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Das Schlachtfeld

Das Geschäft droben war bald getan. Das gesuchte Zimmer fand sich am Ende eines gewundenen Ganges, nach Art der unteren Anlage. Geschossen wurde nicht. Der Besucher machte absichtlich Geräusch, als er unter die offene Tür trat. »Bist du es noch einmal?« fragte eine zärtliche Stimme. »Sie haben nicht schießen gehört?« fragte er dagegen. Die Frau war, kaum daß sie ihn erkannte, schon gefaßt. Vielleicht wußte sie von Anfang an, wer da kam. »Natürlich Sie« – dies, während sie auf ihrem auffallend schäbigen Toiletteschemel die unbekleidete Büste herwendete. Unten hatte sie auch nichts an, abgesehen von einem zerrissenen Short. Scheinbar unbegründet hing ein bunter Shawl über dem einen Knie. Sie saß hoch, auf all ihrem Fleisch.

Sie erklärte behaglich: »Mein Mann konnte es nicht sein, er geht soeben von mir. Nicht er hat geschossen, sondern Sie. Sie haben ihn totgeschossen.« – »Das scheint Sie nicht aufzuregen. Gerade vorher wollen Sie ihn empfangen haben? Sie lügen.« – »Tote empfange ich nicht. Aber zieh dich aus, Kleiner, dann wollen wir sehen.« Sie lachte gutmütig frech, während sie zwischen zwei Spiegeln ihre Schönheit erneuerte. Er dachte, Frauen wie diese besäßen tatsächlich das bequemste Mittel, einen Mann auf andere Gedanken zu bringen. Einen Augenblick spielte er den Furchtbaren.

»Steh auf, öffne deine Couch, sie hat einen Deckel. Nicht deinen Mann hast du darin versteckt.« Da sie nicht verstehen wollte: »Lehideux liegt drinnen.« Hier versuchte sie zu erschrecken. Es geriet bedauerlich unecht. Er sah, daß der wirkliche Aufenthalt ihres Opfers nicht so einfach war. Die Frau hatte sich schon gefaßt. »Wenn du willst« – sie sprach träge, »aber ich stehe nicht auf. Versuch es.« Sie hielt die ausgedehnten Arme hin; auch die Hüften verbreiterten sich, sie lasteten auf ihrer Unterlage. »Sie sitzt dennoch zu hoch«, stellte er fest. »Die Masse der Schenkel, die über den Rand des Schemels quellen, liefert keine hinlängliche Erklärung, wie hoch sie sitzt.« Er wettete mit sich, daß er sie dahin bringen werde, ihre Fülle vom Sitz zu heben, wenn nur kurz. Er begann damit, sie abzulenken von dem wirklich gefürchteten Punkt. »Dein Mann ist schon in Händen der Polizei. Dumm wie du ihn kennst, stürzt er sich auf einen Wagen, der jeden nach dem Kommissariat bringt. Wie wär's, wenn wir ihm folgten?«

»Meinetwegen« – noch weniger beteiligt konnte sie nicht mit der Puderquaste an sich umherfahren. Da krachte aus seinem Munde der gefürchtete Schuß. Sie hatte schon gehofft, er käme nie. »Richte endlich deine Tischlampe auf! Jeder sieht ihr an, daß sie auf der Seite liegt, seit du Lehideux mit ihr erschlagen hast.« Schon war sie auf, um nach der Lampe zu greifen, schon hatte er unter ihrem üppigen Gesäß die zweite Mappe hervorgelangt. »Siehst du wohl, begehrte Reine«, sprach Léon Jammes, im Ton des befriedigten Liebhabers. »Ich bin am Ziel meiner Wünsche.« Sie stand aber vor ihm, sogar über ihm, als eine drohende Venus, die Hand um die Mitte der Lampe, das schwere Gestell erhoben, um nochmals einen Kopf zu treffen.

