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Un mauvais café

»Das Deuxième Bureau täte mir leid, wenn es nur Leute wie ihn hätte« – ihre Stimme bebte. »Das Talent hat sich in den Schnurrbart geflüchtet. Ohne ihn würde jeder sehen, wie der Mann verfällt. Ich beobachte ihn seit Jahren, au fond de ses bars sempiternels, immer den Rücken nach der Straße, in der Spiegelwand zwischen den Flaschen paßt er auf, wer vorbeigeht. Schließlich kenne ich ihn besser als er mich: seine Sitten, seine angegriffene Leber.«

»Sie verstehen zu hassen«, sagte Frédéric Conard, erstaunt – nicht über ihre Leidenschaft, über die Stimme, die davon meldete. Er forderte mehr heraus, um der Stimme willen. »Er ist fähig. Sein Besuch hat mich eingeführt in Geheimnisse, die bis jetzt nur ihm gehörten.«

»Wenn sie nicht umherlägen in allen Bars, wo er seine endlosen Interviews vornimmt. Handelt er aber, ist es falsch. Mich hat er schon einmal verhaftet, als ich am unbedeutendsten war, eine Arbeiterin.« – »Sie sind aufgefallen. Vermutete man Kommunismus?« fragte der Direktor dazwischen. – »Richtig.« – Zorn und Wohlklang. »Es lag so nahe – bei mir ein Mißgriff, den er nicht ausließ. Die Folgen sind gekommen, sie gehen immer weiter. Uber die Fabrik verfügte in letzter Instanz Monsieur Laplace de Revers, wie über Ihre Bank.« – »Und anderes mehr«, warf er dazwischen, beiläufig im Ton wie sie.

Da er weder widersprach noch ablenkte, hätte die gestaute Erregung der vorigen Stunde sie überwältigt. Er sah, daß sie schwer atmete, er erschrak, gab sich unrecht, weil er ihr gehorchte – nicht nur en épousant ses haines. Sogar die Brust tat ihm weh, als eine Unbekannte mit der ihren kämpfte. Er eilte, unter sie den Stuhl zu schieben und ihr Wasser zu reichen. Inzwischen dankte sie ihrem Leiden, rechtzeitig hatte es unterdrückt, was sie wahrscheinlich sagen wollte. »Die neuesten Folgen«, hätte sie wohl verraten, »treffen Ihre arme Frau. Ich komme von Estelle.« Genug, sie hatte es nicht gesprochen.

Er entschuldigte bei ihr sein Bureau, das unbequem eingerichtet. »Aber die Fabrik war unbequemer«, dachte er. »Wieso Fabrik? Ich sehe sie an keiner Maschine: in der Kleidung natürlich nicht, aber auch ihre Hände hätten es verhindert, dies kleine blasse Gesicht, die Art sich niederzulassen. Entweder lügt sie – aber da sie nicht lügt, hat Léon Jammes versäumt, ihr Rätsel aufzulösen.«

»Ich übertrieb«, begann sie. »Einfach unfähig, das wäre über Ihren Freund zu wenig gesagt.« Er stutzte. Erst als sie lächelte, wurde ihm bewußt, daß er in Gedanken die Tür angeblickt hatte, und wer war zuletzt hinausgegangen?

»Aber Sie beobachten«, sprach er, etwas lauter, erfreut sogar, warum erfreut? – »Wer beobachtet wird«, sagte sie, »muß selbst beobachten, überdies es nicht merken lassen.« Das war ihr Fall, sie machte ihn damit bekannt. Ungewöhnlich genug, aber er blieb nicht zurück. »Auch ich kenne Schwierigkeiten.« – »Wirklich.« Ihr Ton bestätigte, anstatt zu fragen. Hätte sie ausgedrückt: »Von Ihren Schwierigkeiten weiß ich mehr als Sie, ich war droben, bei ihr«, es wäre deutlicher gewesen. Aber soviel ihm nötig war verstand er und begann sich der Fremden zu eröffnen.

