Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erster Teil.
Die Straße und das Ziel


Ein aussichtsloser Gang

Die Frau fiel auf, aber sie bemerkte es nicht. Von weitem wirkte ihr Anzug prunkhaft, wenn auch altertümlich. Kenner bemerkten: die Mode von 1910. Eine Welt liegt zwischen ihr und der Tracht von 1939. Kam die Passantin näher, erwies das seidene Schleppkleid sich als ermüdet, die Spitzen des Umhanges als sorgfältig zusammengenäht. Nur die Schuhe waren neu, sogar kostbar. Die Strümpfe hatten, sooft die Person genötigt war den Rock aufzuheben, eine Masche verloren. Dies war die Erscheinung am frühen Morgen, als wenige sie sahen.

Sie ging, heute und täglich, entschlossen ihres Weges. Sie wendete niemals den Kopf. Alles sprach dafür, daß sie ein bekanntes Ziel verfolgte. Sie tat es mit Augen gleichgültig und leer. Die Stadt Nice an der Côte d'Azur hat einige sehr lange Straßen. Ob man aus dem Mittelpunkt oder, wie diese Einzelne, von draußen kommt, die rue de France verliert sich in der Ferne. Nach dem Ende, das außer Sicht, daher kein Ende war, blickte die Auffallende, nichts konnte sie ablenken. Ereignisse der Straße überging sie. Um so weniger Beachtung erreichten die seltenen Begegnenden, die unter den weitläufigen Hut spähten. Seine Federn hingen geknickt.

Da sie mittags unweigerlich zurückkehrte, kannte die Straße sie, wie ein zugehöriges Vorkommnis. Eine Frage war es nicht mehr, ob das kleine blasse Gesicht mit der zu feinen Nase noch immer den unbegründeten Hochmut ausdrückte. Man wußte Bescheid. Mehr als ihre verspäteten Gewänder forderte ihr stolzer Anstand die Überlegenheit der Leute heraus. Übrigens unterscheiden sie schwer die Verlassenheit vom Dünkel. Indessen haben sie ein untrügliches Gefühl für die Ausnahmen. Diese veranlassen nicht immer Hohn.

Die Leute lachen wohl, aber auf zivilisierte Art nach innen. Wie es ihnen eigentlich ergeht – nicht so einfach, ein unruhiger Respekt vor der Ausnahme spricht auch mit –, das könnten die Gesichter zeigen. Aber sie, die es angeht, fühlt sich nicht betroffen, sie ist so gut wie abwesend. Sollte sie, ohne daß es den Anschein hat, aufmerken, vielleicht hätte sie gerade Unglück und fände in einer Miene, was ihr ganz anders nahegehen müßte als Mißachtung oder sogar eine bedingte Huldigung. Das war das Mitgefühl, das selten auftrat, aber es zeigte sich. Der peinlichen Begegnung mit dem Erbarmen wich sie ohne Absicht aus. Es war, was sie am wenigsten bemerkte.

Das Verheimlichen hört notwendig auf, wenn die Selbstbeaufsichtigung aussetzt. Eine andere Frau hat es heute gesehen. Es war sehr früh am Tage, die abgeladenen Marktwagen rollten bis jetzt allein und mit Lärmen ihren Heimweg aus der Stadt. Die Inhaberin einer angesehenen Bäckerei, Madame Vogt, schloß eigenhändig ihren Laden auf. Nur was man selbst besorgt, ist pünktlich getan. Sie hatte hinter sich mehr als vierzig, wenn sie genau sein wollte siebenundvierzig Jahre; davon ein Drittel unschuldig, die reichliche Mitte unbesonnen, dann die gediegen bürgerlichen Jahre, deren sie schon fünfzehn zählte. Sie war genau unterrichtet, wenn eine Bekannte aus ihrer mittleren Zeit im gleichen Alter stand.

Diese war reich gewesen und unbesonnen nur aus Laune, das heißt, verrückt schon damals, mindestens piquée. »Da ist sie wieder«, sagte Vogt, als der Federhut in Sicht kam. Die Mühe geringschätzig zu lächeln unterließ sie nachgerade. »Wohin Kobalt will, weiß sie nicht. Unsereiner dagegen kann höchstens erraten, was sie seit gestern getrieben hat, da sie von Mittag bis nächsten Morgen aus dem Verkehr verschwindet. D'ailleurs, ce sont les cadets de mes soucis.« Hiermit schloß sie den beiläufigen Gedanken oder glaubte damit fertig zu sein, während der eiserne Vorhang, den sie losmachte, polternd nach oben fuhr.