»Aber nein«, warnte Léon Jammes. »Cela ne se fait pas. Vous insistez?« fragte er noch, da fiel sie schon über sein plötzlich vorgestelltes Bein, ließ die Lampe los, wurde gequetscht, schrie jämmerlich. »Tut es weh?« fragte er, nicht ohne Teilnahme für die interessante Person, die einen Lehideux erschlägt. »Ich tue dir nichts«, versprach er. »Wäre es sogar Monsieur Laplace de Revers, der in deinem Schrank steckt, alte Mörderin.« – »Ich bin es nicht gewesen. Ich habe niemand erschlagen. Mein Mann war hier, mich lieben. Lehideux hat kein Geld.« – »Auch ihr seid pleite«, sagte er trostreich, während er wegräumte, was hinderlich war, zuerst die Gestalt – er warf ihr ein Kleid zu –, dann den Tisch mit dem doppelten Spiegel, dahinter er die Stelle des Wandschrankes berechnet hatte.

Das Zimmer war eng. Als die eingelassene Öffnung freilag und aufsprang, befanden sich, den Erschlagenen mitgerechnet, zu viele Leute hier. Vorsicht, oder sie stolpern übereinander. Die Lampe brannte nunmehr, Reine leuchtete hinter die Kleider, sie war selbst begierig zu erfahren, was sie wirklich angerichtet hatte. Zuerst sah es unheilbar aus, wie immer beim Comte X. »Salut«, sagte sein Befreier. »Stecken Sie heute schon das zweite Mal in einem Kleiderschrank? Das müssen synarchische Sitten sein.« – »Hüten Sie sich!« gurgelte der Geknebelte, während ein Damenstrumpf aus seiner Kehle entfernt wurde. Dann setzte er hinzu: »Sie sind vorgemerkt.« – »Vous m'étonnez«, sagte Léon Jammes.

»Wer hat jetzt wem etwas vorzuwerfen?« bemerkte die Frau des Hauses. »Ich verantworte eine gute Tat. Dieser sympathische Edelmann stand im Begriff, mehreren Personen, die er in eine Falle gelockt und niedergeschlagen hatte, ihr Geld abzunehmen. Ich rettete es für die Eigentümerin, meine geliebte Freundin Kobalt.« – »Ich«, sagte Lehideux, »brachte es in Sicherheit vor einem kosmopolitischen Habenichts: Fernand heißt er jetzt. Indessen unterscheide ich mich von Madame, sie führt die härtere Hand. Mein Kopf hat gelitten.« – »Sie und Ihr Kopf gehörten schon vorher in den Kleiderschrank«, sagte sie. »Unser Freund bezeugt es.« – »Ich bezeuge«, sagte Léon Jammes, »daß von allen Ereignissen des heutigen Tages dieses noch das sinnreichste ist. In seiner Art liebenswürdig, verdient es die Anerkennung der Behörde, die wir demnächst aufsuchen.«

»Ohne mich«, sagte Reine. Sie hatte bemerkt, daß der Weg aus diesem Zimmer offenstand, sie war draußen, sogar ein Kleid bedeckte sie. »Ich hole die reizende Person zurück.« Der wieder hergerichtete Lehideux setzte ihr nach. Von weitem lachte er. »Léon Jammes ist drollig, er glaubt an die Polizei. Gehen Sie hin, wir haben vorgesorgt, daß man Sie dabehält.«

»Alles spricht dafür, wenn noch nicht heute, dann nächstens«, antwortete Léon Jammes im stillen. Auch er brach auf, unter dem Arm die gekrönte Mappe. Den Verlust der zweiten fürchtete er wenig. »Gesetzt, das Paar brächte sie dennoch an sich, es wird in meinem Wagen, dem niemand etwas ansieht, nirgends sonst landen als stracks au dépôt.« Im Grunde glaubte er noch immer an den geordneten Verlauf.

Dagegen hatte er nicht erwartet, drunten jemand vorzufinden. Wirklich war von allen seinen Schützlingen nichts übrig, außer, in ihrem beschädigten Zustand hätten sie gewisse Spuren hinterlassen. Er erschrak dennoch, seine Taschenlampe zeigte ihm am Boden mehr Blut, als die Umstände erklärten. Wessen Blut? Lief es aus Wunden?

Zwei mehr oder weniger Verletzte, aber auch sie, die ihr Blut von selbst verlor. Hatte er es noch nicht miterlebt? Ihm war, als sähe er – sähe unter dem gespenstischen Licht de ce sinistre réduit den Körper, der sich biegt, streckt, das kleine blasse Gesicht bläulich angelaufen, kein Atem. Kein Atem, sondern über die Zunge fließt es. Dies Blut wird nicht erbrochen, es fließt, bis es stockt. Das tritt ein, wenn das Herz – mais oui, un cœur éprouvé en a fini de ses peines. Ausgerungen hat der Atem.