»Man ist allein – in weiter Welt verbunden einer einzigen Person …« Er nahm die Hand von den Augen; hinter seinem Schreibtisch saß er jetzt, mit aufgestütztem Arm. »Deren Glück und Leben man verantwortet, und beide sind in Gefahr.« Er wartete – daß sie frage –, während sie nichts so sehr fürchtete wie die Fortsetzung. Kam jetzt ihr eigener Besuch zur Sprache? Oder die anderen Personen, die heute seiner Frau die Zeit vertrieben? Wenn sie ihre abgemagerten Schultern hob, war es Selbstschutz. Der Shawl von echten Spitzen glitt fort, da sah er es durch die alte Seide ihres Kleides scheinen, Haut und Knochen.

Er nahm auf dem Schreibtisch einen Rahmen, er wendete das Bild ihr zu. »Würden Sie es glauben – nein, niemand glaubt von einem Wesen wie dieses, es werde verfolgt, es solle untergehen. Sie sehen, die Frau ist hilflos, sie ist fremd, wäre allein, wenn sie mich verlöre.« Sein Mut und die Zunge versagten ihm. Sie, ohne von dem Porträt wegzusehen: »Ihr Mann bleibt ihr.« – »Darauf vertraut sie.« Er klagte; zu bitten scheute er noch. »Niemand da, ihr zu sagen, daß es nicht wahr ist.« Endlich suchte sie seinen Blick, fand ihn, sprach langsam: »Keine Frau muß am heutigen Tage daran erinnert werden, daß ihr Mann abgerufen werden kann und vielleicht aus dem Feld nicht wiederkehrt.«

Er antwortete ohne Zögern, sonst hätte er geschwiegen. »Wenn es so wäre. Ein Übermut wie heute früh würde sie vorher verlassen haben. Ihre Ahnungslosigkeit ginge verloren. Sie ließe sich nicht hinreißen von Abenteurern und Verschwörern. Unglückliche! Sie waren an dem Akt beteiligt« – den Finger gegen sie gerichtet. Dies war die Anklage, der Überfall, sie hatte ihn kommen gesehen. Eine der Verschworenen gegen Estelle war sie selbst, da sie sich hätte entführen lassen. Nichts blieb hiernach übrig als aufstehen und gehen. Dahin kam es nicht, obwohl ihre Knie gezuckt hatten, und er es sah.

»Recht so«, sagte er. »Überlassen Sie mich meiner stummen Auseinandersetzung mit dem Bild – seine Reinheit hat trotz allem Ihr Herz gerührt, ich weiß es.« Worauf sie nochmals den schmalen silbernen Rahmen nahm. Sonderbar fand sie, daß der Mann anstatt der wirklichen Frau ihr Bildnis kannte: die Frau, wie sie gesehen sein wollte. Ob nicht vielmehr dies ihre tiefere Natur war? »Mir hat sie sich anders gezeigt, das waren verräterische Umstände, am Ende täuschen sie. Erfahrenheit, Zynismus, List, sie hat sich so nicht geschaffen: sie erträgt sich so. Die Frage ist immer, ob wir kämpfen müssen. Der Mann kennt sie aus vielen guten Stunden, ich – aus einer bösen.« Ihre Gedanken, wie kann er davon wissen.

»Sie haben niemals von der Nähe dies reine Gesicht betrachtet«, versuchte er. Sie nickte – ob er es für Zustimmung hinnehmen wollte oder verstehen, daß sie allerdings hineingeblickt hatte, viel zu nahe. »Sie lieben Stella.« – »Stella?« wiederholte er. Sie las die Widmung. »Ich glaubte … Nein, Estelle hat sie geschrieben und sich ihrem Frédéric zugeeignet.« Sie sah auf, sie erwartete, was er fragen wollte. »Jetzt wissen wir die Namen, nur Ihren noch nicht.« – »Ich heiße Lydia«, sagte sie.