Das Geräusch verfehlte jede Wirkung auf Dame Kobalt, eigentlich Kowalsky, wie Madame Vogt aus alten Zeiten wußte. Von den langen Schatten des Morgens umgeben, die mageren Schultern manchmal von Sonne gestreift, näherte sie sich wie – die Bäckerin wollte nicht sagen »wie ein Gespenst«. Der Eindruck erklärt sich: der Gehsteig ist völlig unbenutzt; im Augenblick erschüttern keine Lastfuhrwerke die verschlossenen Häuser, grüne Jalousien vor allen Fenstern. Wenn späterhin das Gedränge der Straße die Person zum Ausweichen nötigen wird, bleibt im Grunde nichts an ihr zu beachten. »Einer anspruchsvollen Armseligkeit sollte man nicht den Gefallen tun hinzusehen«, meinte die Bürgersfrau.

»Jedem, wie er es gewollt hat!« meinte sie weiter und ging daran, auch die Glastür zu öffnen, unterbrach sich aber, da Kobalt stehenblieb. »Sie bleibt niemals stehen. Wird sie mich ansprechen? Das wäre!« Es war auch nicht dies, was die Genannte im Sinn hatte. Sie hielt den Schritt nur an, um den Kopf vornüberzuneigen und leise zu stöhnen. Ihre rechte Hand verschwand unter dem Hutrand, der vom Alter ermüdet über das halbe Gesicht klappte.

Vogt hatte gleichwohl die Hand überrascht. Immer noch schmal und weiß, sah Vogt. Ausnahmsweise entblößt, sah sie; lang daneben baumelte ein schadhafter Handschuh. Soviel von dem kleinen blassen Gesicht unter der Bedeckung sichtbar blieb, bebte es, schwach, aber nicht stillzuhalten. Vogt hätte am wenigsten geglaubt, gerade mit diesem unbeherrschten Mund werde Kobalt sprechen. Niemals sprach sie, das war ein Zug ihrer Maskerade; nur jetzt, nach geschehenem Stöhnen, mitten im Zittern mußte sie, deutlich genug, aussprechen: »Oh! mein Kopf.«

Vogt erschrak – ohne daß es sie gewundert hätte, wenn einer Verrückten der Schädel weh tat. Uber die Stimme war sie erschrocken. Die Stimme Kobalts hatte sich nicht verändert in aller der Zeit, daß sie nicht mehr gehört wurde, außer von Zudringlichen und dann nur einmal. Die Stimme schwankte, schien umschlagen zu wollen; wie früher aber hielt sie ihren Klang, der von innen bereichert wurde, aus der Brust, im Grunde tiefer her. Die Stimme versprach; kein Mann, der darauf nicht geantwortet hätte. Jeder, der jetzt über das leere Pflaster gekommen wäre, jeder hätte haltgemacht und seine Hilfe angeboten. Frauen hätten es auch getan.

»Hier ist es umsonst. Macht sie das öfter, und wozu? Nun also, ich frage, was ihr fehlt.« Diesen Entschluß, wenn es einer war, faßte die Bäckerin zu spät, der Gegenstand ihrer guten Regung war vorüber. Kobalt hatte ihren Aufenthalt so plötzlich beendet wie angefangen. Keine Spaziergängerin, vielmehr ganz bei ihrer wenn auch imaginären Sache, erstrebte sie ein Ziel, wo sie nichts versäumte. Unterwegs, nach ihrer Gewohnheit, sah sie nichts, auch keine Vogt, so groß die alte Bekannte vor ihrem Laden stand. Vogt drehte endlich den Schlüssel um, trat ein, musterte den Laden: alles war wie gestern.

Sie veränderte etwas. Von der Auslage nahm sie übriges Brot, was ohnedies geschehen wäre, um dem frischen Platz zu machen. Man legt es in einen Korb oder mehrere, sie haben feste Abnehmer. Das ist keine Sorge: Vogt machte sie sich. Sie ordnete einiges Gebäck zur Seite des Eingangs, das Gestell reichte bis auf die Straße. Inzwischen trafen ihre Angestellten ein. »Madame Yvonne!« sagte die dicke Canaille, nahezu entrüstet. »Quelle idée! Jetzt sollen die Kunden altes Brot mitnehmen?«

»D'abord, c'est sain le pain rassis. Et puis …« Die Fortsetzung mußte der Patronne erst einfallen. »Hier kommen zu viele Hunde herein. Die Fleischer haben gegen sie eine Katze. Lieber lege ich ihnen gleich draußen hin, was sie wollen.«

»Aber warum das englische Brot? Nur Weiches ohne Kruste mag kein französischer Hund.«

»Schweigen Sie!«

Hiermit begab Vogt sich nach dem Hinterhaus, wo seit Stunden gebacken wurde. Die fertige Ware ließ sie unter ihrer Aufsicht hinauftragen und einräumen. Die erste Käuferin war angekommen, eine femme de ménage, die viel Pernod trank, sonst aber fleißig und sparsam über jedes gebräuchliche Maß. Ihr Sohn konnte in Eton studieren: so vielen Leuten, meistens Fremden, die hoch zahlten und gegen einen vernünftigen Alkoholismus nichts einwendeten, besorgte sie Küche und Haus mitsamt den schmutzigen Arbeiten.

