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Reinen Herzens

Als sie auch diesmal erwachte, war es dunkel geworden. Auf dem Kamin die Uhr schlug sechs. Schwach weiß schimmerte die Büste der Hetäre Thais, die sich in eine Eremitin verwandeln wird. »Auch sie«, denkt jemand, während dieses Zimmer stumm bleibt, vergessen von der ganzen Welt. »Um drei wurde ich erwartet; jetzt nicht mehr; vielleicht auch warteten sie niemals im Ernst, trotz allem, was wir zu bereden hätten. Es führt zu nichts. Das ist es. Frédéric spricht zu Estelle: Deine beste Freundin kommt, mit uns zu beraten. Sie denkt: Es führt zu nichts. Dasselbe denkt er selbst, obwohl ihm das Herz klopft, davon, daß ich seine Geliebte bin. Aber es führt zu nichts.«

Hier verstummte sogar ihr Gedanke. Sie erlebte nochmals die Stunde mit ihm, ließ sie über sich ergehen, ohne davon zu wissen, da sie nicht dachte. Lydia erstaunte, als sie sich wiederfand in diesem Sessel, derselben Dämmerung. »Das Glück«, sprach sie in ihre Einsamkeit. »Aktiv und wirklich ist es am äußersten Rand – der Dinge und unseres Tages. Wir haben es dahin, mitsamt den unterbliebenen Vorsätzen. Der gegenseitige Besitz ist ungeschehen, geschah gleichwohl, angenommen, die Verabredung wäre eingehalten. Drei Uhr, ich trete bei ihm ein, Estelle ist fort, wohin? Mais je sais bien qu'elle est avec Monsieur Laplace. Elle n'avait qu'à s'écouter. C'est une ambitieuse. De plus, elle rachète ma vie, c'est le prix de son abandon. Da haben wir, gewissenlos, einander angehört.«

Aber die Erinnerung ist bekanntlich erfunden. Seine Geliebte wird sie erst in seinen künftigen Erinnerungen sein, eine gehorsame Tote, die auf Anruf erscheint. War dennoch niemals die Seine. Sowenig Estelle ein verräterisches Rätsel. Sie und Laplace – »als ob sie sich herabgelassen hätte, für ihn zu töten, wen? Mich.« Man tue nur wieder den ersten, ergriffenen Blick in ihr reines Angesicht. Man achte die Unschuld ihres Bildnisses. »Nicht sie, ich selbst habe ihr Gesicht verändert. Den Wesen, die uns stören, drückt man eine Maske auf. Oh! das Glück, wie es mir zustieß, war nicht freundlich, nicht gut.«

Gleichwohl war es das Glück gewesen. Die Einsamkeit, die folgt, ist schwerer zu tragen als die vorher bekannte. In der ungewissen Dämmerung – ungewiß jeder nächste Schritt – ist noch das beste, sich nicht zu rühren. Als an die Tür geklopft wurde, war sie erleichtert, obwohl sie nicht antwortete. Kein zweites Klopfen, die Tür ging auf. »Dunkel bei dir, Kobalt«, wurde vertraulich hereingesprochen. Ein metallener Tenor sprach: sie hat ihn auch sonst gehört; kein sehr seltener Klang, nicht zu verwechseln ist nur die Sprechweise. Die Gestalt, im helleren Rahmen der Öffnung genügend umrissen, hat die mittlere Höhe, etwas mehr Breite, ihre Bewegungen sind entschieden.

»Ich sehe sie doch. Schläft sie denn?« Inzwischen hat er das Licht gefunden, es angedreht, nimmt schon eine Art Anlauf – der steckenbleibt, als der Mann sie erblickt. »Du irrst nicht, ich bin es«, spricht Kobalt. – »Wenigstens ist es deine Stimme, das langt, Kameradin«, sagt der kommunistische Arbeiter Vertugas. Er reicht ihr die Hand, sie nimmt die Hand. »Dich hätte ich erwartet, wenn irgendwen«, sagt sie ihm in die Augen, die hell sind, breite Lider haben und sie anlachen, aber aufmerksam, aber ernst.

Er findet sie mehr als er erwartet hat verändert, seit der Zeit, als sie beide derselben Belegschaft angehörten. Auch er war damals nur ein Gast, von seinem Syndikat, der C.G.T., entsandt, um die Zustände zu vergleichen, das Tempo der Bewegung zu verbessern. Die Gegend ist nicht industriell, eine Spannung wie im Norden gab es kaum, die Empörung als Kraft und Antrieb, nur von Fall zu Fall. Der Hunger ist seltener als in den proletarischen Provinzen, die taudis, keine Heimstätten natürlich, sind noch weniger menschenwürdig als in den kalten Gegenden, aber das ist es, hier tröstet das Klima die Armut.

