg schon wieder, damit die Stimme weitergehe, der rührend gebrochene Wohlklang der Höhe, dagegen Alttöne, die Kraft strahlen. Sie dachte: »So spricht dieser Schatten nach einem Leben stürmischer als meines, wenn ich ihren heutigen Zustand vergleiche mit ihren wahrscheinlichen Anfängen.«

Die Stimme: »Ich bin hier, Madame, weil Ihr Friede bedroht scheint. Mein Eindruck ist, daß nur einer hier Sie liebt.« Gleich am Beginn eine Prophetin; Estelle zog die Augenbrauen zusammen. Aber Kobalt war nicht zu beirren. »Das ist eine mir fremde Ausdrucksweise. Überhaupt schweige ich. Wenn ich Sie warne – vor dem Comte X –, tue ich es auf Ihr Gesicht hin: heute früh war es ahnungslos und so rein, ich hätte es beweint … Auch nicht mein Stil, aber seither ist mehr geschehen. Vor dem Comte X waren Sie hilflos. Haben Sie sich besser verteidigt gegen einen anderen, gefürchteten Angreifer? Er muß vor kurzem von Ihnen gegangen sein. Ich bin sicher, daß er Sie in seine Gewalt bringen will. Ich weiß, daß er Sie nötigt, ein Unrecht zu begehen, es muß Sie trennen von Ihrem Mann – ein guter Mann, ich habe nicht ihn aber Sie gesehen. Man will euch trennen für euer beider Unglück, euer endgültiges Verderben.«

»Auch ihres«, dachte Estelle. »Kommt sie nicht deshalb? Was hat sie auf dem Gewissen?« Sie selbst unterbrach nicht, sie lauschte beherrscht, nur ihr Herz klopfte.

»Deshalb komme ich«, warf Kobalt, ohne Zeitverlust, in ihren eigenen Bericht ein. Sie konnte ihre persönliche Gefahr meinen oder was Estelle bedrohte. Vielleicht ist es wahr, sie kommt und bezeugt, nachdem sie Estelle gesehen hat – zur Stelle gewesen ist, als Estelle dem ausgeglittenen Comte X die Hand reichte; will sich aber versichern, ob die Unschuld echt ist.

»Sie ist echt«, dachte Estelle. »Sieh nur her! Ich habe in diesen Zimmern viel gesprochen, angehört noch mehr, beinahe auch getan. Willst du glauben, daß ich, das Betäubungsmittel schon in deinem Kaffee, dir noch immer das reine Gesicht zeigen würde? Nicht, weil ich es als Schauspielerin gelernt habe, das versagt, wenn du sprichst. Du darfst nicht sprechen, dann pocht mir das Herz. Auf einmal erscheint mir, wer ich bin, was aus mir wird.« Ihre Gedanken huschten durch vage Hintergründe, während sie nur hörte. »Ich danke Ihnen, daß Sie mich reden lassen«, sagte die Stimme, die nie ausgesetzt hatte. »Jede Minute zählt. Bei dem Direktor ist der Polizist, er macht mich Ihrem Gatten interessant. Seit heute früh kann er ihm auch von Ihnen berichten.«

»Wenig und unverbindlich.« Estelle war schon wieder zu Ende. Ganz schweigen, sie fühlte, es müsse Mißtrauen erregen. Nur noch dies: »Über Sie wird er nicht genauer unterrichtet sein.« Estelle sagte es aus Takt, die Kranke vor ihr hatte nötig, ihren Atem zu ordnen, wie sie tun, um dem Husten vorzubeugen. »Wenn es so stände«, begann sie wieder. »Aber Léon Jammes ist mein Feind. Er hat mich verfolgt, bevor Sie am Ort waren, als ich, von ihm abgesehen, nur erst der Neugier begegnete, keinem Haß.«

Estelle denkt: »Das hat mir gefehlt, eine Verdächtige bei mir, die ich heute mehr als das bin.« Der Tote in ihrem Kleiderschrank wurde gegenwärtig wie je, er war mehr oder weniger verdrängt gewesen von dem Anblick der Frau, ihres beschlossenen Opfers, von der Bedrängnis in dem kleinen blassen Gesicht. »Wir dürfen uns nicht fürchten«, sprach Estelle.