Er wiederholte: »Lydia. Ich fühle deutlich, daß ihr euch verständigen würdet.« Die Worte fielen als Nachklang des Namens, den er nochmals aussprach. »Er scheint Sie traurig zu machen«, bemerkte seine neue Freundin. Er durfte sie seine Freundin nennen, sich ihr verraten, ja, stückweise ausliefern: sie war so wenig anwesend. Er fühlte: mit nur geringem Anspruch auf eigene Existenz. Bis jetzt fand er, sie existiere in Begleitung einer anderen. »Stella, Lydia«, er sprach die beiden Namen, um sie abzuwiegen. »Dasselbe Land? Die Stadt? Das Theater? Mit Ihrer Stimme waren Sie Schauspielerin. Sie kennen Estelle.«

Sie begann: »Ich sang – auch einmal für ein Publikum. Aber da war ich reich, und bezahlte mein Auftreten. Eine Liebhaberin, die keinen Grund sah, mehr als das zu werden.« – »Sprechen Sie einige Worte in Ihrem Idiom, ich will es mit Estelle vergleichen.« Sie faltete ihre Brauen, über seine Bitte ging sie hin. »Ich versäumte, Französin zu werden schon vor dem Krieg, den ersten meine ich. Das Versäumnis war endgültig.« Er erschrak über sich. Er schwieg. Saß er nicht vor einer Hauptperson des hereingebrochenen Schicksals – seines besonderen im Sturm des ganzen – und vergaß es, nur damit sie spräche?

Unvermittelt begann sie zu beichten – Tatsachen, die er nachgerade kannte; aber es war, soviel sie tun konnte. Sie sprach naiv, als wenn sie allein wäre. »Endlich begreife ich, daß ich mich verhaßt gemacht habe, gleichviel womit. Wenn ich mich selbst nicht durchschaue, verantworten muß ich mich immer. Léon Jammes hat wenig gegen meine Art, das Leben zu führen, seine Maßnahmen wären sonst Routine. Er ist aber tiefer beteiligt, wie Sie sahen; wissen wohl auch ein Warum: ich nicht.«

»Es wäre genug, daß jemand wie Monsieur Laplace …« – »Mich haßt?« Ihre gehobenen Schultern verneinten diesen Haß, einen nur gelegentlichen, der ebensowohl eine andere getroffen hätte. Aber mochte der Freund davon reden. Sie öffnete ihren Sack; vielmehr, alt wie er war, ging er von selbst auf. Er war schwarz, aber es war vernachlässigtes Gold. Ihr Zuschauer stellte fest, daß, was sie auch gesucht hätte, kaum darin zu finden war: der Sack enthielt nichts. Er reichte seine Dose hin, zündete ihr die Zigarette an. Sie rauchten.

»Gewiß, Ihr Schreckensmann. Wie heißt die Sorte noch?« Man hörte: sie fragte nach etwas Allbekanntem, sie hat es nur vergessen. – »Les synarques? Das ist ein Geheimnis.« – »Danke«, sagte sie. »Zuerst muß ich es von Arbeitern gehört haben: c'est le secret de Léon Jammes. Tut er nicht, als gehörte es ihm allein? Für seine Allwissenheit wird man ihn noch einsperren.« Eine Bewegung ihres Hörers zeigte ihr, daß auch er nicht weniger erwartete, eher mehr. »Dann möge er sich seinen Anteil an der Schuld beimessen. Der meine ist meine Bekanntschaft, wenn es eine ist, mit dem synarque de bas étage, den der Comte X verwendet.«

»Der Mann der zwei Akzente.« – »Ich zählte drei«, erwiderte sie. »In der einzigen Unterredung, die ich mit ihm hatte, hier vor Ihrer Tür. Gerade ging der große Mann vorbei, in seinem Blick war mein Tod beschlossen, um dramatisch zu sprechen, da Sie mich für eine Künstlerin halten.« – »Sie sind es.« Schnell, um nicht aufzuhalten, beendete er: »Die Wahrheit ist unnatürlich furchtbar in Ihrem Mund.« – »Ärmster!«

