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Pavane

Vor dem Keller warteten sie, ohne zu drängen. Die beiden Verkehrsdamen oder allumeuses unterhielten ihre Herzogin Kobalt zum eigenen Vergnügen, noch abgesehen vom Vorteil. Aber die neue Freundin griff auch in den Beutel, mehrmals ging ihr goldener Sack von selbst auf, was jedesmal die Laune erhöhte. Die mit der gellenden Schreistimme hieß Mado à la voix flûtée. Sie hatte keine Mühe, den lärmenden Keller zu übertönen, die rauhe Kehle der zweiten auch nicht.

Sie ersparten der dritten das Sprechen. Mehr als das, die eine legte ihr als Anhalt einen Arm unter, die andere ihren erhobenen Schenkel, das Knie an die Mauer gestützt. Die Glückliche konnte sitzen; dankbar und erstaunt bemerkte sie, was diese Mädchen für sie taten. »Es ist ganz natürlich«, erklärte Germaine, la grande Germaine, wie sie betonte, des Unterschiedes wegen: eine kleine des Namens gab es auch. »Sie, Madame, waren täglich so viel auf der Straße wie wir. Nicht wahr, daß man sich davon kennt?« – »Sehr gern«, sagte Kobalt.

»Ich wußte, daß Sie uns im Glück nicht verleugnen würden. Sie haben die Bank gesprengt, Sie sind in der Abendzeitung, sogar zu den deux cents familles sollen Sie seit heute gehören.« – »Erlauben Sie, daß wir weiter Kobalt sagen? Aber oft, Germaine bezeugt es, haben wir gefragt, was in Wirklichkeit mit Ihnen los ist.« Die andere bestätigte es. »Man weiß sich zu benehmen, wir haben Sie nie belästigt. Eines Morgens, als es stark regnete, waren wir entschlossen, Sie zum Weißwein einzuladen, da öffnete die Bank.« – »Die Bank«, sagte Kobalt. »Das war die gute Zeit.«

»Ich sag es doch«, schrie die Flötenstimme. »Wird hier das Geschäft gehen?« Die rauhe bestärkte den Zweifel. »Jetzt ist Krieg, der Wirt muß nächstens schließen. Heute früh waren wir unterwegs nach Neuigkeiten, wir hatten drei Stunden geschlafen, in dem Bums wird es spät.« – »Mir ist es gleich«, sagte Kobalt. Beide stimmten ihr zu. »À quoi bon toutes ces bêtises. Man macht sie, solange man kann, dann kommt das andere. Tu t'en iras les pieds devant.« Dies gesungen, rauh, aber mit Zartgefühl.

Die zweite berief ihre Freundin, eines ihrer Augen zwinkerte. Kein guter Einfall, die arme Kobalt zu erinnern, daß sie bestimmt ist, die Füße voran fortgetragen zu werden. Kobalt indessen war abgelenkt, sie erkundigte sich: »Wie heißt ihr hier?« – »Der Bums, meinst du? Komm und lies!« Man verließ den Lichtkegel des Kellers. Hinter der schattigen Ecke war es möglich, hinaufzublicken, wo bunte Lämpchen eilig einen Namen formten. Sie gingen abwechselnd aus und an, Farben wurden getauscht, jedesmal eine Sekunde lang stand geschrieben: Au Cochon sans rancune. – »C'est ça«, sagte Kobalt.

Ob sie nicht zu ihrer Zeit verkehrt habe in dem Schwein ohne Groll? Sie gestand ihre Unkenntnis. »On en a tellement vu.« – »Je le savais, t'es une ancienne.« Germaine ließ es endgültig beim Du. Kobalt, erkannt als alte Lebedame, schien einverstanden. Mado flötete: »On te connaît dans cette boîte. Même qu'on te prépare une surprise.« – »Wer will mich überraschen? Wer kennt mich?« – »Le patron, quoi. Paraît qu'il est ton contemporain.« Kobalt lächelte. Diese Frauen, freundlich gestimmt wie heute manch einer, versetzten sie dennoch zu »ihren Zeitgenossen«. Sie dachten sich nichts dabei; gleichviel, auch dies hieß wieder: »Tu t'en iras les pieds devant.«

Die Rauhe, zugleich die Schlankere, fühlte irgendeinen Fehler, sie lenkte ab. »Mais le patron aime les grosses femmes. Tu verras la sienne, je ne te dis que ça.« – »Da kommen unsere schönen Herren«, bemerkte die Flötenstimme, sie setzte sich in Bewegung, das allgemeine Wiederfinden geschah im vollen Licht der Scheinwerfer. Der unbekannte Begleiter Kobalts war bleich zum Sterben, aber Mado stellte auch fest, daß er zugänglicher geworden war. Offenbar hatte der Polizist ihn sich vorgenommen, und wie. Léon Jammes konnte alles, er war nicht eigentlich von der Polizei, eher von der Regierung.