Gleichwohl haben sie, ob länger oder nur diesen Atemzug, zusammen Furcht gefühlt. Werden sie deutlicher werden, hierüber? »Weil ich sie betäuben soll, weil betäuben nur ein Wort für ein anderes ist, und sie dergleichen ahnt?« Dies denkt Estelle. Die andere drückt sich aus. »Hören Sie, es ist ernst. Ich hatte nur den einzigen Grund, mich Ihnen aufzudrängen, daß ich kein Unglück wünsche – ich kenne Unglück genug, und nicht noch eine Unglückliche – mit Ihrem Gesicht – das mir verwandt erscheint wie – wie auch Ihre Herkunft.« Dies alles schon mit Pausen des Würgens, worauf dann der unterdrückte Anfall ausbrach.

»Herkunft?« fragte Estelle schwach. Die Erstickende war mit ihrer Atmung beschäftigt, beruhigte sie übrigens in gewohnter Weise. Folgte eine leichte Bewegung der Hand: Gleichgültigkeit gegen das Leiden war ihr Sinn. Es wäre sogar Demut gewesen, nur daß die Hand für Gebärden der Demut schlechthin nicht gemacht ist. »Ça va«, dachte Estelle, verstimmt, weil unsicher. »Mag sein, daß Mitleid nicht am Platz ist«, dachte sie, »sondern man hat den geschuldeten Abstand zu nehmen von der vornehmen Ausnahme, die es nach Demut verlangt. Eine Arbeiterin wie man sieht, mit rauher Handfläche und vierzig Ahnen. Die Finger sind fein geblieben, hier war stärker die Geburt als alle grobe Arbeit. »Désormais la paume est gâtée de s'être prêtée à des gestes qui n'étaient pas d'une dame bien née. Qu'a-t-elle fait cette Kobalt pour garder les doigts effilés genre marquise du dixhuitième, et encore, eile dépasse les personnages historiques?«

»In Typ und Herkunft erinnern wir unbestimmt aneinander«, wiederholte die Fremde nach überstandenem Husten. Ihre Stimme hatte denselben Zauber, sinnlich zu fühlen, besonders in der weicheren Sprache, die sie plötzlich gebrauchte. Estelle antwortete nicht, erstens war sie betroffen, die Laute einer kleinen, vergessenen Gemeinschaft wiederzuhören. »Kindertage«, dachte Estelle. »Sieh da, es waren auch ihre.« Außerdem trat Manette ein. »Nous disions …« sagte Estelle, als wäre nichts geschehen; wußte aber, das Mädchen habe hinter der Tür gehorcht.

Manette reichte der Besucherin die Tasse, wobei sie ihr unter den Hut spähte, eine bisher versäumte Unverschämtheit, ausgeführt wurde sie lieblich. Kobalt dankte für den Dienst, nur Estelle wurde streng. »Was ist dem Topf geschehen?« – »Von mir nichts«, versicherte die Jungfer, so leichthin, daß Madame bemerken mußte, bei ihr entschuldigte sich niemand. Gemeint war zweifellos: »Jetzt die fremde Sprache, vorher den silbernen Topf hinwerfen, dort draußen, wo man auch sonst die Augen aufmachen sollte. Madame darf sich gesagt sein lassen, daß sie nicht natürlich ist.« – Madame begriff es. »Sie können gehen«, sprach Estelle.

