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»Die Frau Gräfin stirbt«

Es dauert wie es kann. Der Tag wechselt seine Minuten, sie gehören der Furcht, dem Leiden und dem Lärm. Sie sind für Schuld und Unschuld da. Seinen kurzen Anteil hat das Gewissen, ja, auch das Glück. Lydia und Frédéric werden nicht dem Tag immerfort Glück abgewinnen, obwohl sie es sogar stehlen. Die Geschäfte setzen alsbald wieder ein, ihre fragwürdigen Geschäfte. Lydia sah Frédéric den Schreibtisch öffnen und Geld herausnehmen. Als sie eine erschreckte Bewegung machte, erklärte er: »Sie haben Geld zu bekommen, Lydia.« – »Ich weiß«, sagte sie sofort. – »Sie warten, es ist überfällig, meinen Sie.« – »Meinte ich«, wiederholte sie gehorsam. – »Der Absender hatte Formalitäten zu erfüllen.« – Sie half ihm: »Ich stehe unter Aufsicht, Léon Jammes kann es bestätigen.« Er löste sie ab. »Die Sendung ist über Leon Jammes gegangen. Er hat mir das Schriftstück gezeigt …« – »Und es vernichtet«, beendete sie, selbst erstaunt.

Es schien, daß beide gemeinsam, nur füreinander, ohne anderen Zweck, die Komödie erfanden. Hatte nicht auch er vergessen, warum? Er gab ihr Geld, weil sie arm und seine Geliebte war. Mehr wußte er nicht, wenn er nach dem goldenen Beutel haschte, da sie den Beutel zurückzog – warum, eigentlich? Aus ihrem Lebensabschnitt des großen Reichtums, der völligen Unbefangenheit fielen ihr Züge ein: sie wären eher zu beanstanden gewesen, als daß man Geld für Liebe nimmt. »Was soll es aber?« fragte sie plötzlich, sanft, und so wohlklingend. »Frédéric, sagen Sie!«

Er lauschte. Als sie gesprochen hatte, lauschte er weiter, auf einen Nachklang, den nur er hörte. Er sah beseligt aus, das änderte sich nicht, als er sie an Estelle erinnerte. »Um ihretwillen. Wir waren über sie einig.« Gedankenlos stimmte sie bei, sie lächelte wie ihr Partner. »Ich muß aus gutem Haus sein – damit sie mir glaubt. So war es doch?« – »Die Familie ist wichtig. Fast so wichtig ist der Luxus«, sprach er, lehrhaft, als ob er lachen wollte. – »Damit sie mir glaubt!« Lydia hielt, auch beim zweiten Mal, das Wort nicht auf, aber jetzt bedeutete es mehr, es meldete die Wahrheit an.

Er hatte den Beutel gefangen und stopfte Pakete von Scheinen hinein. Sie beachtete es nicht, sie hatte Gedanken abzufertigen. »Glauben: was soll Estelle glauben? Daß ich Frédéric liebe – ihn nicht liebe – ihn ihr nehmen will – sie vor Unglück bewahren, aber sie vernichten will? Daß sie keinesfalls bleiben wird, die sie ist, ob er fällt oder mich liebt. Sondern die vielen Jahre später folgt sie demselben Weg wie ich, in Verlassenheit, Armut, Krankheit. Wieder Krieg, wieder verschwindet ein Mann, und eine ratlose Frau, unbelehrt, unwillig zu begreifen, lehnt sich auf: widersteht der Armut und tritt an leere Bankschalter, leugnet die Krankheit, weshalb sie auch nicht stirbt, nicht einmal stirbt.«

Ein großes Frostschaudern überlief sie ganz. Da der Mann von seiner Tätigkeit aufsah, traf er in leere, erweiterte Augen. Er fürchtet sich – vor ihr, für sie. Sie lächelt weiter, obwohl erstarrt. Dasselbe Lächeln hat sie festgehalten, solange er in den Sack stopfte mehr als hineinging. Oder wäre es, während seiner zweideutigen Beschäftigung, übergegangen in diese Ironie, die ihn erschreckt? Aber beide kennen einander. Das Geld hat nicht den Ursprung, den er behauptet. Sie nimmt es auch nicht, damit Estelle ihr glaubt. Was denn hätte sie glauben sollen: daß sie das Unglück wird erlernen müssen, nicht falsch mit ihm umgehen darf, wie Lydia. Nun gut, das ist Betrug; Lydia und Frédéric sind verabredet, Estelle niederzuwerfen, nicht, sie zu halten. Ihr Betrug wird aufgehoben, da sie in der Tat einander gehören. Bis in den Tod, so will es das Glück.

