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All ihre Gaben

Vorüber die Pause, in der ihr zu träumen erlaubt war. Inzwischen ist ihrer vielfach gedacht worden. Man hat sie nur körperlich allein gelassen, tut aber um ihretwillen, es wird sich zeigen, mehr als für Lebende. Wer herauf und bis an ihre Schwelle schleicht, wäre kaum enttäuscht, eine Tote zu finden. Manchen Beschauern wird sie schon für aufgelöst gelten, dank einer Verklärung, die nur der Tod so kundig vornimmt. Die Verklärung vergeht nochmals; jetzt sieht sie aus, als werde sie sprechen. Der Lauscher muß erst lernen, daß sie keine Stimme mehr hat.

Die Schwester Philomène hatte hierüber ihre Ansicht, die sie nur leise zu verstehen gab, überzeugt, man werde sie unheimlich finden. Madame Riquois verlangte es sehr nach der Stimme ihrer Freundin. »Sie lebt, ist wach, hat keine Stimme. Aber das ist unmöglich.« Die Nonne erklärte: »Sie sehen, daß es geht. Angenommen, es läge nicht an dem Organ …« – »Woran dann?« – »Das möchten wir wissen. Jedenfalls atmet sie.« – »Der Atem ist das letzte«, sagte die Wirtin. – »Und soll es bleiben«, sagte die Nonne. »Sie ist fromm, sie will sich nicht wieder hören lassen, kann es auch schwerlich, sie glaubt an ein Verbot.«

Madame Riquois erschrak. Nach einer Stille, ganz leise nur, erriet sie: »Weil ihre Stimme schön war? Verführerisch war? Sie aber hat abgeschlossen.« – »Sie atmet«, erwiderte die Nonne. Die Wirtin war schwer zu hören. »Wie, wenn sie die Einbildung hätte, sie wäre keine Lebende mehr.« – So viel wollte die Nonne nicht gesagt haben, plötzlich ging sie zur Strenge über. »Das ist Unsinn, wäre auch Lästerung. Lassen Sie die Besucher, die drunten warten, heraufkommen. Sie wird zeigen, daß sie lebt.«

Zur Stelle war Léon Jammes, er brachte eine verschleierte Dame mit. Madame Riquois erkannte sie dennoch, sie vermied nur die Anrede. Aber sie ließ Estelle eintreten. »Es ist soweit«, flüsterte Estelle, die vielleicht nicht wußte, wie ihr geschah. »Wann auch für ihn – für ihn?« fragte sie in einem einsamen Schluchzen, indes eine ihrer Hände die Wand entlang tastete. Die andere hielt einen Gegenstand, für ihn schien sie die Aufmerksamkeit des kleinen blassen Gesichtes zu erbitten. Seine Augen blieben geschlossen. Léon Jammes hing an dem Vorgang, es konnte nur zu wohl der letzte sein. Jeder ist jetzt der letzte.

»Sie haben sie telephonisch gerufen?« fragte Madame Riquois. Er antwortete: »Nicht gerufen, nur benachrichtigt. Sie und noch einen, der gleichfalls kommen wird.« – »Wozu?« – »Er will sie auf eine längere Reise mitnehmen. Läßt es sich nicht ausreden.« – »Er muß sie sehr lieb haben. Wer ist er?« – »Wird Vertugas genannt.«

Hier hörten sie einen Sturz, eilten herzu, hoben Estelle vom Boden auf. Sie ließ mit sich geschehen, was man beschloß. Sie trug ihr Gewicht nicht selbst, andere stellten sie vor das Bett; ihr war erlaubt, in ein Gesicht zu blicken, sie hätte es mit Augen durchdringen sollen, es hassen, an ihm ihr Unglück rächen. Oh! wohin träfe die Vergeltung, es ist das Gesicht nicht mehr, das Gesicht von gestern, mit seiner Lebensangst, Kampflust, Leidenschaft. Gestern haben Erinnerungen sie noch erschüttert. »Sie hat alles vergessen.« Estelle öffnet die Hand, die über dem Bett schwebt, solange andere den Arm stützen. Der silberne Pfau fällt, wird nicht beachtet. Vergebliches Geschenk, es fällt nicht nieder, wo sie ist.