Mado unternahm einen Angriff auf den Mann der Mappen, hinter deren goldenen Kronen sie das Geheimnis eines monströsen Glückes vermutete. Sie nannte sich dem Herrn, wie gewöhnlich, als Mado mit der Flötenstimme. »Sie verraten nicht, wer Sie sind? Aber ich weiß es.« – »Dann weißt du mehr als ich«, sagte Kobalt. »Vielleicht mehr als er selbst«, sagte sie, nach leichtem Zögern, aber Mado bemerkte es. »Ah! er ist deine Mascotte«, rief sie und berührte ihn am Rücken. Die Verbindung war hergestellt, sie sagte du. »Wenn du mir etwas schenken wolltest, das heb ich auf, es ist Heckgeld.« Was sie nicht erwartet hatte, er tat es. »Gehen wir!« sagte Kobalt.

Sie hatte sich umgesehen und Wahrnehmungen gemacht. Germaine schien ungewöhnlich vertraut mit Léon Jammes; hauptsächlich aber tauchte ein anderer auf, dahinten, im Schatten noch wenig zu unterscheiden, aber den Umriß kannte sie seit dem Morgen. Der Neger war da, mit dem Schirmchen, abgesandt, sie zu holen. »Nun und wir?« sagte der sonst Widerspenstige, jetzt Folgsame. Mado nahm seinen Arm, indessen Germaine den Augenblick benötigte, um Léon Jammes zu warnen, zunächst vor Krankheiten. »Mon petit Léon, tu crois qu'il te faut soigner la petite santé.«

Er ging darauf ein, interessiert und dankbar. Gewiß meinte sie die Bars, die er besser gemieden hätte? Nein, das nicht. Ausgehen muß sein. »C'est le métier«, bekundete sie über ihren und seinen Beruf. »Wir haben einen verdorbenen Magen, ich parfümiere sogar meinen Atem. Aber wenn ich dich heute abend ansehe, ahnt mir nichts Gutes.« – Ahnungen kämen gerade vom verdorbenen Magen, entgegnete er ernst. Sie dürfe heute abend nicht trinken. Aber sie dämpfte ihre rauhe Stimme bis zum Säuseln. »Das ist es nicht. Wegen eines unglücklichen Amer-Citron, den ich bekommen habe.« Jetzt sprach sie in Atemnähe, der ihre roch wirklich nach Rosen.

»Ce soir, dans cette boîte il t'arrivera quelque chose.« Noch dringlicher: »Geh mir nicht von der Seite, das sicherste für dich.« Die Worte verfehlten ihre Wirkung. Erstens führten die Leute in dem Schwein, das nichts nachträgt, sich auf wie abgestochen: sie hatten Kobalt entdeckt. Außerdem, gerade als Germaine ihren alten Freund ermahnte, bei ihr, in Sicherheit zu bleiben, verließ sie selbst ihn. Ihr Blick traf einen Kunden, dieser schien nicht fest entschlossen, den Lichtkegel zu betreten, unbedingt geboten war es, ihn einzufangen, er lohnte die Mühe.

Léon Jammes sah ihn auch: vorläufig entzog er sich der Begrüßung; er begab sich zu Kobalt, an den Rand der Treppe. Hinabzusteigen war noch keine Gelegenheit, ein kleines Gedränge begeisterter Anhänger ließ sie nicht durch, es schrie und kreischte nur, die Arme natürlich hochgeworfen, wie die herrschende Übung verlangte. Mado mit der Flötenstimme konnte sie gewiß verstärken, was half es aber gegen eine Meute. Le moyen d'en venir à bout. Kobalt hatte nur Mado, sie wenigstens gegen Stöße zu verteidigen. Ihr Jugendfreund, oder wie soll man ihn nennen, fand sich selbst gegen die Mauer gedrückt, an Gesten durchaus verhindert. Hier war Léon Jammes vonnöten. Übrigens eilte er, um jemandem auszuweichen.