Die großen Unterdrücker, dieser Laplace, hätten vom beherrschten Land gerade diese Domäne als ungefährlich bezeichnet. Ihretwegen mußten die Herrschaften nicht synarques werden, sich nicht verschwören zum Sturz der Republik, die gefügig ihren Weg gewählt hat, immer gegen die Armen. »Kobalt«, sprach Vertugas, »damals waren im Grunde wir beide allein. Du bleibst, was du bist.« – »Allein?« sagte sie. »Ich habe nicht die Wahl.« Hier trennten die Hände sich endlich. Der junge Mann mit dem schon verwitterten, auch schon durchgearbeiteten Gesicht – aber ein stürmisches Knabengesicht – stand nahe vor ihr, sie lehnte den Nacken an, um hinaufzusehen, er verschränkte die Arme.

»Du wirst nicht hierbleiben, Kameradin.« – »Du weißt es schon«, sagte sie ohne Erstaunen. »Auch ich habe es gerade erst gehört.« – »Von dem Mann des Deuxième Bureau, der bei dir war. Was will er?« – »Du hast ihn gesehen; er auch dich, wahrscheinlich.« – »Nur nicht erkannt. Ich sehe wie ein Tourist aus. Ein Arbeiter mit bezahltem Urlaub, als Alpinist. Meine Muskeln haben das Maß.« Er deutete, aber ohne sie anzuspannen, auf seine Oberarme, trat auch um einen Schritt fort, da ihm einfiel, sein baumwollenes Hemd mit den kurzen Ärmeln, offen am Hals, möchte nach seinen wirklich gehabten Ausflügen ins Gebirge duften. »Kobalt«, sprach er. »Hör zu. Ich bin unterwegs nach der Sowjetunion. Du auch.«

Wollte er sie prüfen, sie hielt stand. Liebenswürdig, mehr als das vorige im Plauderton, sagte sie: »C'est un parti à prendre.« – »Il est tout pris«, sagte der Kamerad. – »En effet«, sie bestätigte nur: »Wer aussieht wie du, nicht einmal die Jacke über, niemand glaubt dir die Reise.« – »Obwohl sie nicht weit ist, im Flugzeug.« Auf ihre Frage beschied er sie: »Ich werde abgeholt. Du kommst mit. Deine Lage verlangt es, wie meine. Erwarte mich morgen, gegen Abend.« Sie nickt, was immer sie meinen mag, Annahme oder Verzicht. »Du weißt über mich Bescheid.« – »Auch deshalb bin ich hier, von Paris.« – »Denn du bist mein Kamerad, bist freundlich und gut.« – »Mag sein. Aber ich kämpfe.«

Pause, sie ordnet ihre Atmung. Die Erregung leidlich bezwungen, gesteht sie: »Ich – nicht. Ich darf es nicht Kampf nennen, wenn ich bin, die ich sein muß. Der Weg des Lebens war dieser.« – »Du willst dich unterschätzen« – er tadelte sie, aber im Ton der Bewunderung. »Eine Parteigenossin wäre viel; mehr ist ein Menschenwesen, wenn es nur das und wenn es unser ist.« – »Du meinst schließlich doch meine Herkunft, meine und deine. Man kann darüber nachdenken: das tun bei dir, bei mir, ganz wenige. Vertugas, wie man dich nennt, und mich Kobalt, die noms de fantaisie sagen das meiste, sie meinen den Abstand. Du bist, wie je, der Arbeiter. Fährst du noch immer in schadhafte Minen hinab? Ich wohne nicht mehr in bankerotten Schlössern. Wer ist unseresgleichen?«

Sie musterten einander. »Dann sei stolz«, begann der Mann wieder. »Du dürftest es sein, übrigens glaube ich, daß du abzudanken nicht versucht bist. Die schwerste Arbeit ist die Selbstbehauptung. Nach meiner Dienstzeit in der Armee – wie lang schon her, sechs Jahre – begann ich öffentlich zu sprechen, worauf die Arbeiter von Saint-Charles mich von Syndikats wegen nach Paris schickten; aber keiner hielt mich deshalb für glücklich. Pauvre petit, sagten einige, die mich als kleinen Jungen gekannt hatten. Jetzt ist er groß geworden.« Sie sprach mit: »Il a grandi, il s'abîmera le tempérament et connaîtra la prison. Das müssen deine Leute gesagt haben.« – Er nickte. »Natürlich sahen sie voraus, daß ihr Vertrauensmann alsbald auf eine schwarze Liste käme und nie mehr einfahren werde. Ich lebte seither von Gelegenheiten, mein Sieg war, daß ich alles konnte. Beim Bauern hatte ich schon als Kind, während des vorigen Krieges, die Landarbeit erlernt. Mit Lastkähnen auf den Flüssen umgehen, cela me connaît. Aber es ist auch kein Grund sich aufzuspielen, weil man von der Politik noch niemals gelebt hat. Unsere Abgeordneten waren einverstanden, dafür den Lohn zu nehmen, bis an den Tag als wir, hundert Mann stark, uns hinausbefördern ließen von einer Regierung – sie hatte ihren Weg gewählt.«