Aber die Augen, man bemerkt es endlich, nehmen Kenntnis von Estelle, sie sprechen, traurig, voll Wissen, während die Lippen sanfte, stumme Versuche machen. Möchten sie gehört werden? Die Augen sind deutlich zu verstehen, ihnen muß man erwidern. Estelle wurde auf einmal still wie ihre sterbende Gefährtin, sie senkte die Stirn, eine Verabredung, mit ihr zurückzukehren in ein sehr altes Land. »Ich komme«, sprach Estelle. Die Hilfe der Fremden hatte sie abgeschüttelt, sie stand auf eigenen Füßen, sie sprach ihre eigene Wahrheit. »Du hast ihn mir genommen. Du bist so böse wie du gut bist. Wenn ich dich hasse, lieb ich dich. Euch folgen, ist mein ganzer Wunsch.«

Die Augen, denen sie es gesagt hatte, schlossen sich wieder. Estelle zog ihren Schleier tiefer, sie verließ das Zimmer von niemand begleitet. Indessen, Madame Riquois und Léon Jammes blieben auch nicht hier, sie überließen die Stätte der Sœur Philomène oder der kleinen Empfangsdame, wenn diese, ihres Flitters entkleidet, sich gezeigt hätte in dem Türspalt nebenan, der ihre Zuflucht war. Die Nonne verdeckte aufgerichtet das Fenster; weiß in weiß wurde sie unsichtbar, beschattete aber das Bett, den träumenden Kopf, das graue Haar. Keine Sonne vergoldete die blonden Strähnen.

Ohne Schonung für Bewunderer, die einem schönen Tod gern beigewohnt hätten, rasselte der Atem. Mehrmals konnte er nicht sogleich geordnet werden, die Hand der Nonne langte aus dem Vorhang; die Zunge, hervorgetrieben von der Not der Erstickenden, bekam ein Stück Eis, demütig daran zu lecken. In dem Augenblick, als niemand dazwischentrat, nur die Not herrschte, hatte Mado à la voix flûtée ihr Versteck verlassen. Ein Knie gebeugt, neigte sie die Büste ihrer Geliebten entgegen, auf der Brust waren ihre Hände gefaltet. Sie betete um einen leichteren Tod.

Entstehen neue Geräusche draußen. Mado in Panik versäumt ihre Flucht, sie kann nur die Augen schließen, ihr Beten wird laut aus Furcht, damit sie nicht dabei sein muß, wie eine entschlossene Person das Heiligtum stürmt. Dies war nun die Bäckerin Vogt, soeben vorgemerkt als Madame Lecoing. Sie kam vom Standesamt, mit Gefolge, voran ihre gute Freundin Antoinette. Sie nahm einen großen Anlauf, die eine Hand genügte, das Mädchen Mado im Bogen fortzuschieben. Die andere umklammerte ein Paket, bemüht, es geltend zu machen. Sie bewegte es hin und her, der Mund stand offen, um zu sprechen.

Er sagte nichts. Die Gestalt in matter schwarzer Seide begann zu zittern. Auf dem Kissen die Augen waren aufgetan, die Blicke der Freundinnen vereinten sich. Vogt, die soeben stürmisch gewesen wäre, behauptete nicht mehr, daß sie gestern alles vorausgefühlt habe, als ein Zeichen habe sie dieses selbe Brot vor die Tür gelegt, habe auch ein Blatt beschrieben mit dem Zeugnis ihrer unvergänglich treuen Sorge. Vielmehr schloß Vogt den Mund, ihr Gedanke sprach allein, sie war sicher, er werde verstanden. »Wäre ich immer nur eitel gewesen, wenigstens war ich es nicht, als ich das Brot hinauslegte. Die Minute kann mich retten. An der Minute hängt mein Heil. Lydia, gedenke mein!«

Versenkt in das kleine blasse Gesicht, vernahm sie seine Antwort. »Ich bin noch nicht erstickt, damit ich dich hören konnte, Yvonne.« Das machte die Bäckerin sehr glücklich. Die leichteste Geste war ihrer Hand verliehen, als sie ihre Gabe, das Brot von gestern, auf die Decke legte, neben die erste, die schon dalag – worauf sie stolz abging. Nur war es nicht ihr weltlicher Stolz mit dem Finanzamt als Rückhalt. Sie hat eine Auszeichnung empfangen, ist in Ehren zugelassen, aufgenommen ohne Prüfung und Verdienst. Niemand begreift dies, auch sie nicht. Ihr verwirrter Blick sah niemand mehr, sonst hätte sie jeden zuerst gegrüßt, vor allen anderen Mado.