Hiernach schien etwas vollbracht und in Ordnung zu sein, beide schwankten oder warteten. War dies der Augenblick auszusprechen, was sie getan hatten, ekstatisch, aber stumm? Sagte man vielmehr auf Wiedersehen und beendete die unerhörte Stunde? Er, der kein Wort fand, nahm sich deshalb nicht zurück, sie wußte es. Unwiderstehlich wird er befallen von seinem Erstaunen über die große Wendung, das Glück, geboren aus Katastrophen, das Glück, das ihrer jede wert war. Er umfaßte seine Schläfen, die Daumen auf die Lider gedrückt. Als er zur Besinnung kam, war Lydia gegangen.

»Wohin mit ihr? Woher nimmt sie die Kraft?« Das waren Fragen; auf einen Schlag hatte er die Gewißheit, daß sie nicht wiederkam. Er begriff nicht, was er dachte. Lydia, für die er mit allem gebrochen, seine Existenz, seine Frau, sein Land, alles auf einmal abgelegt und verlassen hat, Lydia kehrt in dieses Zimmer niemals zurück; das war, was bevorstand, als er soeben vom Erstaunen betroffen war über die Wunder des Lebens und des Glücks. Es sind keine, er hat verloren.

Hier hatte er die Tür weit geöffnet – ohne sie aufzureißen, auch trat er nicht heftiger hervor, als er verantworten wollte. Zuschauer draußen bekamen Neuigkeiten nur soviel er ihnen erlaubte. »Sie befehlen einen Wagen?« fragte er, nicht zu leise, nicht zu laut, die Dame, seine Kundin, die noch da war: vorgebeugt, abgewendet, die Hand um die Lehne eines Sessels, desselben, worin sie vorher auf ihn gewartet hatte. Seine Anrede erwiderte sie einzig mit einem anmutigen Gruß des Kopfes, verließ ihre Stütze, tat den ersten Schritt. Zögerte, bewegte sich fort, vorbei an Alain, dem ältlichen Garçon, der unterdrückte, was in seinem Gesicht stand, und hilflos die Hände verschränkte.

Hinter ihr, nahe ihrer Schulter, folgte der Direktor, ein kurzes Stück Weges, seiner Besucherin, der er die Andeutung eines Geleites schuldete. Als er gesehen worden war, ließ er es genug sein. Man sah ihn hier im Vorraum, der mittlerweile besetzt war. Man bemerkte ihn bis in die Halle, viele wendeten sich her. Sie machten Front, was hier vorgehe mit Kobalt, die jeder kannte. Monsieur Frédéric Conard, ein zurückhaltender Mann, eher zu förmlich, sprach amtlich laut und jedes Wort betont: »À tout à l'heure, Madame la Comtesse.«

Hiermit hatte er sich verabschiedet. Niemand weiter wurde von ihm beachtet. Wäre er wirklich in sein Zimmer zurückgekehrt? Dann sah er sich aufgehalten. Sein getreuer Alain raunte ihm einen Namen zu. Die Folge war allerdings, daß er nicht ganz verschwand.

»Er ist im Hause?« fragte Monsieur Conard, eher gleichgültig. Seine Tür ließ er aufgestellt. Die Wartenden nahmen kaum übel, daß er sie alle übersah. Natürlich ist auf den Direktor nicht zu rechnen, bei seiner erstaunlichen Aufmerksamkeit für eine Gräfin, die er selbst erst ernannt hat. Manche zeigten einander Gesichter, die äußerst angeregt geworden waren. »Il a raison cet homme«, sagte eine starke Dame zu der zweiten, die erwiderte: »D'ailleurs c'est une fausse maigre.« – »Comme s'il pouvait s'agir de cela, un premier jour de guerre«, gab einer zu bedenken. Sein Nachbar war der entgegengesetzten Meinung. »Gerade das ist die Sache. Nous allons en voir bien d'autres. Jeder Krieg ändert sofort die Sitten«, sagte er laut, um gehört zu werden.

Auch das Publikum der Halle hatte die Verabschiedung der Besucherin bemerkt. Es mußte feststellen, wer die interessante Person wirklich war. Man sah sie aufgerichtet dahingehen durch die beträchtliche Reihe von Pfeilern, oft genug verschwand sie dahinter, aber sie war erkannt, Kobalt mit allen ihren Abzeichen. Eine dermaßen geläufige Erscheinung läßt gerade dies nicht erwarten, ein Auftreten ganz außerhalb ihres herkömmlichen Charakters. Die Geschäftsleute in der Halle schlossen plötzlich die Zähne; Zahlen, die herauswollten, wurden scharf abgeschnitten. Jede Gruppe hielt, Augenblicke lang, so still wie bei einer unvermuteten Aufnahme für die Zeitung.

