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Alain Messager, brave homme

Da man drinnen lange redete, im Verlauf der Dinge auch von ihr, bekam Kobalt draußen Zeit, ihre Rolle zu wechseln. Aus der unwichtigen Besucherin wurde sie für die Handelsbank eine angesehene Erscheinung – was stufenweise stattfindet. Es wird noch dahin kommen, daß sie vom Direktor, Monsieur Frédéric Conard, mit Rücksicht und Respekt geleitet, das Haus verläßt. Bis dahin vergeht der Vormittag.

Während drinnen verhandelt wird, nicht zuletzt über sie, findet sie an bescheidener Stelle, scheinbar außerhalb des Verkehrs, dennoch Freund, Feind und Unbekannt, die alle um sie bemüht sind, gleichviel in welcher Absicht. Ihr Höhepunkt, oder wenigstens der merkwürdigste Augenblick der vierzig, fünfzig Minuten, die sie im ganzen zu warten hat: sie wird beachtet von keinem Geringeren als dem Präsidenten, Monsieur Laplace de Revers.

Seine Aufmerksamkeit könnte sie erschrecken, aber ihr Glück will, daß sie von ihm nicht Kenntnis nimmt. Ihre Gedanken bleiben unentwegt auf den Empfang bei Monsieur Conard gerichtet. Auch ein Mensch, der sie ansprechen wird, kann ihr Interesse niemals völlig an sich reißen, obwohl er es dann dringlich versucht und sich geheimnisvoll gibt. Nein, sie hat das eine im Sinn, es durchsetzen ist alles. Wirklich setzt sie es durch. Auch später wird sie kaum ausdrücklich bedenken, daß dies nur möglich war, weil sie vor der Tür des Direktors einen guten Mann antraf.

Aus alten Zeiten hätte sie sich erinnern können. Aber erstens war er damals vielleicht noch nicht gut. Als reiche Frau hatte sie ihn nicht auf die Probe gestellt. Sie tat es eben jetzt, eben hier, als ihr neuer Plan sie dermaßen eingenommen hatte, daß sie keinen Widerstand fürchtete. Der geringe, milde, den er anfangs mehr vorschützte als entgegensetzte, hätte bei größerer Hartnäckigkeit ihr Erstaunen erregt. Sie beginnt.

Ruhig, in durchaus angemessener Haltung wendete sie sich an Alain – Alain Messager, den alten Garçon de bureau, der von alters her die Tür des Direktors bewachte. Chasseur hieß er nach Bedarf, obwohl er kaum humpeln, viel weniger jagen konnte. »Bonjour Monsieur Alain. Wollen Sie mich bitte melden«, sagte sie ohne besondere Betonung, als verlangte sie nur das Gewohnte.

Alain, der, von niemand beansprucht, im Stehen die Zeitung las, sah äußerst sorgenvoll aus. Jetzt ließ er das Lorgnon von der Nase fallen, er lächelte beglückt, damit huldigte er ihrer unwiderstehlichen Stimme. Was sie sagte, glaubte er ihr nicht. »Melden, wem?« fragte er. Eine Bewegung der Schulter nach dem kurzen Korridor, der zwecks Abhaltung der Geräusche dem Zutritt voranging: »Doch nicht ihm?« – »Natürlich Ihrem Direktor, Monsieur Frédéric Conard. Er erwartet mich.«

»Madame, seien Sie vernünftig! Niemand erwartet Sie. Monsieur Conard ist kürzlich zu uns versetzt, er hat Sie nie gesehen.« – »Aber ich kannte seinen Namen. Gestehen Sie es.« – »Gewiß. Sie kennen hier alle mit Namen, seit der Zeit, daß Sie die Bank besuchen. Monsieur Conard hat jemand bei sich.« – »Léon Jammes ist mir dennoch zuvorgekommen? Er dürfte sogar hören, was mich betrifft.« – »Sie können sich denken, daß man den ausgebrochenen Krieg bespricht.«