Anwesend waren reichlich Interessierte, allerdings wahrten sie anständige Zwischenräume, von diesem Zimmer, dem einzigen besetzten unter lauter leeren, bis hinaus auf die Treppe, sogar hinab in den Garten. Eine junge Arbeiterin fragte eine alte: »Wird sie mit Sterben gerade auf uns warten?« – »Gerade auf uns«, wurde erwidert. »Auch nachher wird sie mit uns sein.« Aber warum? Man begreift schwer die schüchterne Anziehung, der so viele gehorchten.

Das Bekenntnis eines Clochard oder Vagabunden mit sonst wohlgelauntem Gesicht, das erst jetzt verarmte: »Oh! ich bin nicht hier, weil sie in der Zeitung steht. Mir ist, als wäre sie gewesen wie ich.« – »Oder wie ich«, sagte daneben ein propriétaire. Stummer Austausch dieser beiden. »Man stirbt sonst allein«, bedenkt der Hungerleider. Der Satte wirft einen Blick in das Zimmer. »Da liegt fast nichts. Aber wer sie beerbt, ist reicher als ich.« – »Nur die Verachtung eures Geldes kann er nicht erben.« – »Verachtung? Jeden Tag auf die Bank, noch dazu war alles eingebildet!« Beide hatten recht, wie sie auch sahen. Sonderbar, sie nahmen es einander nicht übel.

»Sonderbar«, bemerkte Madame Riquois. »Was suchen alle?« – »Sie hören es, einen freundlichen Abschied«, erklärte Léon Jammes. »Die Leute wollen sie gekannt haben. Sie haben sie weniger gekannt als geliebt.« – »Wie ich«, sagte die Frau. Er setzte insgeheim hinzu: »Wie ich. Entgegen dem Augenschein habe ich geleugnet, daß ich sie überleben soll. Wäre es das Zeichen, daß weder sie noch ich ganz sterben sollen?« Die Frau klagte: »Ihre Stimme, wohin ist sie?« – »Und der Atem, um den sie noch kämpft, wohin geht ihr Atem. Ich gäbe viel, mich selbst gäbe ich, um es zu wissen. Sie weiß es auch nicht. Sie ist erstaunt, daß sie ohne Stimme, ohne Atem bei allen diesen dauern soll.« Dies ausgesprochen, machte er eine Pause. Dann kam: »Madame Riquois, glauben Sie wohl, daß dies ein wirkliches Ende ist?« – »Bitte? Leider.« Darauf beschloß Léon Jammes dahingestellt zu lassen, was er übrigens nie vorher erwogen hatte.

Ihrerseits erkundigte sich die Wirtin: »Erwarten Sie etwas? Noch höheren Besuch als eine Fürstin?« Sie zeigte das offene Telegramm, das er ihr überlassen hatte. Er antwortete traurig: »Die Fürstin ist auf der Reise. Sie langt an, aber ihre Schwester erfährt es nicht mehr.« – »Sie weiß es schon«, versicherte Madame Riquois. – »Unmöglich. Sie hat zu tun, damit sie atmet.« – »Davon wacht sie, lebt noch, denkt, spricht auch.« – »Ich höre nichts.« – »Die Personen sind nicht alle da, den schnellsten Weg macht eine im gecharterten Flugzeug. Um sie hier, die sonst allein sein mußte, ist zum Schluß nun doch ein Gedränge.« Dem Mann, der begierig hörte, überließ die Frau zu erraten, was dies sei. Neugier? Ihre Heldin ist nichts so gewohnt wie die Neugier der Menschen. Indessen hat die Neugier selbst ihr Geheimnis. Eine ungeahnte, unerklärte Liebe, die darin beschlossen lag, wird entblößt. Sie ist heimlich angewachsen wie ein Kapital auf der Bank, das nicht vorhanden schien. »So sterben, die arme Frau ist glücklich.« Dies Wort fiel hörbar. Léon Jammes fuhr auf, er hätte sich laut empört gegen ein Glück, an dem man erstickt. Selbst von ihm gezeichnet, verwarf er intim, von Mann zu Mann, den Tod, diesen Tod.