Die Beamten des Hauses gaben, nach Natur und Witz, entweder ihre Überwältigung sichtbar preis: entschuldbar, das Ereignis betraf sie näher als das Publikum. Oder sie bewährten bei schwierigen Anforderungen ihre Kaltblütigkeit. Überall, wohin eine bevorzugte Kundin sich wenden konnte, stürzte einer an die Schranken, meistens gehörte er nicht dorthin. Der Kassierer, voll Erwartung, streckte beide Hände aus seinem Gitter; auch mit dem Kopf versuchte er es. Dort hinten die Sekretärinnen, verwachsen mit ihrem Tisch wie sie waren, rangen um die Freiheit, ihn zu verlassen, die Hälse wurden sowohl lang als muskulös.

Dagegen blieb der Buchhalter eisern sitzen. Seine Haltung machte deutlich, daß er von seinem Hauptbuch keinesfalls aufsehen werde. Seinen ausgelassenen Auftritt bei dem Direktor hatte Monsieur Pigeon nicht verdaut, im Gegenteil zweifelte er mehr und mehr, wie das Wagnis ihm bekommen werde. Das neue Verhalten des Gegners wurde von dem beklommenen Pigeon dahin verstanden, daß Monsieur Conard zum Angriff übergehe. Kobalt als Madame la Comtesse bedeutete eine noch nicht erklärte Gefahr. Abzuwarten war die Stellungnahme des Präsidenten Laplace. Sein nächstes Erscheinen konnte einen mutigen Mann entlasten, wenn es nicht einem magenkranken den Rest gab.

Bis jetzt gelang es ihm, sein Gesicht zu wahren. Kollegen, die sich nicht hinreißen ließen wie andere, nur den Zusammenhang hätten sie gern begriffen, wurden von ihm abschlägig beschieden. »Kobalt serait devenue Comtesse, que je n'y suis pour rien.« Mit Strenge: »Vous avez tort, Messieurs, de quitter votre travail pour si peu.« Natürlich wußte er durchaus, was sie meinten: Veränderungen, aber sie betrafen nicht so sehr Kobalt, trotz Rangerhöhung – wie Direktor, Präsident und Buchhalter, ja, ihn selbst. Der unterirdische Kampf um die Bank war die aufgeregte Sorge der petits banquiers. Pigeon, eine Hauptfigur des Kampfes, fand plötzlich wieder Grund, sich zu bewundern.

»Aber Monsieur Conard will sie gleich nochmals sehen, er hat es uns laut genug gesagt.« Den Einwand wagte ein junger Blonder, der nur mit einem Ohr bei dem Gespräch war. Seine Augen begleiteten die nunmehr Geheimnisvolle auf ihrem Weg durch die Allee von Pfeilern. Der Weg betrug die ganze Front des Gebäudes, aber wirklich ausgedehnt wurde er, weil so viele zusahen. Beobachter in gewisser Anzahl stimmen selten überein, und alles erfaßt keiner. Der Tisch des Buchhalters stand günstig, am äußersten Flügel des abgeteilten Inneren, in derselben Linie mit dem Eingang des Zimmers, das der Direktor wieder betreten hätte; er wurde nur aufgehalten. Von hier verfolgte jemand, der aufpaßte wie der blonde Jüngling, nicht nur die Strecken zwischen den Pfeilern, er konnte hinter sie blicken.

»Moineau, möchten Sie wohl an Ihre Arbeit gehen!« knurrte der Buchhalter. Nun fühlte der junge Moineau sich wenig geneigt, als erster den Zwischenfall zu beenden. Im Gegenteil wurde seine Teilnahme vollends erregt von den sonderbar ungeordneten Bewegungen der rätselhaften Erscheinung. Zuerst hatte er, mit brennender Begierde, die Hauptfigur eines Kriminalromanes in ihr geahnt. Nein! Sie war betrunken: immer noch überraschend genug für eine Person, die seit einer Stunde im Bureau des Chefs geweilt hat!

Obwohl hoch aufgerichtet, bewegte sie sich zweifellos in schiefen Winkeln, was ihren Weg verdoppelte. Als sie sogar den Arm von sich streckte ins Ungewisse, wurde dem jungen Moineau klar, daß ihr Fortkommen in Frage gestellt sei. Richtig, gleich nachher fiel sie gegen einen Pfeiler: auf seiner Rückseite, jedem anderen mußte es entgehen. Ihr aufwärts gebogener Arm stützte sie, sonst wäre sie sicherlich, den Stein entlang, zu Boden geglitten. Diesen Augenblick zeigte sie noch das kleine blasse Gesicht, aber wem? Ihre Zuflucht verbarg sie besser als nötig. Vielmehr wird sie Beistand brauchen.