Die Patronne hinter ihrer erhöhten Kasse fragte, während sie Geld herausgab: »Madame Antoinette, was macht Paul?«

»Mein Popol! Er macht seinen Weg. Im Tennis, denken Sie nur, Madame Yvonne, im Tennis ist er der Erste. Wollen Sie lesen?« Die stämmige Antoinette wurde im Wesen zart, wenn sie Popol sagte. Sie holte einen seiner Briefe hervor, denn seiner Mutter, der Aufwärterin, schrieb er täglich. Das erste, was in ihrem großen Sack zum Vorschein kam, war der Hals der Pernod-Flasche. Die roten, verquollenen Finger mit den schwärzlichen Rillen der Haut entfalteten vorsichtig das Blatt.

»Er wird Offizier werden«, entschied sie. »Bei seiner englischen Erziehung ist er sicher, in der französischen Armee schnell vorwärtszukommen.« Diese großartige Mitteilung blieb vorläufig ohne Antwort. Madame Yvonne nahm die Zahlungen mehrerer Käufer entgegen, Leute, die auf dem Wege ins Geschäft ihren Croissant aßen und die Zeitung lasen. Sie kannte jeden, darunter war keiner, den sie auszeichnen mußte. Eine Inhaberin wie sie ist den meisten ihrer Kunden sozial überlegen, sie hat nur die Güte, ihnen Brot zu verkaufen.

Madame Antoinette war eine Ansprache wert, wegen ihres achtbaren Bankguthabens und eines Sohnes, der ihr Ehre machte. Wie andere ordentliche Personen bemaß sie die Zeit, die sie verlor, und ging schon. »Auf bald!« rief die Patronne ihr nach. Die brave Frau nickte; sie begriff, daß es ernstgemeint und daß etwas zu besprechen war, natürlich ging es Popol an.

Vogt indessen hegte, bis jetzt noch undeutlich, die Absicht, nach Kobalt zu fragen. Die Zugeherin kommt überall herum; wenn eine, muß gerade sie über eine sonst ungeklärte Existenz etwas wissen. Vogt kannte die Umrisse: sie waren öffentlich sichtbar und machten niemand mehr neugierig. »Mich etwa?« Dies Wort richtete die Bäckerin mehrmals an sich selbst. Hinter ihrer erhöhten Kasse, in ihrem wohlabgestuften Verkehr mit dem Publikum, kehrten ihre Gedanken unweigerlich zu der Entgleisten zurück.

»Oh! mein Kopf«, hörte sie, erblickte auch die Gestalt in aller ihrer Kümmernis. Gerade ihr, Vogt, hatte sie sich unversehens enthüllen müssen. »Coincidence?« Vielleicht Improvisation, da die Gelegenheit, diese völlig einsame Begegnung, dergleichen herausforderte. »War die kleine Szene wirklich mir bestimmt?« Vogt zweifelte. »Es wäre eine unentschuldbare Abweichung von dem Charakter, den sie, mehr oder weniger freiwillig, sonst durchhält. Abstand, ist die Vorschrift. In ihre traurige Gegenwart nicht einblicken lassen, aus hartnäckiger Anhänglichkeit an ihre Vergangenheit, die groß gewesen ist.«

Vogt, beim schriftlichen Eintragen der wichtigen Lieferungen an Hotels, überraschte sich selbst: sie hatte geseufzt. Unzufrieden schlug sie auf das Buch, als ob etwas darin falsch gewesen wäre. »Wie? Ich soll die ganze Zeit an Kobalt denken? Elle, se fout de moi. Oh! mein Kopf … für mich hat sie es nicht gesagt, kennen wir uns denn? Ni d'Adam ni d'Eve. Das war einmal. An mir sah sie vorbei wie gewöhnlich. Ihre Perspektiven sind blaue Luft. Dort erwartet sie, ihre Millionen wiederzufinden. Alle die Jahre schon. Ich bin dumm, so alte Geschichten!«

Aber wahre Geschichten: Vogt, in ihrem noch unbesonnenen Abschnitt, hatte einen glänzenden der anderen aus der Nähe miterlebt. Seit manchem Jahr nun verhielt es sich derart mit Kobalt, daß sie jeden Morgen zu dieser Stunde ihren einstigen Verlusten nachhing und die Bank aufsuchte. Vogt und andere wußten darum. Kobalt aber tat es – wozu etwas gehört. Auf einer Bank nach Geld fragen, obwohl keines da sein kann. Indessen glaubte sie wohl, ihr einstiges Vermögen werde wieder eintreffen. Das Ganze oder noch mehr, glaubte sie zuversichtlich, solange es sehr früh am Tage war. Die Gewißheit, mit der sie morgens aufstand, nahm gegen Mittag ab. Vorläufig hatte die Bank noch nicht einmal eröffnet.


 << zurück weiter >>