Im Korridor hinten geschah etwas wie das Auftreten einer ungewöhnlichen Person, man hat sie vorzulassen. »Die Prinzessin«, sagte Madame Riquois, im Begriff entgegenzustürzen. – »Die kann nicht fürstlicher aussehen«, behauptete jemand, der Maria Piccini kannte. »Ein Vergleich würde Sie wundern. Wie eine Fürstin hält sich manchmal ein armes Mädchen.« – »Eine Hotelbesitzerin sieht viel. Sie, mein Herr, sehen mehr«, sagte sie, es wäre eine Zurechtweisung gewesen. Aber der selbstbewußte Mensch, der nicht einmal äußere Trauer, viel weniger die Ergriffenheit eines Nächsten der Heldin bekundete, war dennoch ihr Sekretär und mehr. Bis in ihre Vergangenheit ging seine Spur, wenn man will ohne viel Ehre. Er wird für ihr Andenken eine Last sein. Gleichviel, Madame Riquois bat: »Empfangen Sie die gutaussehende Dame.«

Die war sie. Übte den ersten Tag ihres neuen Lebens aus. War ordentlich verlobt mit einem petit banquier, der mit ihr kam, hielt aber zwischen ihnen einen respektvollen Raum. Da sah Maria Piccini für jeden Anspruch gut aus, ehrbar ohne Übertreibung, elegant in richtigem Maß, vor allem unbefangen wie Natur. Die Spitzen ihrer Brust waren gewohnt, hoch und stolz vorangetragen zu werden, wie auch das liebliche Kinn. Sie versteckte nichts, auf den roten Haaren wippte nur ein unscheinbares Hütchen. Dagegen mäßigte sie, was ihren Reiz auffallend vorgeführt hätte, den Gang aus schlanken Hüften. Sie machte kleinere Schritte, der Rock war über die Knie gezogen. Der Ausdruck der armen jungen Marie war abwesend, trotzig wollte sie ihn nicht.

Sie war erfreulich, daher gaben andere ihr willig Raum, man gönnte ihr den achtungsvollen Empfang. »Fernand hat Marie eingeladen«, sagten sie, während sie ihr nach, bis vor die Tür schlichen. Die Namen hatten sich herumgesprochen. Für Augenblicke wurde dieses öffentliche Sterben eine wohltuende Zeremonie. Fernand, wie er hieß, behandelte es so. Er nahm die Fingerspitzen der zu geleitenden Schönheit. Gebilligt war sie, blieb nur, sie zu geleiten. La Sœur Philomène würdigte, was geschah. Schon hatte sie ihren Platz beim Bett verlassen, sie wendete sich an die neue Erscheinung, die man auszeichnete, der man zusah; ja, la Sœur verneigte sich.

Da war zu sehen, wie ein wohlbeschaffenes Wesen ein unverdientes Maß von Huldigung nicht mehr erträgt. Eine heilige Frau, die vor ihr klein wird, entsetzt wehrte Marie dies ab. Sie nahm ihre Fingerspitzen zurück von Fernand, zog die Schultern zusammen, bedeckte mit den weißen, wohldurchbluteten Händen die Brust, die nicht triumphieren sollte. Ängstlich sprach sie: »Sono una povera ragazza.« Aber um ihre Rechtfertigung war sie unverlegen. »Wo ist ihre Stimme?« fragte Marie. »Sie betet nicht?« Immer die Brust bedeckt mit den zurückgebogenen Fingern, sprach sie selbst: »Ave Maria, prega per noi all'ora della morte. Amen.« So wurde von ihr denn abgelassen. Zuerst die Nonne sah um nach dem kleinen blassen Gesicht, es lag auf dem Kissen still wie ohne Atem. Die Augen aber standen offen, sie taten, wofür sie nicht gemacht sind, sie umarmten und küßten die arme Marie. Es überzeugte klar genug, daß Philomène erleichtert seufzte.