Ihr Fuß verlor den Halt, sie griff in ihren Schleier. »Der Krieg ist ausgebrochen? Wieder ein Unglück. Ich kenne es und werde warten.«

»Es ist wahr, seit dem vorigen Krieg haben Sie warten gelernt. Nehmen Sie Platz, Madame!« Er wies ihr einen Sessel an, den breitesten, von gutem Stil, daher bequem; noch dazu stand er innerhalb des Vorraumes und Zutrittes – an der dunkelsten Stelle. Alain war zweifellos bemüht, sie zu schützen. Genug, sie hatte einst hier nicht besser gesessen, schon fühlte sie sich empfangen, lautlos wiederholte sie ihre Rede, die auf der Zunge fertig war.

Der Alte sah, daß sie den Krieg vergessen hatte. Augenscheinlich war sie mit sich allein. Die völlige Abwesenheit auf ihrem kleinen blassen Gesicht hätte geistig für sie besorgt gemacht. Aber ihre Haltung war frei, ein Muster der Natürlichkeit. Eine Person, die ebensoviel zu bieten wie zu fordern hat, wird, leicht zur Seite geneigt, auf der Armlehne die anmutige Hand bewegen, während eines ihrer schlanken Beine über das andere geschlagen mit seiner genauen Form in Seide schimmert. Alain dachte: »Wie überzeugend sie aussähe, wenn man nicht wüßte, daß ihr Kopf voll Unsinn ist.« Sie selbst fühlte einfach, daß ihr wohl war.

Dem alten Garçon kamen die Tränen. Wieder war Krieg, aber eine Erscheinung wie diese zeugte noch immer von dem vorigen. Die letzten Jahre des langen Friedens, als dieselbe Unglückliche in vollem Glanz auftrat, kehrten vor sein Auge wieder; sie war noch heute gekleidet wie zu ihrer Zeit, erschien ihm aber so wenig lächerlich wie damals. Man muß sie sprechen hören.

Die Stimme, sie allein, gibt eine unfehlbare Überlegenheit, während herrische Blicke und ein mächtiges Auftreten wohl Furcht erregen sollen, aber was vermag am Tage eines wiederausgebrochenen Krieges die gewöhnliche Menschenfurcht. Natürlich bleibt zu berücksichtigen, ob der Präsident, Monsieur Laplace de Revers, trotz Weltuntergang auch heute fällig ist. Nach ihm wird Alain sich erkundigen müssen, bevor er Kobalt dem Direktor melden kann, angenommen, er beginge den Verstoß gegen die Ordnung. Er vermutet, daß er ihn begehen wird – da wieder Krieg ist.

Außerdem berührte es seine Erwägungen, daß Alain eine Tochter hatte. Wohl oder übel verglich er. Louise führte ein schwankendes Leben, ungesichert wie jedes, und was sollte erst der Krieg daraus machen. Der Gescheiterten, die hier vor ihm saß, konnte sie wohl niemals nahekommen im Wesen und Gehaben. Was hilft das? Vor wenig Jahren hatte Louise sozusagen ihr Leben zu wählen: ob mit einem Liebhaber nach Paris oder Verkäuferin hier am Ort. Wegen der Stiefmutter, die sie quälte, wäre sie fortgezogen. Nach ernsthafter Beratung mit ihrem Vater wurde beschlossen, daß sie arbeitete und es mit der Ehrbarkeit versuchte.