Kobalt setzte die Tasse auf den Tisch, endlich wurde sie aufmerksam auf den Topf, ein merkwürdiges Gerät, und daß es beschädigt war. Der Pfau war von ihm abgefallen, und sie erkannte ihn. Während ihrer ganzen Kindheit hatte er über dem Henkel der schmalen Kanne sein Gefieder ausgebreitet, den Schweif in Filigran, gesponnenes Gold, besetzt mit noch helleren Punkten, die Edelsteine waren. Eine Sache, die nicht leicht zweimal vorkommt, kaum in demselben Leben, das damals klein war, jetzt ist es verspielt und vertan. »Mais c'est le paon«, flüsterte sie. Wer es ihr bestätigte, diesmal von selbst in der slawischen Sprache, war Estelle. Sie sahen einander an, wie wenn man alles vergißt. Unvermittelt wurde weitergeredet. »Sie haben mich warnen wollen. Ich fürchte, es ist zu spät.« – »Für alles?« fragte die andere.

»Bei meiner Seele, nein. Das zweite Unglück soll ausbleiben.« Wie erschrocken, Estelle! Das Betäubungsmittel fällt dir erst hier wieder ein? Alles Folgende kam Schlag auf Schlag, das bittere Leben, das Verfolgtsein. »C'est que la vie est atroce«, sagte die eine. »Elle n'est peut-être que futile?« fragte die andere. Estelle denkt: »Das Leben, nicht ernst zu nehmen?« Sie beharrte: »Sind Sie es schon gewohnt, verfolgt zu werden? Ich nicht.« – »Ich auch nicht.« Da bat Lydia, sie hier aufzunehmen. »Je vous demanderai asyle.« – »J'allais vous l'offrir. Comment l'oser: je déciderais votre perte, et la mienne.« Estelle zitterte und flog. Kaum war zu verstehen, daß sie die Bitte ablehnte. Was für Gefahren, für sie beide! Das Betäubungsmittel. Der Tote im Schrank.

»Je vois cela d'ici«, sprach das kleine blasse Gesicht, die Augen sinnend abgewendet – nach der Glastür.

»Regardez-moi dans les yeux«, bat Estelle, vor Bedrängnis heftig wie ein Befehl. »Si vous m'aimez …« sagte sie sanfter. Aber »wenn Sie mich lieben«, wird doch nur wahr, sobald man selbst liebt? Nicht Kobalt, Estelle war den Tränen nahe. Sie hätte gestanden: »Ich wage nicht dort hineinzugehen. Sie sind mutiger und sind unschuldig. Sehen Sie nach!« Noch wollte sie sich hüten, dramatisch zu sein, beugte aber schon die Schultern und Arme hinüber wie zu einer Gefährtin. Diese, in Erwartung der Worte, neigte sich entgegen. Leicht vorgehalten waren auch ihre Arme.

Da wurde geläutet, kurz und schrill. Beide erstarrten. »Wer kommt?« fragte die eine. Die andere seufzte. »Niemand kommt. Von unten werden Sie gerufen.« Estelle ließ Kobalt aufstehen, sie selbst blieb sitzen, schlaff von einer verfehlten Bewegung, die alles verändert hätte. Aber Estelle würde sie nicht nochmals begonnen haben. Kobalt wird nie mehr, nach gemachter Entdeckung ihrer Lage, vor ihr davonlaufen oder ihre Freundin sein. »Zehn Minuten«, sagte sie. »Wirklich, nur zehn Minuten waren Sie bei mir?«

»Genau meine Zeit. Es soll nicht vergebens bleiben.« Dies der Abschied der vorübergehenden Erscheinung, die aufbrach. Noch lagen zwei Hände ineinander. Estelle: »Sie werden Frédéric sehen. Vergessen Sie nicht: er ist ein Mann ohne Falsch. Mein Mann«, sagte sie. »Er liebt mich, und ich bin ihn nicht wert.« Sie erschütterte sich selbst; um so besser, sie war kaum zu verstehen.