Sie war keine besondere Freundin der Armen, obwohl selbst der Armut angelobt. Dagegen verabscheute sie peinliche Zwischenfälle, die nahe sind, wo Arme mitspielen. Um so mehr waren sie zu befürchten, wenn die vornehme Sterbende in die Welt der Armen gehört hatte, was Philomène nicht glaubte. Sie wußte, daß reich und arm geschieden bleiben; oder etwas ganz Ungewohntes muß eintreten. Schnell vergewisserte sie sich: die arme Marie, in ihrem Versteck die arme Mado, Fernand schon schäbig, der kleine Bankbeamte noch wenig gehoben. Eilig zählte sie die Typen, wie sie um die Ecken spähten – keiner blühend, auch aufgesetzte Flicken dabei, die Hautfarbe ein unreines Weiß, kein Milchweiß wie ihres, das von der Keuschheit kam, das andere von der Ernährung.

La Sœur sah sich auf einmal unter ihresgleichen, ein Zustand, ihr sonst unbekannt, hier gerechtfertigt von einer Hauptperson, die mit jeder Minute bedeutsamer dalag, ihr letzter Umgang und Besuch aber waren Leute wie diese, anstatt des Präsidenten der Republik. Sie sprach bei sich, immer im Hinblick auf ihren Gott: »Das hat sie vermocht, ihrer ist – die Ewigkeit.« Um nicht zu sagen »eine Nachwelt«. Leicht und einfach nimmt sie Marie unter den Arm, führt sie um das Bett, nötigt sie, die bleiche Stirn zu küssen, worauf sie die Kleine entlassen wird. Der junge Moineau folgt, er war auf Schritt und Tritt gefolgt, immer gedeckt von Marie; an sich zu erinnern vermied er, es konnte falsch sein.

Moineau denkt: »Ich bin Zeuge ihrer tödlichen Verklärung, die nicht die letzte ist. Sogleich bricht ein Anfall aus, wie der gestrige, sein Zeuge wäre wieder ich. Sie ist einst heiter gewesen, der Atem frei, ihr eigenes Blut noch weit entfernt sie zu beflecken, zu erschrecken. Sie kann mir vorwerfen, daß ich spät daran bin. Diesmal hab ich vorgesorgt. Ihren großen Moment, den letzten, hab ich im Bilde aufbewahrt.« Heimlich holte er unter seiner Schulter den Umschlag hervor, nahm heraus, was er gestern nacht mit seinem Apparat fertiggebracht. Es mochte mißglückt sein, der unschuldige Moineau hatte wenig Glück mit ihr. Genug, er schiebt, abgewendet, das Blatt vor sie hin, wo mehr Gaben liegen. Er, hinter Marie, ist draußen.

Was er aufgenommen hatte, war die Pavane, die Hauptdarstellerin voranschreitend, todgeweiht, den anhänglichen Lebenden. Wohin? Als der große Junge vom Orchester her den Anblick festhielt, dort schon meinte er, es werde ein Andenken sein. Jetzt war es mehr. Soeben hat sie sich erkannt, er kann es beschwören. Im Cochon sans rancune glänzt ihr das Leben zuletzt, ob sie jetzt enttäuscht ist oder sich ihres Ruhmes freut wie sie hier liegt, nach dem Ende. Das Leben hat geglänzt so gut es konnte. Ihre Bewunderer waren die gewöhnlichen, in dieser Weise feiert man jede Größe. Sie auch verstehen? Angenommen, etwas steckte dahinter, führt es zu weit. »Weiß ich selbst mehr? Mir ahnt nur. Ihre Feinde wenigstens sind die gleichen für jedes Menschenwesen, um das ein geheimer Schimmer schwebt.« Dies spricht ein noch hochherziger Philosoph; gleichzeitig achtet er auf die Bewegungen seiner Freundin, jung wie er.