Abweichungen zählten nicht; ohne alle Liebesfreuden würde Louise bald aussehen wie die meisten der berufstätigen Mädchen. Das Glück wird sie nie erfahren. Sogar das ungewisse Gleichgewicht, der schwierige Friede ihrer Seele werden untergehen, da wieder Krieg ist. Zusammen mit der Existenz wahrscheinlich; wieder ist Krieg, er bedroht eine jede, wie wir wissen. Hier die Gestörte hat zu ihrer Zeit nicht einmal den Krieg gefürchtet. Unwissenheit, die wir seither nicht haben können, wäre die erste Bedingung, jemals glücklich zu sein. Diese hat das Glück ausgeschöpft bis auf den Rest; ihr Nachteil ist, daß sie es nicht vergessen kann. Hat aber Louise am Schluß nichts gehabt, wert zurückzudenken, ist der Schluß besser?

Der Vergleich beider Frauen, der Schicksale, die zwanzig Jahre später der Krieg eines dem anderen nachwirft, brachte den Vater bis nahe an den Beschluß, die Besucherin dem Direktor zu melden. Er war neu, und sie merkwürdig. Sie eine alte Kundin zu nennen, war keine Lüge, einst hatte sie hier Geschäfte gehabt wie nur eine. Es ging; aber es ging nur so lange, bis andere auftraten, Klienten mit mehr als Erinnerungen und mit Guthaben, die nicht eingebildet waren. Dem Alten blieben natürlich Bedenken wegen eines Schrittes, der, milde betrachtet, doch aus der Ordnung fiel. Er empfand das Bedürfnis nach Zustimmung.

Der Buchhalter zählte annähernd so viele Dienstjahre wie er selbst. Monsieur Pigeon war höher aufgestiegen als der Garçon Messager; das erlaubte ihm immer noch eine wenn auch rauhe Form der Kameradschaft. Lästiger war, daß er an Magengeschwüren litt. Sein Empfang, wenn man ihn aufsuchte, war unberechenbar. Er besaß einen Tisch für sich allein, weit hinten, möglichst entfernt von der Schranke, die das Publikum abhielt. Um so näher war sein Platz dem Ausgang nach der Treppe. Sie diente dem persönlichen Bedarf des Direktors; ohne die Straße zu betreten gelangte er mit dieser Abkürzung hinauf in seine Wohnung.

»Et la petite santé, Monsieur Pigeon?« fragte Alain, besonders nett. Da der Gehobene nur knurrte und sich tiefer auf sein Hauptbuch bückte, lobte der Geringere sein Aussehen, was aber einen Ausbruch übler Laune bewirkte. Das sei seine Sorge nicht. Er solle gefälligst sagen, womit der Direktor ihn herschicke. Wie? Nichts? Dann gehe er hier nur spazieren? Wobei der Buchhalter ihn ins Auge faßte. Er warf den Kopf zurück, blähte die Nüstern, der Blick funkelte um so dunkler, je bleicher das Gesicht, mit seinen verhärteten Mundwinkeln.

»Ich fürchte für sein Wohlbefinden«, dachte Alain. »Aber muß er so böse sein? Das ist nicht natürlich.« Laut sprach er: »Ich komme zu Ihnen aus freien Stücken. Sie werden es mir danken, Pigeon, wenn Sie erst wissen, wer drinnen bei Monsieur Conard ist. Seit einer halben Stunde empfängt er Monsieur Léon Jammes. Heute, am Tage des Kriegsbeginnes! Bedeutende Umstände. Geheimnisse, die wir nicht erraten werden.«

»Alter Schwätzer, ich kenne sie.« Pigeon riß seine Nasenlöcher erstaunlich auf. »C'est facile, avec son nez camus«, bemerkte Alain für sich. »Sie kennen sie«, wiederholte er nachdenklich; er glaubte dem zweiten Alten nicht. Warum gab sich der Kamerad nicht mehr nur ungnädig, sondern aufgeregt? Ging es ihn mehr als andere an, wer im Zimmer des Direktors war? Alain wollte die Sache fallenlassen, es eilte ihm, sein wirkliches Anliegen vorzubringen. Aber Pigeon erlaubte ihm noch nicht zu reden. Er bestand darauf, daß er den Besucher nicht nur gesehen habe, als er eintrat. Was der Polizeispion bringe, wisse er längst. Er sei imstande, das Gespräch, wie es drinnen stattfinde, wörtlich herzusagen.