Léon Jammes selbst hielt jede Bewegung an. Äußerlich stand er ohnedies über den leeren Boden gebeugt, aber auch sein innerer Sinn neigte sich, verzichtete, erstarb. Ihm kam kein Gedanke, daß er am Ende nichts versäumt habe. Worauf sich noch berufen, wenn die Erfolglosigkeit ausartet bis zur Katastrophe. Er, ein Exemplar der bestellten, geübten Intelligenz, bringt eine kostbare Sterbende in das Schwein, das keinen Groll kennt. Ohne Groll, tötet es sie. Es lacht, ce cochon-là ist zuverlässig, wie jemals lacht es, angelangt wird er es lachen sehen. Noch arbeitet er sich durch den Saal.

Er hat nie so wenig gewußt, was er tat. Als er den einen der Türflügel hinter sich fallen ließ, konnte er den zweiten öffnen, um durch die Küchen abzugehen. Wirt und Wirtin sind aufgehoben, er ist der Herr. Das Personal hätte ihn noch einmal gefürchtet, er hätte dort erfahren, wie es zugegangen ist. Blind, in der Haltung des einsamen Verirrten nimmt er hin, daß ausgelassene Schwärme ihn anrennen, wieder freigeben, ihn mit Zurufen verfolgen, bald werden sie anzüglich sein. Groß gewachsen, robust, elegant, dichter Schnurrbart, die Erscheinung geachtet. Aber die Autorität ist abgestellt bei einem Publikum, das umsonst trinkt. Außer aller Ordnung wird man mit Getränken überschwemmt, die Leute verstehen es selbst nicht, oder sie haben begriffen, daß niemand bezahlt, wenn die Eigentümer verwahrt sind.

»Es ist erstaunlich, obwohl so einfach«, klagte der junge Faschist Maudit, oder wie er hieß, und leerte die kostenlosen Kelche. Seine Freundin eroberte sie ihm, von Germaine nahm er auch. »Ist es denn wahr«, rief sie, nachgerade im Säuferbaß, »Mado ist tot, Reine hat das Geld geschnappt, der Patron wird verhört, ein geachteter Geschäftsmann und morden.« Sie bemerkte etwas. »Monsieur Leon Jammes, was tragen Sie im Arm? Was haben Sie mit dem Comte X gemacht? Mit den Wirten? Der Bandit – sind Sie.« Erschöpft fiel sie gegen den Jüngling, sie riß ihn um, das letzte Stück Weges lag für den Augenblick frei. Léon Jammes benutzte es, er entschwand droben, auf der Straße, hinter ihm erklang als Abschied eine mehr oder weniger verbündete Hymne, mag sein die russische, der Dirigent war ein Weltweiser.

Vom Schwein ohne Groll zu guter Letzt entlassen, sogar ausgestoßen, fühlte der Gast, der nichts getrunken hatte, seinen Kopf vor Nüchternheit leer. Ein Morgenwind kreiste darin, nicht anders als in der öden Frühe ringsum. Das erste Licht des Tages ist fahl, dieser Tag verspricht farblos zu bleiben. Sein Beginn war Mißerfolg, ein Irrsal der Vergeblichkeit. Sein Licht vereinigt sich fortan, unbeweglich, auf einem bleichen Kissen, wo in der Welt ist es.

Kann ein Mensch, gewohnt des ordinären Straßenverkehrs, selbst ein Stück von ihm, dermaßen verlorengehen? Er nennt die Straße nicht. Er kennt nicht mehr die Stadt. Ein Wesen, ihm auf Wegen, die er nicht begreift, das teuerste geworden, blutet zu Tode. Stille ohne Ende. Von ihrer Stimme kein Laut mehr. Es kämpft und versagt ihr Atem – kein Hauch mehr? Wahrhaftig hat er geglaubt, über sie gebeugt, hielte er sein Ohr hin.