Da haben wir es schon. Auf dem gebogenen Arm liegt ihr Kopf, er wird geschüttelt wie die schmächtigen Schultern, von einem Anfall: ihn sehen genügt. Auch noch zu hören, wird niemand wünschen. Der junge Moineau ist erschrocken genug. Mit den Augen sucht er Monsieur Conard, der nächste, den dies angeht.

Monsieur Conard hätte den Ausblick, so gut wie Moineau, auf die Verunglückte; nur daß er, halb in seinem Zimmer, den Rücken herwendet. Hören, den Husten, der sie erstickt, kann auch er nicht. Der Pfeiler ist nahe dem Vestibül, der Concierge müßte zur Stelle sein – übrigens währt der ganze Vorgang in Wirklichkeit zwei Minuten. Indessen haben die Kunden der Halle ihre Gespräche aufgenommen: keine Zahlen diesmal; es klingt erregter als ihre gewöhnlichen Gegenstände. Sie haben erkannt, wer vom Eingang naht. Diesseits der Pfeiler macht er seinen Weg. Kobalt und was hinter den Pfeilern mit ihr geschieht, erhält keinen Blick von Monsieur Laplace de Revers. Er ist es, den Alain erblickt hat. Er ist im Hause.

Er ist erbittert. Die Sensation, die seinem Auftreten gebührt, ist diesmal übergegangen, auf wen? Vom Eingang, wo er warten mußte, hat er es bemerkt: auf eine Abenteurerin. Er argwöhnt sogar, er selbst könne für einen Abenteurer gelten. Sollte er sich selbst mißtrauen? Voilà. Schon widersetzt sich sein Direktor dem Eintritt des Präsidenten. Monsieur Louis Laplace de Revers bekommt, gewiß zufällig, einen Stoß vor die Brust. Er kann es nicht glauben, das Unheil in seinem Gesicht mischt sich mit Bestürzung. Eher maßvoll beschwert er sich über die erstaunliche Zurücksetzung seiner Person, die befohlene, nicht eingehaltene Stunde. »Vous m'etonnez, cher Monsieur«, hört Moineau ihn ausdrücklich sagen. »J'oserai affirmer que votre visiteuse n'a pas l'air d'être venue pour affaires.«

»Probable«, sagt Monsieur Conard, der offenbar seinen Kopf anderswo hat; absichtlich wird er doch nicht zugeben, sein stundenlanger Empfang einer Frau sei außergeschäftlich. »Enfin, cela vous regarde«, bemerkt der Finanzier, der endlich angreift. »Ihre Frau hat Bewunderer«, spricht er Silbe für Silbe: man soll ihn hören. Aber sein Untergebener wird lauter als er. »Elle en a même de ridicules.« Alles mögliche, wenn er den ausgestreckten Finger dem Präsidenten nicht auf die Brust setzt.

Das ist jedem, der zuhört, verständlich. Überdies bemerken viele, wie Messager, der arme Alte, der jeden Augenblick auf der Straße liegen kann, scharf die Tür schließt. Für den mächtigen Mann hält er sie nicht länger offen. Der Buchhalter Pigeon versteckt seinen Kopf im Hauptbuch. Er verzweifelt; dies alles sieht nach einer Niederlage des Synarchismus aus. Der junge Moineau kennt keinen Synarchismus. Von dem Zerwürfnis zweier stattlicher Machthaber trennen ihn wenige Schritte. Daß nur die Tür nicht ins Schloß gefallen ist! Was wird aus der Frau am Pfeiler. Sie ist niemandem gleichgültig. Sie war bedeutend genug, daß sie die beiden gros légumes entzweien konnte.

Das rechtfertigt noch mehr des Außerordentlichen. Moineau springt. Er ruft Monsieur. »Monsieur Conard! Die Frau Gräfin stirbt.« Schon steht der Direktor in voller Länge unter der aufgestoßenen Tür. Über die Füße des Präsidenten springt er, anders als der junge Mensch, an dem er alsbald vorbei ist. Zwischen den Pfeilern läuft er; nicht im geringsten wahrt er die Würde seiner Stellung, wie er durch seine Bank läuft. Monsieur de Revers wünscht augenscheinlich an der Handlung nicht länger beteiligt zu sein. Er verschwindet hinter einem Gedränge anonymer Rücken.


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