»Le pauvre«, dachte Alain; er glaubte kein Wort. »Wozu lügt er? Das ist nicht natürlich.« Er änderte eigens seine Stellung, um bestätigt zu finden, was er wußte: von hier war die Tür des Zimmers ganz verdeckt. Man überblickte auch nicht den Vorraum. Unmöglich zu wissen, wer dort saß und wartete. In diesem Augenblick beschloß Alain von Kobalt zu schweigen. Indessen, wie kam es, er fühlte sich durchschaut. Der schreckliche Buchhalter ließ ihn nicht aus den Augen; seine Art wäre vielmehr gewesen, Alain zu vergessen, als hätte der Geringe sich niemals hergetraut.

Seufzend entschuldigte dieser seine Anwesenheit mit einem neuen Vorwand. Er sei im Zweifel, ob er den wichtigen Besuch des Herrn vom Deuxième Bureau unterbrechen müsse, um Monsieur Laplace de Revers zu melden. Noch ist der Finanzier nicht da, an seiner gewohnten Zeit fehlt einiges, aber ihn warten zu lassen verbietet sich. Auch Monsieur Léon Jammes kommt in dringenden Angelegenheiten – um so dringender, da seit heute Krieg, au fond schon wieder Krieg ist.

Dies war überflüssig, Alain wußte es. Er sprach zu viel, weil er den Punkt, der ihn wirklich beunruhigte, nicht nennen wollte. Der Buchhalter wurde noch furchtbarer, denn plötzlich gab er sich sanft. Er bezeugte dem alten Garçon seine pflichtgemäße Demut, der zu Ehren er so dumme Fragen stelle. In Wahrheit sei ihm durchaus bewußt, daß ein Präsident des Aufsichtsrates, der mächtigste Mann der Bank, den Vortritt habe vor einem gewöhnlichen Polizisten. – »Kein gewöhnlicher«, wendete Alain ein, um die verhängnisvollen Worte aufzuhalten, aber sie waren auf dem Wege, sie trafen ein.

»Messager«, sagte Monsieur Pigeon, »Sie beschäftigt einzig und allein der Gedanke, eine Person, die Kobalt genannt wird, beim Direktor einzuführen. Ich benachrichtige Sie, daß Sie Ihren Posten verlieren werden, ob Sie Monsieur Laplace de Revers zu warten nötigen oder nicht.«

»Es ist nicht, wie Sie meinen«, beteuerte Alain, dramatischer, als er gewollt hatte. Der Buchhalter, mit deutlicher Verachtung: »J'ai vu, de mes yeux vu cette Kobalt.« – »Alors vous aviez la berlue.« Jetzt dichtete Alain seinem Richter ein Augenleiden an, so sträflich schien auf einmal ihm selbst sein Beginnen, Kobalt einen Sessel anzubieten, Kobalt dem Direktor zu melden. »Mit eigenen Augen gesehen«, sagte der Unerbittliche. »Die Person mischte sich wieder einmal unter die Kunden, obwohl sie nichts weniger als eine Kundin ist.«

»Sie war eine bedeutende«, wagte Alain. Worauf Pigeon: »Gut, Sie verteidigen sich selbst. Ich wußte nicht, was aus ihr geworden ist. Seit Sie um mich her sind, Messager, fühle ich, daß Kobalt Sie zugänglich gefunden hat. Vous la dissimulez dans vos parages. Was Sie aber nicht wissen, verrate ich Ihnen: sie sitzt und wartet im Einverständnis mit Léon Jammes, der sie dem Direktor zu bringen wünscht. Er hat seine eigenen Gründe. C'est tout. Vous pouvez disposer.«