»Feinde lernen das Begreifen schwer, aber was sollen sie begreifen, ihren Haß? Jemand fehlt. Reine, die stattliche Unternehmerin, schläft wohl, nachdem die Polizei sie entlassen hat. Die Dinge der Wirklichkeit steigern sich, ja, werden berauschend erst bei gefälliger Mitwirkung der Polizei: das bemerkt ein Anfänger. Ich bin froh über mich, den Rest der Nacht und den Morgen hab ich benutzt, mein Photo zu vergrößern, es aufzuziehen, zu rahmen, lauter unbedenkliche Beschäftigungen. Ihr Blick, das will ich nie vergessen, sank auf ihr letztes Bild.« Hier begann er zu laufen, aber nur, weil seine Marie die Treppe mit Sprüngen nahm. Sie wollte im Freien sein.

Ein Mann unbestimmten Alters, in einem Gehrock, der an unerwarteten Stellen glänzte, unterhalb des Magens schien er beständig gewetzt zu werden, etwa an dem Rand eines gebogenen Tisches – der Mann trat vor, äußerst rücksichtsvoll, obwohl er schon lange gewartet hatte, trotz weitem Weg und bemessener Zeit. Die Person, die jetzt Fernand hieß, war ihm bekannt, ihr näherte er sich, den steifen Hut gezogen. Als er vor Fernand stand, sah er ihn nicht mehr, einfallende Sonne erreichte seine Augen. Es war ein Gesicht ohne Ausdruck, bei tief geprägten bleichen Zügen mit dunklem Grundton. Er kam nicht viel an die Luft, hier war er, seine freien Stunden langten knapp für den Ausflug.

»Monsieur, ce serait bien de la bonté de me renseigner s'il sera permis à Monsieur Gaston de rendre ses devoirs à Madame la Comtesse de Traun.« Während seines Satzes betrachtete ihn der andere, etwas ironisch, etwas traurig. Er konnte jedes beliebige Gesicht schneiden, Monsieur Gaston hatte die Augen geschlossen. Er hieß anders, erschien aber bei der einzigen, die ihm diesen Namen gab. Den Schößen seines Gehrockes entnahm er, noch während des Sprechens, ein Päckchen. Den Hut unter dem Arm, öffnete er es, da waren es zwei Kartenspiele, seine geübten Finger blätterten sie auf. »Mais elle se meurt!« schrie Fernand, ein Losheulen, nicht mehr, nicht weniger. Gedämpft, weil lange hinausgeschoben, wurde es schrecklicher – wie ein neues Ereignis, das der heulende Fernand erfuhr und nicht faßte.

Monsieur Gaston nahm es für die Genehmigung, um die er nachsuchte. Auf den Fußspitzen betrat er das Zimmer, zwei Schritte nur, er stockte, er hatte sie erblickt. Es war der Augenblick, da ihr wieder der Atem fehlte. Das kleine blasse Gesicht war bläulich verfärbt, ohne daß der Anfall es noch sehr verzerrte. Die hilfreiche Schwester, der Croupier, beide begriffen, der Widerstand der Sterbenden hatte nachgelassen. Der Tod, wenn er Ernst machte, wurde empfangen. Den beiden Zeugen schlugen gleichzeitig die Wimpern. Dann sah Monsieur Gaston zu Boden, seine Eile hatte er vergessen. Geduldig wartete er, daß die Frau zu sich kam. Er wußte, ihn werde sie nicht mehr erkennen. Gestern, als er ihr dienen konnte, hatte sie bemerkt, wer er war. Die nächsten zehn Jahre bleibt sie die hohe Gestalt, die ihn bemerkt hat.

Sein entwöhntes Herz erhob sich, es schlug schmerzlich beglückt hinan zu ihr. Sie wird seine Erinnerung sein, unter allen null und nichtigen sie. Als es erlaubt schien, legte er seine zwei Spiele Karten zu den anderen Gaben. Ihre Augen blieben verschleiert. La Sœur Philomène, die ihm befremdet zusah, hörte den Mann, der für sie nirgends unterzubringen, flüstern: »Ce n'est rien. C'est un souvenir.« Er ging rückwärts ab. Erst als er fort war, fiel ihr ein: »Der war ein Deklassierter.« Sie wendete sich an ihre Kranke, die zu schlafen schien. »Der und die Armen. Aber welch ein Leben war deines – ma fille?« So nannte sie die Grauhaarige, die erlosch.