Welche Absicht er selbst verfolgte, mit seiner Rede vom genommenen Geld? Das sagte ihr der goldene Beutel, den sie endlich auf dem Tisch bemerkte. Er – hat ihn gleich erblickt, und der Beutel ist, wie gewöhnlich, aufgegangen. Jetzt nähert der Kamerad sich wieder, er nimmt sogar einen Stuhl, den Beutel schiebt er beiseite. »Du mußt mir nichts erklären«, versichert er, weder treuherzig noch lauernd, zwei Arten, die er nicht beherrscht. »Unser Geld ist ehrlich. Nur das andere« – Bewegung über die Schulter, nach der Tür, die unlängst jemand verließ – »hat als Anfang und Ende den Verrat.«

»Es ist von meiner Schwester«, spricht sie so still, daß sie vielleicht sich selbst beichtet. »Sie schickte es dem Mann, der vor dir hier war, aber ich bekam es von einem dritten.« Hier versagte ihre Stimme. Er fiel ein. »Genug. Schon mehr, als ich hören wollte, übrigens weiß ich. Sagte ich nicht, daß ich Sie immer im Auge behalten habe? Bien que, parfois, vous défiiez l'entendement.« – »C'est probable, puisque je ne comprends pas moi-même ce qui m'arrive en ce moment.« – »Das dachte ich. Sie sind es nicht, die verdächtig handelt.« – »Dann sag wieder du, stelle rundheraus die Frage, derentwegen du hier bist.« – »Kobalt, dir glaub ich im voraus. Ist der Provokateur dein Freund?«

»Provokateur?« Ihr Ton lag ganz hoch, war atemlos schwach. Erwartet hatte sie, daß ihr Unbekannter genannt werde; aber dieser Titel schnitt ihr die Antwort ab. »Er hetzt«, hörte sie. »Er will haben, daß die Arbeiter jemand umbringen, ihm mindestens eine Warnung erteilen. Er bevorzugt Laplace, begnügt sich schließlich mit Léon Jammes oder Comte X. Sie haben ihm geraten, es selbst zu tun. Als er beharrte, setzte es Stöße. Es war beim Frühstück im Hof der Fabrik. Die Kameraden achteten auf mein Gesicht.« – »Vielleicht wär es besser, sie tun, was er vorschlägt; aber das ist deine Sache.« – »Du verteidigst ihn – und hast nichts weiter zu sagen?«

»Nur was mich selbst belastet. Comte X wollte mich kidnappen, Laplace will mich töten – wohlverstanden unter dem Vorwand meiner Freundschaft mit diesem Agitator, den ich nicht kenne. Kenn ich ihn dennoch, ist es ein anderer«, sagte sie, mit dem Finger bestrich sie ihre Schläfe. – »Ich weiß« – er schob schonend die flache Hand vor. »Das ist deine Geschichte. Elle est d'ailleurs sans issue. Tu dois simplement disparaître, comme moi. Uns bleibt keine Wahl, wir müssen verschwinden. Aber er, wer ist er?«

Da sie noch überlegte: »Bedenke dich wohl, Kobalt. Das Individuum provoziert einen Mord. Das ergibt für Verräter, die zur Macht gelangen, die Gelegenheit, die sie brauchen: der Schrecken kann losgehen. Willst du schwach gewesen sein?« – Sie fiel ein: »Ich werde Kraft haben. Ob auch Zeit? Aber Kraft für diesen Tag verlang ich von mir. Jeden Anhalt gegen einen Verräter gäbe ich dir, wenn er es wäre, den ich einst gekannt habe. Damals tat er nichts, als mein Geld mitnehmen und fortbleiben zwanzig Jahre.« – »Und du findest nicht mehr heraus, ob er es ist. Begreiflich, wenn einer nicht nur die Haut gewechselt hat, sondern alles, was er ist. Wirst du, nach nochmals zwanzig Jahren, mich wiedererkennen?«