In dieser Kürze entlassen, haftete Alain zwei, drei Sekunden am Fleck, wo er stand, bevor er kehrtmachte und folgsam abging. Er fühlte, daß nicht Monsieur Pigeon allein streng von ihm dachte. Jeder andere würde ihn diesmal mißbilligt haben; Verständnis für Kobalt hätte keiner. Der Buchhalter ging allerdings weiter, er nahm die Handlungsweise des alten Chasseur, die einfach auf menschliche Teilnahme gestellt war, wie eine feindliche Absicht. Folgenschwere Torheit, sagt nicht genug. Die arme Kobalt sollte verabredet sein mit Léon Jammes, einem politischen Agenten. Quelle idée!

Der Chasseur schlurfte, ohne die Füße zu heben, mit dem Blick am Boden. Aber woher nahm Pigeon, auch nur ein Angestellter, diesen fernliegenden Gedanken? »Das ist nicht natürlich.« War dieser Buchhalter wirklich imstande, ein Gespräch, wie es drinnen stattfand, wörtlich zu wiederholen, dann mußte er tief genug in Geheimnissen stecken. Diese aber, Alain erfuhr es von seiner mißtrauischen Ahnung, waren verwerflich.

Überrascht von sich selbst erhob er die Augen, da sah er Kobalt. Aus einiger Entfernung war sie nunmehr sichtbar, auch daß sie mit jemand sprach. Ihr Bekannter trat wenig hervor aus dem Halbdunkel zwischen Pfeilern, die ihn schützten. Kobalt hielt den Hals gewendet, um sein Gesicht zu unterscheiden, mag sein, er ist kein Bekannter. Alain blieb stehen; er ließ ihr Zeit, den Mann zu verabschieden, falls sie mit ihm nicht beobachtet sein wollte. Überdies war der Alte mit Monsieur Pigeon nicht fertig.

Wer Magengeschwüre hat, haßt diesen oder jenen, dagegen vermag man nichts. Aber einen Léon Jammes wider besseres Wissen als gewöhnlichen Polizisten bezeichnen, heißt sich Blößen geben. Auch wenn es geschieht, um Monsieur Laplace de Revers noch höher zu stellen; vielleicht gerade dann. »Was hat Pigeon mit Laplace, daß er gegen Jammes ist?« Es war eine unvermutete Frage, um so schlimmer, wenn sie sich aufdrängt. Léon Jammes, nicht wahr, ist ein Beamter des französischen Informationsdienstes. Jeder seiner Schritte geschieht zum Vorteil Frankreichs, zweifellos auch dieser. In der Stunde, da ein neuer Krieg ausbricht, kommt er.

Vertrauen verdient er nicht zuerst, weil man weiß, wer er ist. Kleine Leute wie Alain Messager blicken, je weniger sie vom sozialen Rang zu hoffen haben, auf die Art der Gesichter. Dieses hat nichts zu verbergen. Besäße der Typ alle Geheimnisse des Landes, er bleibt offen, kann rauh sein, aber abweisend nie. Er verachtet nicht. Der andere Typ, Laplace de Revers, hält sich bei dem Durchschnitt in persönlichem Ansehen vermittels eines kalten Abstandes – den Messager jetzt anders begreift als vor seinem Auftritt mit dem Buchhalter. Dieser haßt Léon Jammes nicht nur infolge seiner eigenen ulcères, sondern weil der reiche, mächtige Laplace ein Verräter ist und Jammes ihn kennt.«

Quelle idée! müßte Alain gerade diesmal sagen, er hält es sich auch vor. Wo sind Verräter? In jedem Krieg will man sie finden, aber zumeist erst, wenn etwas schiefgeht. Verraten, wie macht man es? Die Wissenschaft eines Alain liefert ihm keine Beweise, nur sein scharfsichtiger Instinkt. Seit Frankreich wieder seine Existenz wagt, was im Grunde jeder vorhergewußt hat, beobachtet er an dem Verdächtigen eine mehr als gewöhnliche Reizbarkeit. Furcht oder schlechtes Gewissen? Wer viel Geld hat, fürchtet mehr als wir und handelt anders. Eines Tages wird es sich zeigen; aber daß die Entblößungen nicht zu spät kommen, dafür sorgt Léon Jammes.