Germaine ging derselben Erscheinung heiter entgegen. Sie schwebte auf schlanken Beinen, unter bestirntem Schleier, die vorgehaltenen Arme durchsichtig von der Überbeleuchtung. »Monsieur de Rothschild«, sagte sie rauh. »Wie geht es seit heute morgen, was macht Madame?« Die Anspielung war ihm peinlich, sie konnte sich beglückwünschen zu ihrem Einfall. Der Kapitalist drückte ihr die hingehaltene Hand, etwas blieb darin zurück. »Halte die Schnauze!« verlangte er. »Ça va«, sagte sie, während sie mit den Fingern erkannte, daß der Schein der richtige war. »Vor vier Uhr kann ich von hier nicht fort«, wendete sie ein. »Je m'en bats l'œil«, sagte er. »Dir ist es schnuppe«, wiederholte sie vorwurfsvoll.

Seine Geringschätzigkeit täuschte sie nicht. Ihr ahnungsvoller Magen verriet ihr, daß dieser Typ mit anderen Absichten komme. »Auf wen hat er es abgesehen«, dachte Germaine; mit ihr schien er fertig. Er setzte schon die Füße – nicht so einfach für ihn, er mußte verbergen, daß er aus der Hüfte lahmte. Hatte er noch mehr zu verbergen? Einen Schritt hinter ihm, indes er nach dem Keller strebt, stellt sie fest, was er ist. Elegant ist er, in nüchterner, zu nüchterner Art: um auf das Hinken nicht hinzulenken? Groß gewachsen ist er, hält sich steif, vermeidet Bewegungen aus der Hüfte: alles, um den Fehler auszugleichen.

Dann sollte er auch kein Monocle tragen, das Gesicht ist vornehm genug mit seinen kalten Flächen, herausfordernd genug für ein Dutzend von dem neuen Typ. »Der? Insgeheim ist er feig«, sah das erfahrene Mädchen. »À qui en veut-il?« dachte sie nochmals, da war er angelangt hinter Kobalt, die sich feiern ließ. Sie mußte wohl; die Treppe lag vor ihr frei dank Léon Jammes, seinem bekannten Einfluß, dem Ruf des Mannes, der Erscheinung. Nur einer wurde an Stattlichkeit mit ihm verglichen, solange er nicht hinkte. Das persönliche Ansehen gebrach dem zweiten, Gerüchte ohne rechten Halt traten dafür ein. Jedenfalls bildeten schöne, ausgezeichnete Menschen die Umgebung der Gefeierten.

Ihre Verehrer, die es soeben geworden waren, sendeten aus der Tiefe ihre Grüße in allen Stimmlagen, ein Durcheinander der alkoholisch beschleunigten Herzen, aufrichtig, denn in Empfang nahmen sie einen Traum. »Sie hat die Bank gesprengt!« Ein Traum, als ob man zum Beispiel über die Handelsbank gebieten wollte: dieselbe unsinnige Hoffnung, aber wird hier wirkliche Gestalt, der Finger könnte sie anrühren. »Sie sprengt die Bank. Ce matin elle était sans le sou, à son habitude. Heute abend Millionärin – et Comtesse de Trône. Une énigme plus ou moins vague, was tritt hervor? Une dame titrée, fabuleusement riche, die Gräfin vom Thron.«

Gedanken einer Menge, unbestimmt, in Worten zu lang; sie gehen daher in kurze Zurufe über, noch die dreisteren sind Ausbrüche der Anerkennung. »Quelle gaillarde, cette Kobalt!« Manchmal hätte einer sich ausgedrückt: »Unsere alte Kobalt«, aber man fing sich noch; angemessen erschien es, ihr verwandeltes Auftreten zu rühmen – das in Wahrheit ihr bekanntes war, Fremdheit ohne Scheu, Anmut mit Distanz. Zustände gibt es, wenn alte Kleider unerhörte Distinktion annehmen. Ihr Gefolge holt statt ihrer nach. Die beiden glitzernden Wesen mit großen Teilen Haut ersetzen, was die Dame vermissen läßt an Gewagtheit.

Ihre männliche Schutzstaffel ist vollständig. Zuerst die beiden ansehnlichen Gestalten: nur die eine ist populär. In der zweiten vermutet man einen weltweiten Finanzier, so erhaben, daß er anonym bleibt. Der dritte ist der Trésorier seiner Fürstin, dies verbreitet sich von selbst. Er hat sichtlich Maske gemacht, zeigt die Zähne, atmet Entschlossenheit, könnte alles, auch Schauspieler sein. Hinter sich hat er den Chauffeur, mit Litzen, Quasten, Fäusten, der beiden gekrönten Mappen wegen. Einige wissen nebenbei, daß der Diener ein Polizist ist – alles wie im Leben, denn die Großen werden jetzt anders bewacht als je vorher.