Bei dem Wort blieb es noch. Sie hatte lange gesprochen, hatte versäumt, ihre Atmung zu ordnen – zu spät, der Anfall kam. Zuerst gab sie sich die Haltung einer freiwilligen Pause. Als sie unverkennbar geschüttelt wurde, erlaubte sie ihrer Qual wenigstens kein Geräusch, nur das hörbare Ringen der Brust. Sie saß still über sich gebeugt, ihren demütigen Schultern war anzusehen, daß Lydia ohne Aufspringen, ohne entfesselte Angst ersticken wollte, wenn es sein mußte.

Frédéric hatte den Tisch verlassen, möglich, daß er im Nebenzimmer nach Erleichterungen umsah. Er kam zurück und fand den Anfall beendet. »Sie waren tapfer, Lydia«, sagte er. Ihre Antwort verspätete sich, auch dann lenkte sie halbwegs von sich ab. »Frauen«, sagte sie. »Wenn Sie erst wüßten, wie tapfer Estelle sich benahm.« Ihr Geständnis, als sie es am wenigsten wollte: sie war dabeigewesen. Jetzt machte es kein Aufsehen mehr. Er bat, ruhig nicht, aber mit schonender Sanftmut: »Weiter. Die unnatürlich furchtbare Wahrheit, aus Ihrem Mund.« Als ob er sie im Gegenteil abgeschwächt zu hören wünschte. Für den Anfang folgte sie ihm. »Pathetisch nehmen wir es beide nicht, daß ein entschlossener Abenteurer und Präsident mich, zufällig mich beseitigen will. Schlimm wäre erst, wenn ich richtig erraten hätte – aber habe ich es? –, wer die Exekution vollziehen soll.«

Sein Aufschrei: »Nein.« Seine dumpfe Frage: »Wird sie es tun?« Lydia lächelte schmerzlich. »Das habe ich nicht mehr erfahren. Sie widerstand sehr heftig. Uns umarmen, dahin wäre es auch gekommen.« Hiernach schien er unfähig, zu ihr zu sprechen. Gegen das Porträt, und seine Lippe zuckte: »Das Bild sagte mir doch sonst, wer sie ist.« – »Das erste Mal, daß es schweigt«, vollendete sie. »Frédéric«, begann sie neu; unter dem Vorwand, das Gespräch zu beleben, hatte sie diesmal ihre Atmung geordnet. »Sie waren ein glücklicher Mann, bis ich in ihre Kreise drang. Warum es mir geschah …«

Er wartete, ob sie es wisse und sich rechtfertigen könne: er hätte es gewünscht. Nach der Pause überkam ihn ein Augenblick der Verzweiflung. »Sie bringen nichts vor. Aber was hier entscheidet – über uns, ja, über uns alle: Ihnen ist nichts unfreiwillig geschehen. Die Gefahr haben Sie geschaffen, der Mörder war nur Ihnen bekannt.« – »Le synarque de bas étage«, sagte sie, tief das Gesicht gesenkt. Die Ironie, wenn sie im Gesicht stände, verschwand unter dem Hutrand. Zu hören war das Bekenntnis – auf das sie kein Recht hatte, aber er benutzte es, wahrhaftig wurde er hart. »Ein berüchtigtes Werkzeug, dieser Mensch, Sie aber dulden, daß er sich Ihren Freund nennt. Sagen Sie wenigstens hier, daß er lügt.« – »Ich kann es nicht«, erwiderte sie.