Er fand es an der Zeit, seinen Geschäften nachzugehen, sah sich nach seinem Wagen um, traf weder ihn noch den anderen. Natürlich war die Kranke, die ihn über das Maß verstörte, fortgebracht mit all ihrem glänzenden Apparat, der Chauffeur von der Polizei gestellt, übrigens lauter Produkte des Spielerglückes, das Luxusauto, der Sekretär, der endlich Fernand ist, das verwundete Mädchen, auch ein Geschenk. Der zweite Wagen, seiner, stand noch aus, seit der Ablieferung der anderen drei Fahrgäste. Jeder zu seiner Zeit ist ohne Zweifel angelangt, ganz wie die Ladung des ersten Chauffeur-Polizisten. Nur der Beamte Léon Jammes, der gestern nacht kein Glück hatte, kommt nicht von der Stelle. Anstatt aufwärts und um die Ecke, geht er dasselbe Stück Straße mehrmals, bis es sich dennoch lohnt.

Une auto puissante, das heißt größer als nötig, glitt lautlos zwischen den Häusern hervor. Léon Jammes erkannte es gleich, begriff auch, wer da Eile hatte, auf das Schlachtfeld zu gelangen. Er zog den Hut vor Frédéric Conard in bleu horizon, der grüßte. Ein Zeichen, daß sie einander sprechen wollten, gab keiner; aber der Wagen hielt: wahrscheinlich, weil einer nicht wiederkehrt, fände aber den anderen auch nicht mehr.

Beide klärten ihren Hals, sie mißtrauten ihm oder hatten nichts zu sagen. Sprach der eine, damit etwas geschehe: »Sie erreichen den Bahnhof zu früh.« Der andere gleichzeitig: »Ich komme immer genau zur Abfahrt.« – Der erste: »Die Micheline bis Marseille ist unfehlbar à l'heure. Mit dem Expreß sind Sie um sieben in Paris.« Jeder von beiden weiß dies jederzeit. Der erste, noch einmal: »Nach der Grenze haben Sie sogleich Anschluß, Capitaine.« Sehr zu vermuten, daß der Umstand der Weiterreise zum Regiment bekannt ist wie das vorige. Der zweite, da sein Wagen nun einmal steht, verläßt die Überflüssigkeiten. »Unsere Unterredung gestern morgen …«

Pause, sie sehen einander an. Nicken des ersten, damit der zweite beendet. »War nicht erfolglos, wie Sie sehen.« – »Sie reisen, Ihr Ziel ist ein Schlachtfeld. Riet ich Ihnen ab, als wir hin und her erwogen?« Léon Jammes fragt wirklich. Frédéric Conard antwortet im Ernst. »Sie waren dagegen. Hat der vergangene Tag unseres Lebens Sie anders belehrt?« Ohne einen Namen. Auch der andere läßt den Namen aus. »Wenn zu unserer Verfügung ein Schlachtfeld stände. Warten wir ab, ob dieser Krieg dergleichen zeitigt. Will ich fallen, leichter ist es hier.« – »Nein. Denn ich …«, sagte der andere. »Doch. Denn ich …«, sagte der eine. Beide meinten dasselbe, den Abschied von einer Frau: man nimmt ihn wo immer.

Sie nannten keinen Namen. Im Gegenteil verschlossen sich ihre Gesichter, eine allenfalls übrige Vertraulichkeit wurde sichtlich abgestellt. Léon Jammes denkt: »Weiß er auch nur, wenn der Patriot verzweifelt, welche Liebe er wählt, ihn in den Tod zu schicken? Zwei sentimentale Antriebe sind zuviel, für zwei Frauen stirbt man nicht, sondern aus Bequemlichkeit und Schwäche.« Währenddessen denkt Frédéric Conard: »Der Mann kommt entschieden zu spät. Mein war der unvergängliche Augenblick des Glückes, das nicht zweimal, dem zweiten nie erscheint. Ich bezahle dafür, mit Lydia verliere ich Estelle. Er aber, hat nichts zu verlieren, zu gewinnen auch nicht die Vergänglichkeit. Er stürbe, und was ändert sich, wann hat er gelebt.«

Der Wagen lief wieder, nicht der noch jener hatte an Verabschiedung gedacht. Der Reisende fuhr vorbei an der abgehausten Stätte einer Nacht, die ihm fremd war. Ausgeräumte Reste von Leuten riefen ihn an, er schloß sein Fenster. Der Zurückgebliebene eilte in der anderen Richtung. Dennoch beginnt ein Tag, die Begegnung ist vergessen, mag sein für immer.


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