Hinter ihrer Ironie, ihrem Lärm ist die Menge befangen von Verehrung. Wünsche, heimlich geboren, erkämpfen ihren Ausdruck. »Dis bonjour au cochon«, wird verlangt. Gemeint ist Kobalt, gemeint ist am Fuß der Treppe das Schwein ohne Groll, ein Sinnbild, steht aber leiblich da, das Messer in der Flanke, mit lustigen Äuglein. Seht! Kobalt hat verstanden, die Prinzessin begreift ihre Rolle. Gleich allen weltlichen Gottheiten gehorcht sie einer Menge. Nur noch ein Blick rundum, ihre Wendung des Halses allein schon rechtfertigt einen neuen Ausbruch von Begeisterung. Sie hebt den Rock von den Füßen.

Als Madame de Trône die Kellertreppe hernieder ihre Gestalt führte – einige erkannten den Stil. Die Schauspielerin Cécile Sorel sogar konnte, als beide anfingen, für ihre Gräfin Almaviva gelernt haben von ihrer Zeitgenossin, der anderen großen Dame. Welche vergangene Hoheit hätte sich anschaulicher zum Volk herabgelassen: sie allein, im Abstand vor ihrem Gefolge. Es ist über die Stufen verteilt ihrer einzigen Sichtbarkeit wegen, damit sie von niemand gedeckt, allein für sich verantwortlich, hindurch- und niederschreitet. Beuge doch irgendeine im Haus das Knie wie sie. Mit entblößten Beinen nähme jede so oder so die Treppe, aber im langen Kleid, und majestätisch. Frauen sahen sich selbst verklärt, sie jubelten.

Triumph der Bewegung, ihre hohe Schule, unter Weglassung der Enthüllungen oder Anspielungen, die im Gebiet der Sinne das übliche sind. Man vermißt keine, man schaut, erstaunt, hingegeben, erhoben von der schönen Bewegung allein. Was ist das, ein körperlicher Vorgang, der auf bloße Betörung nicht abzielt? Vielleicht sagt jemand es hier. Es ist die Vollendung, will heißen, das gelungene Ende der Fehlbarkeit, der Unzulänglichkeit. Das Unmögliche, die Freiheit von Furcht und Not, eine Kobalt muß kommen, in das Schwein ohne Groll, um allen Gästen dies vor Augen zu bringen.

Glück im Spiel hat sie und spielt mit dem Glück, denn kann sie ihm glauben? Die Beherrschung des Lebens gelingt, wenn es bestanden und vorbei ist. Ganz sicher fühlt dies, ziemlich weit rückwärts, ein faschistischer Jüngling. Er vergießt sogar Tränen, aber das liegt an diesem Tage ungewöhnlich nahe. Seine Freundin soll bewundern, wie Kobalt das Schweinchen liebkost. Dies entfesselt wirklich Beifallsstürme, die Leute finden Kobalt auf der Höhe ihres Daseins, als sie das Schweinchen liebkost, die Flanke mit dem Messer darin streichelt, es wahrscheinlich fragt, ob es leidet.

»Danke, Kobalt«, spricht das Schweinchen, »es geht.« Mit seinen hinteren Füßchen steht es auf dem Sockel, die vorderen wedeln neben seinem Kopf, der einer Besucherin unter den Hut blinzelt, sarkastisch und wohlwollend. »Wir nehmen nichts übel«, spricht es. »Das Schlachten macht Spaß, wie das Geschlachtetwerden. Nicht wahr? Wir sind des Vergnügens wegen hier und bleiben nicht lange. Il faut bien se tenir, sauver la face, et se présenter au guichet.« Den Schalter meint das Schweinchen, wo ein Hopfensack mit Millionen herausgereicht wird. Oder einen anderen, der sich hinter dir schließt, du wirst die Welt nicht wiedersehen. »Je me comprends«, sagt das lachende Schweinchen.