Von dem Wort verging der Atem ihm, nicht ihr. Sie schien ruhig, da alles am Tag war. Er flehte: »Erklären Sie. Sie wollen nicht versuchen? Hat er schon gemordet? Was frage ich. Eine gewisse Philosophie erlaubt zu töten: endlich tun sie es für Bezahlung. Ihr Freund hat damit gleich angefangen. Sprechen Sie doch. Er ist Ihr Freund? Wer ist er?« Sie sprach: »Ich weiß es nicht.«

Er hatte sich hoch gerötet, erblaßte jäh, setzte an, unterdrückte die Worte. »Sie weiß nicht«, hätte er gesagt. »Das Unwahrscheinlichste, das sie mir zumuten kann. Glaube ich ihr? Dann gewiß nur, weil ich im gleichen Fall bin, mit ihr, die ich aufhöre zu begreifen, und mit Estelle: sie ist nicht mehr, die ich in ihr sah.« Unbeherrscht neigte er sich gegen das Bildnis vor, er durchsuchte eindringlich, soviel das Licht wiedergegeben hatte von seiner Frau, ihrer Unschuld, die sich, auf einmal schwach und willfährig, vor seinen Augen veränderte. Er selbst half nach, schonungslos und stumm: »Nimm deine wirklichen Züge an! Du hast keine? Wir werden viel leiden müssen.«

Er ließ von ihr ab. Der anderen zugewendet, erstaunte ihn vielmehr ihr Ausdruck, ja, die jetzt eröffnete, unverkennbare Reinheit bei dem schädlichsten Wesen. Da saß es. Daß es nur bliebe! Fortan, da er unbegreiflich fühlte, bemühte er sich vernünftig zu reden. »Verzeihen Sie einem überanstrengten Mann, der um seine Frau kämpft. Ihr Freund mag sein, wer er will, das Attentat auf Sie, heute früh, hat nicht er begangen; was weiter folgt, ist auch nicht seine Sache. Vielleicht sogar, daß er diesmal für Sie tötet: den Comte X, Estelle, Monsieur Laplace oder mich. In jedem Fall sind wir verloren. Ich hätte Sie nicht empfangen dürfen.«

»So wenig ich hinaufgehen durfte«, sagte sie. »Darf ich Zweifel haben an Estelle?« Sein trostloser Blick von dem Bild zu ihr. Seine Frage: »Sie wollen sagen, daß Estelle, um sich und mich zu retten, getan hätte, was von ihr verlangt wird. Glauben Sie es, Lydia?« – »Ich glaube, daß man bei so beschaffener Lage einander nicht nahekommen darf, bis nur die Umarmung fehlt. Das verwickelt uns und lähmt. Wie einfach dagegen, wenn ich gerade noch auf die Straße gelangt wäre – nicht hierher; ich hätte gefühlt, es wäre überflüssig. Ich hätte Kaffee bekommen, un mauvais café, aus einem silbernen Topf, der Pfau ist abgefallen.«

»Der Pfau ist abgefallen?« sprach er nach – sah sie an, begann wohl sich zu verlieren in seinen Gedanken über sie. Welche sind ihre? »Wir schweigen zu lange«, dachte sie. »In den Kaffee war diesmal nichts gemischt, sonst säßen wir nicht hier, alles wäre beendet – denn ich hätte sie beide niemals gekannt.« Der letzte Gedanke war leiser als die vorigen, er kam und ging verstohlen. Frédéric rückte sich zurecht. »Wir weichen ab«, sagte er. »Ich hatte beschlossen, was unbegreiflich scheint, vernünftig zu erwägen.«

»Vernünftig handeln, wäre noch leichter«, sagte sie, als sie ihn endlich hörte; sie hatte wohl nachgedacht – wie er, der nunmehr sein Ergebnis feststellte, obwohl er fand, es sei keines. »Entscheidend bleibt, daß Sie ihn kennen, ich meine den Mann der drei Akzente und des entsicherten Revolvers eine Drohung, sogar für Laplace. Ich verstehe, Sie konnten die alte Freundschaft mit ihm nicht ableugnen; auch nicht verhindern, daß er umherging und sich auf Sie, die man kennt, berief. Ist es so?«