Der Buchhalter scheint Alain wirklich empört zu haben, wenn ein furchtsamer alter Mann bei diesen heftigen Meinungen anlangt. Will sagen, furchtsam nennt man ihn mit dem Verstand eines Pigeon, der Weisheit und Milde verkennen muß. Noch dazu sind sie hier in das Benehmen eines Dieners gekleidet. Alain ist nur ein Türsteher, obwohl auf wichtigem Posten. Übrigens fand er es an der Zeit, nach seiner Tür umzusehen. Der Besuch überschritt die Dauer, die noch harmlos zu erklären gewesen wäre. Das Personal der Bank mußte aufmerksam geworden sein.

Da aber erschrak er, mehr als das Personal, dem auch nicht wohler wurde, wenn Monsieur Laplace de Revers auftrat. Er nahm seinen üblichen Weg, zwischen den Pfeilern die lange Wand hin; vollzog dies gewohntermaßen, Rumpf zurück, Bauch heraus, der Gang steif, aber aufgezogen, wie früher die Automaten. Er war nur mittelgroß; auszusehen wie ein Gipfel, erreichte er mit seiner erhabenen Miene. Ihre Eisigkeit, sosehr sie täglich zur Schau getragen wurde, heute war sie übertrieben, zuviel kalte Strenge, sie ließ Entsetzen ahnen und erinnerte an die ausbrechende Katastrophe. Die Zeitung, zerknüllt, in einer seiner Taschen, zeugte von dem eher unbesonnenen Zustand des Präsidenten. Erst recht, was er noch tun sollte.

Es ist wahr, daß dem Personal hinter der Schranke die Arme herabfielen, während die Kundschaften, die nicht mehr bedient wurden, trostlos hinter sich blickten. Trotz dem Eindruck, den er machte, war Monsieur Laplace de Revers kein Triumphator, weit davon. Angst hatte man vor ihm immer. Heute wurde geschaudert – ohne bewußte Begründung, oder nur er selbst besäße sie. Er verursachte ein instinktives Schaudern, »mir und allen«, fühlte Alain Messager, der hypnotisiert am Platz stand. Sein gebannter Geist streifte die Gefahren, die ihn angingen: Kobalt in ihrem Sessel, ahnungslos beschäftigt mit einem Lästigen, indessen die Füße des Verhängnisses vorwärtsgesetzt wurden. Aber drinnen – aber drinnen Léon Jammes, den Alain eigenhändig wird vertreiben müssen, damit Monsieur de Revers nicht wartet!

Nun ging es anders zu. Die Automatenbeine des mächtigen Gebieters hörten plötzlich auf, sich eines vor das andere zu schieben, der Mechanismus schien abgelaufen. Indessen war es Monsieur Pigeon, der Buchhalter, der die Störung bewirkte. Er war an seinem entfernten Punkt aus der Schranke getreten und eilte herbei. Nein, den Präsidenten versäumte er nicht; schien sogar mit ihm verabredet – »wie Léon Jammes mit Kobalt«, bemerkte Alain, der in unbekannte Beziehungen der Personen einzusehen begann.