»Sie wird keinen neuen Anfall mehr haben«, sah la Sœur. »Rien n'empêche d'aller voir le docteur.« Bevor er nach der Front aufbrach – wollte sie zu ihrer Entschuldigung sagen. Hier im Zimmer geschah nichts von Bedeutung, das ihre Aufmerksamkeit noch verlangt hätte. Die Sterbende hat ihr verklärtes Gesicht; diesmal ist es ihr gegönnt, Schrecken werden es nie mehr zerstören. Das ruhende Gesicht entbehrte die Hand, sich daran zu schmiegen. Deutlich genug fehlte auf dem Kissen die Hand, »faute de pouvoir la remuer«, sagte die Schwester, die ihre eigenen Angelegenheiten nicht gern versäumt hätte. Sie holte die rechte Hand unter der Decke hervor, lehnte sie mit dem Rücken an das rechts gesenkte Gesicht, das nicht nachweisbar lächelte.

Gegliederte Anordnung, Hals, Wange, Hand, mitsamt den Haarsträhnen verschiedenen Tones, alles fertig für die große Zeremonie, die aber zuletzt ein Seufzerchen sein wird. »So, um keinen Strich anders, finde ich sie nachher wieder«, beschloß la Sœur. »Es wird aus sein oder nicht.« Womit sie versuchte, sich ein gutes Gewissen zu machen, da sie gegen ihre Pflicht verstieß, gerade hier, wo sie lieber treu und gut gewesen wäre. Sie seufzte: »Niemand verlangt es.« Als sie ihrer Sachen wegen nach dem Badezimmer eilte, fand sie natürlich das Mädchen Mado, nicht zu vergessen. Hinterließ den Auftrag achtzugeben, aber was sonst tat Mado seit Stunden. Sollte ihre große Liebe, dort auf dem Bett, dennoch geflüstert haben, in einem vergangenen Augenblick geflüstert, was von niemand gehört, jetzt dahin ist, Mado wüßte davon, aber sie wird still sein. Sie hat nicht gewagt zu erraten, wovon das Geflüster ging. Sie weiß nur: ohne Müh und Zweifel wird sie hören und verstehen, wenn ihre Zeit ist.

Die Nonne in Überwurf und Schleier strebte hinaus, sie wollte nichts mehr sehen. Gerade das mißlang ihr, so furchtbar bleich fand sie einen Menschen, der Fernand hieß. Die anderen Mienen von mehr oder weniger lebender Färbung wichen zurück von dieser, ein leerer Kreis war um sie, »on dirait un criminel«. Wirklich wühlte in dem Gesicht ein schlechtes Gewissen. Die Nonne kannte natürlich keine Herkunft der Anzeichen, überzeugt war sie von der Schuld, von der Not, überzeugt, daß hier les affres de la mort durchgemacht wurden in demselben Augenblick, als die Sterbende ruhte, als sie nicht nachweisbar lächelte. La Soeur Philomène hielt an, obwohl sie eine unerlaubte Zeit verlor.

Gleichzeitig mit ihr bekümmerte ein fremder Mann, ein Arbeiter, sich um den Verzweifelten, der ihn schwerlich hörte. Die Schwester fragte lieber selbst, ob es Madame la Comtesse betreffe. Warum der Arbeiter nicht zu Madame Riquois gehe, zu Léon Jammes, »den wir alle kennen«. Der Mann dagegen fragte: »Würde er zulassen, daß ein Flugzeug die Frau Gräfin fortbringt? Weit fort, gleich jetzt, denn der Avion landet eben jetzt auf dem Flugplatz.« – »Das wird nicht zugelassen, denn es kann nicht sein«, sagte die Nonne. »Wenn Vertugas will?« fragte der Arbeiter. »Gleich wird er hier sein, Vertugas.« Der Name war für den Mann von offenbarer Kraft. Die Nonne sagte: »Es ist anders beschlossen, oder man wollte eine Tote mitnehmen.« – Plötzlich redete Fernand, er versprach: »Wir kommen. Danke, Kamerad.« Die Hand, die dem anderen danken wollte, geriet von ungefähr in die Nähe seines eigenen blauen Auges, l'œil au beurre noir. Dies war der Urheber des Faustschlages persönlich. Er erinnerte sich an gestern. »Qui l'aurait pensé«, sprach der Mann betroffen, während er weiterging.