»Es könnte sogar sein, daß er nicht viel umhergegangen ist. Sagen wir, ein oder zwei Mal hat er mir unter den Hut gespäht, bei Fremden kommt es noch vor. Aber der Ruf, in den Léon Jammes mich gebracht, ist unvergessen, Leute, die selbst nicht ruhig sind, gehen hoch. Comte X, ohnehin auf schiefer Ebene, sieht sich von Ihrem Präsidenten bedrängt: die Verantwortung für seinen Unteragenten überträgt er auf mich. Mich beseitigen, oder er selbst muß fort. Endlich begreift er auch, wer zu fangen ist: Sie. Dem ersten Versuch mich zu beseitigen, in der heutigen Morgenfrühe, wird Ihre unschuldige Frau beigezogen.«

»Sie ist nicht unschuldig.« Dies nur gemurmelt. Frédéric wurde stärker, als er einen Einfall vorbrachte. »Aber Sie kombinieren vorzüglich, Léon Jammes erklärt die Zusammenhänge lückenhaft. Er wäre sofort bereit, Ihren falschen Jugendfreund unschädlich zu machen, wenn Sie gegen ihn aussagten.« – »Ich kenne ihn gar nicht. Wenigstens ist es möglich, daß ich ihm vormals nie begegnet bin.« – »Auch das Gegenteil ist möglich? Ihre ungewisseste Aussage wäre immer noch zu brauchen. Ihn einmal fortgedacht, fällt das Komplott zusammen. Sie sagen, daß er verrät, ein Gegenagent, der sich einschleicht bei den synarques.«

»Ich selbst verrate nicht, keinen Jugendfreund«, sprach sie, durchaus rätselhaft; war er denn einer? »Sie wollen nicht.« Frédéric zeigte mit den Händen, er sei machtlos, er sei am Ende. Verändert, der Unterwerfung nah: »Ihnen ist nicht entgangen, daß ein Verbrechen veranstaltet wird, an Ihnen zweifellos, aber auch Ihretwegen allein?« Sie gab zu, ohne Auflehnung, eher nachlässig: »Überhaupt nicht meinetwegen.« – »Gut. Mich allerdings braucht man, will mich gefügig machen und trifft mich, wo ich schwach bin, in der Frau – die Sie kennen«, schloß er nach einem Atemholen, das ihm vielleicht ein Schluchzen vermied. »Sie haben kein Mitleid? Mit der Vielfalt einer kindlichen Seele? Mit ihrer Unzuverlässigkeit?«

»Es ist nicht Mitleid«, sprach sie in Alttönen, die überzeugten. »Ich wünsche endlich Klarheit, die Illusionen sind aufgezehrt. Wenn ich sterbe, nur dann fehlen Anlaß und Vorwand, euch zu vernichten.« – »Estelle? Mich?« – »Euch zu vernichten.« – »Dafür wollen Sie …? Lydia, Sie für uns.« Ihn überlief es kalt, er sah sich enthüllt und angeklagt. Den gleichen Schluß hatte er vordem selbst gefunden: sie müsse fort. Sie einmal fort, geschah nichts weiter. Plus de Kobalt, plus d'accrocs. Ja, aber dies war keine Kobalt mehr, man wirft sie nicht weg. »Unmöglich«, antwortete er nicht ihr, sondern dem unbegreiflichen Zyniker, der er gewesen war. »Warum?« fragte sie. »C'est tout simple de m'administrer à moi-même un mauvais café, dès qu'il n'y a plus d'espoir.«

Welche Hoffnung war verloren, daß sie ohne Bedauern abbrechen, er hatte gehört: Gift nehmen konnte? Unglaublich, es schien das Geld zu sein, die Überweisungen, die nie erfolgt waren, nur fragen konnte sie danach. Warum konnte sie es nicht mehr? »Lange erwarteten Sie Geld von …« – »Fernand«, sagte sie klar. Nachschwingen der Silbe, sie war dahin. Frédéric entschuldigte seine eigene Grausamkeit: sie, zynischer als er, bot ihm an, was man weder erwartet noch empfängt, ihr Leben. Der Anstand war verletzt, die Konvention war aufgehoben, er wünschte beide wiederherzustellen. »Vielleicht haben Sie Fernand wiedergesehen.«