Plötzlich verzichteten die Leute auf ihr gemeinsames Lärmen, ihre Zurufe änderten sich, jetzt wünschten sie mit Madame de Trône etwas aufzuführen. Das erste Verlangen erfolgte im Hintergrund, auf der Tanzfläche, von einer Stimme, weiblich, sehr jung, offen wie die italienischen, deren Schall weit trägt. So weit waren die Leute, einem halben Kind zu gehorchen, es mußte nur befehlen. »Debout tout le monde. Place à Kobalt, qui s'amène en reine.« Man verstand richtig, daß die Königin des Cochon sans rancune höchst feierlich durch ihr Reich zu geleiten sei. Sogleich begannen die Anstalten, auf der Treppe wie im Haus.

So viel ungeahnte Geltung erlangt, wer die Bank gesprengt hat, obwohl auch dann nicht jeder sie erlangen wird. Eine Person muß vorher Ansehen, sei es ein suspektes, genossen haben, das gewinnt ihr Anhang. Eine Menge, auch diese, kommt hinter manches, vermöge ihrer Dichtheit, ihrer Alkohole, ihres Instinktes für Steigerungen. Nicht, daß die Leute urteilen und betrachten: Kobalt war sonderbar, jetzt ist sie ungeheuer. Ihr selbst wäre nur der zufällige Satz anzusehen »Abgehen wirst du die Füße voran«; er fällt ihr gerade wieder ein, jemand wie der faschistische und betrunkene Jüngling könnte ihn von dem kleinen blassen Gesicht lesen. Flüchtig falten sich ihre Brauen. »Sterben«, schluchzte zu der gleichen Zeit der Jüngling an dem Busen der älteren Freundin, die ihn tröstet, ihm erspart, vom Stuhl zu rutschen.

Er bleibt im Getümmel, man kann sagen allein übrig als der ruhende Punkt, sogar als das Denkmal, das Publikum kann es nicht überrennen, die Freundin hält eisern das Gestell mit den Getränken im Gleichgewicht. Dagegen sind aus dem Hintergrund die Tänzer vorgerückt, bis auf weiteres schweigt die Musik. Eilig hat es eine junge Person, dieselbe, auf deren Befehl alle sich in Bewegung gesetzt haben, um womöglich eine Prozession zu gruppieren, in der Mitte die Heilige. Das Mädchen, genannt Maria Piccini, macht zwischen Aufzügen oder dem Ehrengeleit einer Heiligen keinen wesentlichen Unterschied.

Kurze Entschlüsse können am wenigsten auf der Treppe entbehrt werden. Das Gefolge ist sie halb herabgestiegen, Madame sieht nach den Ihren um, die Wendung der Schulter drückt aus, was sie will. Bemerkenswert, daß als erster der Chauffeur dem Wink folgt. Obwohl im gebührenden Abstand, führt er Madame. Ihm schließen sich an die beiden glitzernden Gestalten Mado-Germaine, aber in ihre Mitte geschoben der Mann mit den Mappen. »Du scheinst in Unruhe«, sieht die eine dem Mann an. »Warum ist das da so dick?« – »Er sammelt Ansichtskarten«, erklärt die andere. Beide indessen erkannten richtig, was ihn vor allem anderen in Anspruch nahm: der anonyme Finanzier, sein Verhalten, sein Verbleib.

Abwechselnd sprachen sie: »Der Reichste von uns. Der soll dir dein Geld klauen?« – »Ne te frappe pas. Il vient de me passer un billet.« – »Dann will er, daß du ihm hilfst«, sagte der Ängstliche. »Er soll gekillt werden. Da ist man zu allem fähig.« So sah er selbst aus, während er für alle Fälle näher an den Polizisten vorrückte. Dieser hielt, gleich hinter der gefeierten Größe, die Arme seitwärts erhoben, was ihn nicht hinderte, auf seinen Vorgesetzten ein Auge zu haben, der war sichtlich Léon Jammes.

Ihn wieder beschäftigte der Finanzier, sein Verbleib und daß er sich nur nicht rührte. Dies ist der Augenblick, als Comte X wahrscheinlich noch fortgelaufen wäre. Der Mann des Deuxième Bureau erlaubte es ihm nicht. Er knurrte ihn an: »Sie bleiben bei mir. Sie sind lahm, Sie würden den Aufzug stören, ausgelacht werden und zu Schaden kommen.« Wobei der Unerbittliche erkannte, daß dieser überreizte Mensch dem Wahnsinn sich merklich näherte.