Was heute in der Zeitung stand, mutete ohnedies unwirklich an. Obendrein das Zusammentreffen einer Reihe phantastischer Umstände: Alain hätte an Verschwörungen glauben können. Nur sein Wirklichkeitssinn hielt ihn zurück; aber auch er unterliegt Zweifeln. Wenn der alte Chasseur das Verhalten Kobalts prüfen wollte, fand er sie alleingeblieben. Allerdings lehnte ihr Sessel an einer Ecke, hinter der es völlig dunkel wurde. Aber im Augenblick führten die Herren Laplace und Pigeon ganz anders auf. »Schon unerhört, daß man sie nebeneinander nennen muß!«

Vor allem ließ der Präsident den Buchhalter seinen Weg nicht beenden; die Hälfte nahm er ihm ab. Weil er seine öffentliche Begegnung mit einem sous-ordre abzukürzen wünschte? Dann aber durfte er seinem Auserwählten nicht folgen, bis wohin zumindest Alain die beiden mit den Augen begleitete. Der Tisch des Buchhalters war gegen den größten Teil der Halle geschützt. Die Angestellten hatten den Dienst wiederaufgenommen.

Übrig blieb doch immer, daß ein Pigeon es wagen konnte, den hohen Herrn in Empfang, ja, in Besitz zu nehmen: ihn abzuhalten von dem Zimmer des Direktors, zweifellos sein Ziel, ihn vielmehr zu entführen nach anderen Himmelsstrichen, seinem eigenen unzugänglichen repaire. Pigeon führte; ob mit Diensteifer, unterstützt von Kriecherei, jedenfalls führte der Buchhalter, einen halben Schritt voraus dem Präsidenten, der folgte.

Den Vorraum des Zimmers und seine Tür – mit Léon Jammes dahinter – beachtete keiner von beiden. Gerade dies überzeugte Alain, daß es die Folgen seines Auftrittes mit Pigeon waren, was sich hier abspielte. Er war genötigt worden, dies und jenes einzugestehen, hinaus über vorgebliche Tatsachen, die der Verräter schon wußte. Jetzt meldete er seine Entdeckungen dem anderen Verräter. Alain sparte nicht länger mit dem Wort.

Seine Neigung es anzuwenden, wurde zwingend, als er das nächste sah. Die Komplizen, dies ihr zweiter Name, untersuchten den Tisch des Buchhalters auf seine Sichtbarkeit hin. Sie stellten fest: zum wenigsten traten sie in das Blickfeld des Chasseur – der mit abgewendetem Kopf dennoch fühlte, wie sie ihn musterten. Da griffen sie zur Flucht aus der Tür, die auf die Treppe ging, und oben war die Wohnung. Alain wurde durchaus erschüttert von der Tiefe der Geheimnisse, die sie unter sich teilen mußten, in Anbetracht ihrer durchgreifenden Maßnahmen. Beim Öffnen der Tür versagte Pigeon sich alle Unterwürfigkeit. Sehfehler vorbehalten, hatte ce Français moyen den Präsidenten Monsieur Laplace de Revers, Grand Officier der Ehrenlegion, am Ellenbogen hinausgeschoben.

Alain wartete, was noch geschehen sollte. Anfangs atmete er kaum. Die Komplizen blieben lange fort, er verfolgte auf einer Wanduhr die Minuten. In fünf kann man, wenn es drängt, eine Menge Geheimnisse austauschen. Neun, elf sollten es fünfzehn werden? – reichten für einen Besuch droben, wo sie unfehlbar den Comte X fanden. Lehideux hieß er, man hatte es vergessen oder nie gewußt. Alain kannte im Hause jeden. Dieser stand unter seiner Beobachtung – wegen des Namens, der für sich allein schlimm genug war. Die Verbindung mit einem Adelsprädikat machte das Maß voll. Alain, in dem Sturm, der seinen Sinn bewegte, hielt ihn zu allem fähig.

Aber die Zeit wurde lang und länger. Wenn er nur auf die beiden Komplizen gewartet hätte, ist dem aufgestörten Biedermann zuzutrauen, daß er einen großen Auftritt erfindet, droben zwischen den drei Herren. Die Dame des Direktors bleibt für ihn unsichtbar. Mit ihr, die einen Comte X empfängt, weiß Alain nichts anzufangen, er läßt sie weg. Seine wirkliche Lage indessen warnte ihn vor Vereinfachungen. Gleichzeitig mit den Abenteuern jenseits der einen Tür ging hinter der anderen vieles vor, auch hier war Alain berufen einzugreifen. Er mußte über sein Erlebtes, Erratenes Meldung erstatten an Léon Jammes, wenn dieser nur erst hervorkäme.