»Ich habe ihn nicht zu beunruhigen – im Gegenteil, zu beruhigen, da ich Sie kenne«, erwiderte die fremde Frau, bevor sie sich abwendete und ging. Sie bemerkte wohl: es geschah einen Augenblick zu früh – wie Estelle begriff, daß sie selbst um ein Nichts zu spät aufkam und dastand. »Am Ende hätten wir dennoch einander in die Arme geschlossen … Was auch nichts beweist«, war ihr Nachruf an eine Person, die ihr schwerlich wieder begegnete. Ohne das Schlußwort: »Es beweist nichts« hätte sie die gehabte Szene schöner gefunden. Unweigerlich entschied sie sich für die Untersuchung im Ankleidezimmer.

Was dort ohne sie gespielt haben sollte, war ihr zuviel, sie hatte es satt, sich ängstigen und benutzen zu lassen von Leuten, die sie nichts angingen, dem Synarchismus, einer Albernheit. Man hat eigene Sorgen. Die Harmlosigkeit ihres Mannes, sein guter Glaube, an sie, die rein war, an den Krieg, gleichfalls ohne Hintergründe: mehr Probleme bedrängten sie als nur ein Comte X, und wäre er verunglückt in ihrem Kleiderschrank. Aber er war es nicht, dies seine neueste Zumutung, die sie alsbald feststellte.

Die Tür war wieder weit fortgeschoben von den zertretenen Kleidern, auch ein Anblick, und nebenan im Badesaal rauschte ein Wasserfall. Der offene Spalt zeigte den Herrn unter der Brause. »Ohne Zeremonie«, sprach er. »Dieser Laplace hat mich eine Ohnmacht gekostet. Die Erfrischung war geboten, wenn ich mich wieder sehen lassen sollte.« Die Antwort folgte pünktlich. »Wer verlangt Sie zu sehen. Lucien, sachez que même à l'état nu je vous ai assez vu.« Geistesgegenwärtig wie le Comte X sein konnte, fiel ihm mancherlei ein, obwohl es diesmal bei dem Einfall blieb. »Si je me mets à poil, c'est que vous voulez ma peau. Sie nennen mich Lucien, aus Zärtlichkeit für Ihr Opfer: mich haben Sie verraten an den üblen Greis, mit dem Sie schlafen werden.«

Nichts hiervon sagte er wirklich, da er sich vergriff und die Brause nicht abstellte, sondern aufdrehte, beide Hähne. Der Anprall verschlug ihm mehr als die Rede; die Fähigkeit einzugreifen verlor er auch. Er war blind, tastete, glaubte sich verloren, er flehte: »Helfen Sie mir hier heraus!« Er schrie es gegen das lärmende Wasser, das ihn sowohl erstickte wie erdrückte, es war ganz schrecklich, wie der Mann sich anstellte. Estelle konnte nicht laut genug lachen, betäubt war er sowieso. Aber er hatte sie gehört; sein erstes, als er sich endlich wunderbar gerettet fand, war, daß er sie perverse Bestie nannte.

Auch dies konnte er nur knurren hinter zusammengebissenen Zähnen. Sie lachte nicht mehr, vergaß sich abzuwenden, sondern betrachtete ihn, wie er hervorkroch aus der überschwemmten Nische. Ihm schien der jähe Wegfall jeder üblichen Würde so wenig auszumachen wie ihr. Fern von Ziererei zeigte er sich der Dame, mit der er philosophierte, anders als auf der Höhe der Daseinsbeherrschung: gekrümmt, männliche Abzeichen so gut wie ohne, starkes Hinken aus der sonst leidlich erzogenen Hüfte, die Nase, nicht wiederzukennen, unterläßt ihr Zittern, dafür steht sie quittengelb, eine erstaunte Fremde, aus dem Gesicht von weißem Papier.