»Dich, nach zwanzig Jahren? Ich muß nichts sehen. Ich glaube, du wirst nicht länger versuchen wie ein Arbeiter auszusehen, wenn du das erste Mal Minister bist. Minister müssen zuletzt doch den Typ annehmen. Unser Schwindler war auch einmal ein lieber Junge, daher das Rätsel. Für dich bleibt mir die Hoffnung, daß deine Art nie lange genug die Macht besitzt, um ihr zu verfallen. Du wirst der nicht unbewußte, aber lachende Knabe sein, wie ich ihn kannte. Ich bitte dich, mein Kamerad, sei fröhlich und kühn.« – Aber jetzt hat sie gesprochen wie beim Scheiden, das mißfällt ihm. »Vergiß den Kampf nicht«, mahnt er. »Ich kenne ihn erbittert und freudlos.«

Sie sieht ihn ungewiß an. Er drängt: »Du bist im Vorteil, du kommst von oben, weißt mehr, und deinen Ehrgeiz hast du nicht zu fürchten, wie unsereiner. Du bist besorgt, mich könnte er verderben: sonderbare Sorge zweier Menschen, die vor der Flucht stehen, um ihr Leben zu retten.« – »Mein Leben zu retten«, wiederholt sie, ein schöner Klang, aber leer – sie kann auch gesagt haben »einen Apfel zu essen«. Er dagegen, erfüllt wie er ist von seinem Vorrat an Kraft für endlose Zeiten, unterscheidet nichts. »Hör zu«, beginnt er. Sie nickt, sie hört zu.

»Ich bin zum Bewußtsein erwacht eines Tages, als gestorben wurde.« Er verläßt den Sitz, durchquert das Zimmer. »Un jour comme les autres, tu comprends.« – »Un jour comme aujourd'hui«, ergänzt sie. – »J'avais six ans, je m'amusais avec d'autres gosses dans la brume glacée des régions du Nord. Advint qu'on saisissait un grondement sourd, un piétinement lointain, le fracas des sabots sur les pavés, puis des cris: C'est à Courrières! À la fosse de Méricourt! Il y a 1300 morts!« Er hält an, schöpft Atem mit ganzer Brust, spricht den Rest nach oben, das Kinn im scharfen Winkel.

Sie hört, daß ein Kind gelaufen ist im kalten Nebel sieben Kilometer weit, mit den Alten, den Frauen, allesamt einen Wettlauf: wer früher da ist, sie oder der Tod, aber der ist längst am Ziel. Sie hört: die Unglücksstätte ist schon abgesperrt, schon sind reitende Gendarmen los gegen eine verzweifelte Menge. »Mein Mann ist drunten … Die Kinder sind drunten … Alle die Meinen sind drunten.«

Zum Greifen deutlich, der Mann spielt die verzweifelte Menge, er kann es. Auf einmal dumpfe Verachtung. »Zurück ins Dorf, es wimmelt auch schon von Gendarmen. Die sind bestellt, sie starren dreist in unsere Fenster, im Dunkeln klirren die Säbel. Nicht vorgesorgt ist für die Ankunft der Toten. C'est nous, c'est tout le monde vêtu de noir, les enfants se serrant autour de leurs mères, qui transformons les hangars en chapelles ardentes. Wir selbst behaupten den Toten und uns die Menschenwürde. Niemand sonst hat unserer gedacht. Ja, doch. Rettungsmannschaften kommen aus Westfalen.«

Genug. Der Sprecher läßt von seiner Spannung ab, er wendet sich nach seiner Hörerin, deren Herz unruhiger klopft als seines; ungefähr im Gesprächston fragt er: »Glauben Sie, Madame, wir könnten jemals verraten? Unser Land verraten? Wir haben hier unsere Toten, das ist alles, aber auch um Gerechtigkeit zu hoffen, haben wir nur dies Land.« – »Sie kommt nicht«, sagt die Gräfin Traun.

Er erschrickt, von dem Ton allein, das Wort war nicht zu verstehen, auch sieht sie neben ihn hin. Gleichwohl drängt es ihn, sich zu rechtfertigen. »Die Opfer der Dividenden kaum begraben, fordert die Minengesellschaft neues Menschenfutter. Damals streikten unsere Leute, genau zweiundfünfzig Tage. Eine wahre Besatzungsarmee ließ sich auf das Bergwerksgebiet nieder. Denn die Besitzenden können sich nur sicher fühlen, wenn das Land besetzt ist – von ihnen oder einem anderen Feind der Arbeiter. Heute ist der Krieg ausgebrochen, diesseits und jenseits des Rheins der Krieg der Besitzenden gegen die Gesamtheit der Armen. Wer verrät? Hat schon verraten, als man uns verfolgte? Wir werden Frankreich verteidigen, wär es umsonst.«

»Es lohnt sich«, sagt sie und steht auf. »Sieg? Was ist Sieg. Wahrscheinlich gibt es keinen. Reinen Herzens sein, wie deine Leute, als die tausenddreihundert fielen. Dann wachsen Männer heran wie du. Auf morgen. Jetzt hab ich Kraft, meinen Tag zu beschließen.«


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