Denkt er aber an das Gesicht des geheimen Agenten, der ihm zuhören wird, dann ist ihm klar, daß er selbst niemals laut vermuten wird, Monsieur Laplace de Revers habe die Wohnung des Direktors und seiner Dame erstiegen. Das gibt es nicht. Ein Mann dieses Gewichtes, dieser Sitten teilt nicht die Luft desselben Zimmers mit dem Individuum, Comte X genannt – viel weniger sucht er ihn auf. Seine erstaunlichen Machenschaften mit Pigeon unterliegen dem gleichen Gesetz. Vertraulich ist daran nichts. Wäre es sogar die accolade, Umhalsung, Kuß auf beide Wangen, auch sie kann nichts wegnehmen von dem ungeheuren Abstand der Personen. Der Buchhalter wird von all dem kein Mensch; er bleibt der benutzte Gegenstand, Papierkorb, vielleicht Revolver.

Alain seufzte auf. Abwesend, weil er zu viel dachte, nahm er vor der Tür des Direktors seinen natürlichen Posten ein. Zuerst wußte er es noch nicht; seine Füße hatten ihn von selbst hingetragen. Kaum stand er, als über seinem Kopf die Klingel nach ihm rief, ein kurzer barscher Befehl, der ihn in Bewegung setzte, mehr noch innerlich. Auf einmal erinnerte er sich an die verschiedenen Ausgänge des Hauses. Monsieur Laplace war offenbar längst fort. Die Anwesenheit des Buchhalters droben blieb ungewiß.

Was ihm sonst noch einfiel während des Griffes nach der Tür: er wird entlassen werden. Monsieur Laplace hat ihn angesehen, als Alain ihn zu überwachen schien – nicht nur schien –, und den empfangenen Blick wird der geringe Mann bis an sein Ende bewahren. Auch der hohe Herr wird von Alain wissen, genausolange, bis er den Garçon mit vierzig Dienstjahren aus der Bank entfernt hat. Und seine Tochter? Dies entscheidet über Louise.

Pigeon hat Familie! Immer noch streckte Alain die Hand aus. Nicht eine: drei unversorgte Töchter hat Pigeon. Begeht er Unrecht, weil ein Reicher ihn bezahlt, verantworten möge es der Reiche. Ein Armer kann nicht Frankreich verraten: er hat zu viele unversorgte Töchter. Milde für einen Schurken oder Schurken bedienen, macht mitschuldig; man übt Nachsicht nur aus eigener Not. Alain sagte sich auch dies; und obwohl er nicht wußte, wie man es macht zu verraten, bereute er – für andere, für ihren Jammer.

Endgiltig beschloß er hier, Kobalt drinnen anzumelden: beiden, denn beide hatten Geschäfte mit ihr, Monsieur Conard, wie Léon Jammes. Den zweiten hatte der Buchhalter verdächtigt, er sei verabredet mit Kobalt. Um so besser für sie. Was den Direktor anging, kannte er sie, seit diesem Besuch des geheimen Agenten. Weshalb kam er wohl, wenn nicht ihretwegen? Erstaunlich, Alain Messager, brave homme, wuchs über seine Natur, er sah durch Türen die Umrisse unbegreiflicher Vorgänge; er hörte Kobalt nennen. Sie sprachen von Kobalt. Er drückte den Griff nieder.

Die Klingel mußte ihm nicht zweimal befehlen. Er war pünktlich. Seine Erkenntnisse insgesamt kosteten ihn die gewöhnliche Zeit, vorzutreten, den Arm zu erheben, zu öffnen. Er trat ein. Hinter sich schloß er.


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