Estelle war erst jetzt ganz eingetreten, sie weidete sich, an dem gesamten Lehideux, einschließlich seiner wütenden Blicke. Hier und da bekam sie einen, übrigens bekleidete er seine Blöße, unter fiebrigem Schweigen. Sie begann selbst. »Lehideux.« Als er getroffen war und gezuckt hatte: »Sie heißen le Comte X, weil ich Sie so genannt habe. X sind Sie, aber allerdings un spécimen hideux de l'homme quelconque. Sie wollen, mit Ihrem Terminus, ein Eigentlicher sein? Wenn ich an meinen tapferen Präsidenten denke. Er fürchtete Léon Jammes und mußte sich die Hände waschen, das war alles. Sie, Lehideux? Rückwärts haben Sie sich konzentriert auf der Flucht vor ihm, dem es selbst so wenig wohl erging; sind hinter meinen Kleidern in Ohnmacht gefallen, was nur für meine Kleider schade war.«

Sie wartete seinen wütenden Blick ab, der auch kam, als ob er ihr geschuldet wäre. Befriedigt sprach sie weiter. Er hatte mit ihr viel philosophiert, sie war an der Reihe. »Ein synarque legt einzig Wert darauf, existential ohne Beziehung zum ›man‹ zu sein. Das Dasein gehört nicht der Welt; umgekehrt, es unterwirft sie sich, furchtlos, mit Verachtung des Lebens. Ein synarque rühmt, daß wir zum Sterben geboren seien.«

Hier murrte der Mißhandelte, der weniger fest auf den Beinen als unter der Brause, daher noch immer ohne Hose war. Sie hörte etwas wie: »Zum Sterben geboren sind die Frauen nie – weil sie alles wörtlich nehmen.« Sie gab ihm Bescheid. »Ich verstehe durchaus, daß einfach das Sterben der anderen gemeint ist. Aus der Glastür brauchte der gute Mann Ihnen nur zu eröffnen, daß er Sie ermorden lassen werde: eine euch beiden geläufige Geistesrichtung, aber Ihnen, Lehideux, schwanden die Sinne. Nicht einmal unwillkürlich, sondern als Maßnahme Ihrer Angst. Gehört haben Sie dennoch.«

»Ich habe gehört, daß Sie mit ihm schlafen werden, was Sie bisher mit mir vollzogen hätten.« Dagegen sie, Schlag auf Schlag: »Sie vollzögen gar nichts. Soll ich mir umsonst Ihr Bad angesehen haben? Auch dabei mußten Sie um Schonung bitten.« Ein Fehler; die Mißhandlung darf vieles, aber nicht alles berühren. Jetzt war reiner Tisch gemacht zwischen den Freunden. Er, endlich auf den Füßen, wieder stark, da er sein Haupt mit der Melone bedeckte: »Sie werden bereuen, chère Madame. Für Ihre Leichtfertigkeit soll Ihr armer Gatte büßen. Ihn, und nicht mehr mich, wird der Präsident zu richten haben.«

»Für mein Geschwätz? Je suis une misérable. Quelle idée aussi de dire la vérité à un lâche.« Dies im Ton des stillen Jammers. Zu spät fiel ihr ein, ihren Revolver zu erwähnen. Da war er schon hinaus. Mit der flachen Hand schlug er auf seinen steifen Deckel – brauchte sich nicht einmal zu erinnern, wie auf der Bühne ein Sieger abgeht. Im Korridor begann er zu laufen, sie aber fiel drinnen auf den Stuhl, worin sie sonst saß, um ihr Gesicht herzustellen.

Elastischer als ihr abgedankter Philosoph, brauchte sie nicht lange, bis wieder feststand, ihr Auftritt, und der vorige, und was noch, seien unverbindlich, geschehen werde nichts, und keinesfalls dauern. Frédéric zu warnen übernahm Kobalt. Sie selbst muß für ihn rein bleiben, wie sie wirklich ist. In ihrem Spiegel sah sie nach: ja doch, rein wie je, nur müde. Die Unschuld, die einmal hinter das Leben geblickt hat und noch die Spur trägt, wird einen Mann wie ihn erst völlig rühren, so wenig er gewünscht hat, Estelle möge verstehen.


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