Die Nonne wußte von Fernand nicht mehr, als daß er litt. »Kommen Sie!« Dies hieß: sie erbot sich, ihn vor das Bett zu geleiten, damit er eine noch warme Hand küsse. »Vous n'y êtes pas«, beschied er sie. Was er für sich behielt, verstand die Nonne durchaus. »Wir haben anders geliebt. Auf ihrem Gesicht, bevor es die lächerliche Verklärung annahm, sah ich heute wieder die Spur. So liebten wir, so verriet ich unsere Jugend und sie. Aber für nichts in der Welt trete ich meine Schuld ab.« – »Sie täte es auch nicht«, dachte die Nonne. Ihr Wort erschreckte sie nicht einmal. Welchen Weg beschritt sie selbst diesen Augenblick, ohne noch Zeit zu verlieren? Sie traf Vorkehrungen gegen ihre Sinne. Sie hatte milchweiße Wangen, schonte sich, schämte sich. In das Zimmer, wo sie den Tag verbracht, wagte sie plötzlich keinen Blick. Sie ging.

Andere kamen. Fernand wurde fortgeholt von Madame Riquois, die sonderbare Nachricht hatte. Léon Jammes war ohnedies wieder einmal drunten, er schritt das Haus ab, in Erwartung, er wußte nicht wie vieler getrennten Ereignisse, die aber alle vereint hinauslaufen sollen auf einen letzten Seufzer. Der tötet den Mann im voraus. Er läuft nachgerade, wem will er zuvorkommen. »Ah! der Tod war dennoch schneller.« Léon Jammes prallte zurück, als Schwester Philomène aus der Tür des Hauses trat. »Sie gehen, ma Sœur. Dann ist sie tot. Nein. Sie stirbt nicht. Reden Sie doch!«

»Elle en a pour quelques moments encore. Wir können vor ihr sterben. Ich tue einen notwendigen Gang und komme wieder.« – Er war starr, er musterte die kühle Nonne. »Erstaunlich«, sprach er trocken. »Was Sie auch vorhaben, mag sein Ihr ewiges Heil – sind Sie denn fähig zu vergessen, wer inzwischen …« Er unterbrach sich, verändert begann er wieder. »Aber sie darf nicht. Sterben darf sie nicht, bevor die Fürstin kommt. Haben Sie verstanden?« – »Ich habe verstanden«, wiederholte die Schwester, die nicht bei der Sache war; sondern sie fürchtete für den Mann, dessen Stirn sich rötete. Die Augen hätte sie irr genannt. Man darf nicht hinsehen. Seine Hände zittern. Sie muß sich zuschwören, daß sie selbst den Gang, der ihr bevorsteht, lieber unterließe, ihn daher nicht verantwortet. Aber sie setzt den Fuß an.

»Halt!« Das war ein Befehl, es folgte eine Bitte. »Ma Sœur, la Vie éternelle, c'est serieux, hein?« – »C'est moi qui dois vous répondre?« – »Puisque vous êtes de la boutique.« Er war sehr gespannt, zu erfahren, wie es mit der Ewigkeit stehe: daher unschickliche Worte. »Mais vous savez bien«, sagte sie, mehr eingeschüchtert von seiner hilflosen Sorge als vorher von seinem Zorn. Er fühlte wohl, daß er sich erklären müsse. Er tat es energisch, rauh sogar, das wurde ihm leichter. »C'est qu'il y a des personnes, oh! rarement, mais il s'en voit qu'on n'aimerait pas perdre de vue définitivement.« Sie sah: »Er kennt ein Wesen, um dessentwillen er in Ewigkeit leben könnte. Ich habe keines. Der Doktor wird sagen: machen Sie sich frei. Nachher gibt er mir Pillen.«

In diesen Schluß fiel Musik ein.


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