Da er hinauf und hinaus nicht durfte, stürzte er sich abwärts in große Ungelegenheiten. Schon auf den schadhaften Stufen, die Treppe hatte welche, stolperte er. Germaine, die sein Geld genommen, mag sein das letzte, konnte ihn auffangen. Da sie es unterließ, kam er angeklammert über ihren entblößten Rücken zu liegen. Bosheit oder Schrecken, sie kreischte, sie rief die öffentliche Aufmerksamkeit auf den Vorgang. »Faux départ«, muß der Unglückliche gedacht haben, »plus rien à perdre« – tat auch schon seinen panischen Griff nach den Mappen. Wie umsichtige Vorbereitungen wird er vorher ersonnen haben, aber es kommt anders.

Der Wächter der Mappen, das ist der Polizist als eleganter Chauffeur, tritt ihn wuchtig vor das Schienbein, er knickt ein, er rollt weg. Wirklich rollt er. Interessiert sieht man ihm nach, die beiden Mädchen stützen die Hände auf die Knie, um besser zu sehen und zu lachen. Der geschminkte Sekretär, der seinen Schatz vor den Magen preßt, nimmt das ganze Gedränge zu Zeugen, alle fragt er: »Wohin wird der Esel noch rollen?« Das wissen sie nicht, nur daß jeder ihm mit den Füßen einen Stoß gibt, worauf sie über ihn weg sind und ihn vergessen. Er rollt aber bis unter die Füße des faschistischen, betrunkenen Jünglings – nicht weiter, wegen des Walles von Beinen. Wie es ihm dort unten ergeht, wissen er und der Jüngling. Der Zwischenfall ist vergessen.

Die Menge geleitet ihre Auserwählte, die Glückliche, die ihren Erfolg nicht erforscht, sondern hinnimmt. Sie strahlt, sie blendet, will man wissen; das gebietet sich für die allverehrte große Frau. Maria Piccini andererseits ist ergriffen, sie muß der heiligen Kobalt die Hand küssen. »Sie heißen jetzt Madame de Trône. Sie sind in der Zeitung, Madame de Trône. Wie ich glücklich bin!« bringt Maria hervor, nach unterdrücktem Schluchzen. »Auch ich bin glücklich, über Sie«, sprach die Verehrte, es war eine Stimme wunderbar, der schlanken, hochbusigen Siebenzehnjährigen blieb nichts übrig als hinzuknien unter ihrem kupferroten Haar und anzubeten. Es vollzog sich schlank und schnell, der Raum zwischen zwei Schritten genügt dem frommen Kind. Ihr Freund hob sie auf, der Weg muß frei sein. Der blonde Knabe, Moineau wird er genannt, steht alsbald abgewendet, will er von der allzu öffentlichen Frau nicht erkannt werden? Dennoch war sie beiden schon begegnet, dem Mädchen gewiß, aber wohl auch ihm. Wo? Ihr Gedächtnis setzt aus, weniger aus Müdigkeit oder Verwirrung, nur weil sie sich getragen von den Begebnissen, durchaus begreiflichen Begebnissen, fühlt. Sie wird einfach entrückt in Geschichten, die nichts als Wiederholungen sind.

Unverkennbar erklingt ihr die begleitende Musik. Das Orchester spielt wieder, eine Pavane: ihre Pavane, der vergessene Tanz, der im Palast des Marchese del Grillo aufgeführt wurde, so feierlich, so still. Unwahrscheinlich bleibt es, daß die Gäste des Cochon sans rancune auf einmal die erforderliche Strenge annehmen, Disziplin in der Leichtigkeit, eine nichtige Welt, aber bewegt nach Rhythmen maßvoller Trauer. Das wäre ein Auftreten von revenants, es wird nicht verlangt. Genug, daß die Massenseele, innerhalb ihrer Grenzen, sich läutert – um eine glückliche Person zu feiern. Sie mit ihrem gezauberten Reichtum, verwandelten Namen, ihrem Ruhm aus der Zeitung, nach entfernten Hintergründen zu bringen, wo die Pavane spielt. Nicht, daß sie den Namen des Tanzes kennten. Haben nie von ihm gehört, aber unbewußt führen sie ihn auf.

Die einzige um zu wissen, ist die Geleitete selbst. Sie erinnert sich wohl. Viel, viel und immer das gleiche ist von Menschen, die durch die Zeiten einander wiederholen, bei diesen Rhythmen dahingetanzt worden. Sie haben agiert. Streng, wiewohl die leichten Herzen noch lange umherflatterten, haben sie voraus gehandelt, was sie seither für ewig sind. »Dies, die Pavane der Toten. Meine Pavane.«


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