Sie widersprach nicht. Ihr kleines blasses Gesicht spiegelte nichts von inneren Regungen. »Mein Fehler, daß ich, alleingelassen, ohne Veranlassung, ohne ein Zeichen, ganze Jahrzehnte lang an ihn glauben wollte. Er, der, wenn er wiederkehren könnte, natürlich nicht derselbe wäre.« – »Sondern alt. Auch böse wird man. Was ist aber mir bestimmt? Was kann, nach meinem Abgang, aus Estelle werden? Bedenken Sie sich, Lydia. Keiner ist Ihr Opfer wert.« – »Keinem ist es bestimmt.«

Ihren Ausspruch hatte sie zu erklären, sein Blick verlangte es. »Sie sehen, daß dieser mein letzter Tag ist.« Der Tonfall konnte, befestigt wie er klang, dennoch als Frage gehört werden. Möglich, daß ihr, was folgte, das erste Mal in den Sinn kam. »Dans vingt ans …«, begann sie wieder, wurde aber unterbrochen. Er nahm ihre Hand, er versuchte seine wenige Vernunft – ohne ihr noch zu trauen – an einem verstockten Kind. »In zwanzig Jahren, so wollten Sie sagen, werden wir Lebenden Ihrer gedenken, oder Sie vergessen haben. Wenn es so läge, hätten Sie dennoch unrecht.« – »Aber wie liegt es?« fragte sie.

»Für mich nicht anders als für Sie. Meine Versuchung, mich aufzugeben, ist älter als Ihre.« – »Hüten Sie sich! Auf Ihre Erhaltung rechnet Estelle.« – »Gerade darum. Wenn ich in einem schon verdorbenen Krieg bestimmt zu fallen wäre, früher oder später das endgültige Unrecht an ihr begehen müßte zu fallen – dann gleich, dann als erster. Ein Opfer? Kein rühmliches – da ich sehr wohl die Folgen erwog. Ich ließ ein wehrloses Wesen zurück, nicht rein genug, ja, ohne die Waffe der Reinheit, wenn die harte Existenz anbräche. Gewöhnt an Spiel, begierig auf Trug, eine Besiegte, sobald wahre Tatsachen sie anfaßten, die Verlassenheit, die Armut. Begreifen Sie, Lydia?«

»Beinahe. Ihrer eigenen Angst wollten Sie sich entziehen. Lieber schnell dahinsein, als jahrelange Angst um Estelle, wenn es sie endlich dennoch träfe. Ich – habe vielleicht ein Exemplar derselben Gattung, oder einer verwandten, erblickt: ich weiß es nicht, aber kann sein, ich sah plötzlich eines, das schon erfahren hat, was Ihrer Estelle von weitem droht. Unversehens trifft man es am Ende des schrecklichen Weges: bis heute hatte mein unbelehrtes Gedächtnis einen Knaben aufbewahrt – trügerisch von je; das ändert an dem Bild nichts, wie Sie wissen. Auf einmal zeigt meine Einbildung mir ein anderes: den traurigen Rest von einem Menschen, der in Wirklichkeit, ich will es hoffen, nicht mehr lebt.«

»Sie hatten ihn und seine Jugend für unsterblich gehalten.« – »Mehr oder weniger«, gab sie zu. »Dann aber sollte man ausharren. Frédéric, auch Ihr Begriff einer reinen Estelle war nicht von der Gewißheit, die Beweisen widersteht und wenigstens unsere Illusionen rettet. Auch Sie sind vorsätzlich, allzu beständig, an den Schalter getreten und haben gefordert. Nichts war angekommen. Denn wir waren nicht fest genug überzeugt.«

Er hörte, wollte noch prüfen, ach! es war geschehen. Was antworten? »Nous sommes logés à la même enseigne.«


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