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Eine Pavane erklingt und man hat Angst

Allein saß sie da, den Hut gesenkt über ihr kleines blasses Gesicht. Ihr ergebener Freund verstand sie oder fühlte soviel, daß sie es keineswegs eilig hatte wie vorher. Er sah mit Kummer, wie die arme Kobalt ihrem Entschluß nicht mehr gewachsen war. Das lange Warten hatte sie wohl geschwächt, das Auftreten des Präsidenten Laplace konnte entmutigen. Aber die meiste Schuld gab Alain der unerklärten Begegnung, die er ihr erlaubt hatte. Ein Individuum, wenn nicht verdächtig, dann ohne Rang. Beziehungen mit der Dame, der er Geschichten erzählte, waren unwahrscheinlich. »Hat sich unbemerkt eingeschlichen, nur um einer Unglücklichen die Hoffnung zu nehmen. Warum habe ich ihn nicht entfernt?«

Unzufrieden mit sich, nahm er seinen Platz zur Seite der Tür ein. »Statt dessen habe ich zugelassen, daß er, unbefugt wie alles, seinen Rückzug durch das Sekretariat nahm. Die Ärmste weiß es nicht, sie hält sein Verschwinden für rätselhaft wie ihn selbst. Ohne Begegnung wäre sie jetzt zuversichtlich. Sie war es das ganze Jahr und hatte weniger Grund als heute. Oder ich hätte die Anzeichen für ein merkwürdiges Interesse der Herren drinnen mißverstanden.«

Vieles müßte er falsch auffassen, den Buchhalter und seine Aufgeregtheit. »Gewiß, auch die Magengeschwüre können es sein, sie machen unseren Freund glauben, Léon Jammes verweile drinnen wegen Kobalt. Il ne les aime ni l'un ni l'autre, le voilà prévenu. In Wirklichkeit genügt der Ausbruch des Krieges, um den langen Besuch zu erklären, wie der Krieg die schlechte Laune des Präsidenten rechtfertigt« – überlegte Alain Messager, der hinzusetzte: »Aber zwischen ihm und Pigeon ist ohnehin nicht alles sauber, wenn ich es sagen darf, zumal sie hinaufgestiegen sind, wo mit dem Comte X das Kleeblatt fertig ist.«

So gern er Kobalt getröstet hätte, der brave homme war selbst verstört, er fürchtete, daß er zu viel sprechen würde. Um so stiller verhielt er sich, aufrecht neben der Tür. Während der nächsten zehn Minuten verlangten mehrere Personen dem Direktor gemeldet zu werden. Sie hatten die Zeitungen gelesen. Aus demselben Grund blieben andere fort, durfte auch der Direktor nicht gestört werden. Der alte Garçon flüsterte nur, die Kunden sollten die Stimme dämpfen, um nicht lästig zu fallen, wem? Wenn er selbst es bemerkt hätte, der stumm vertieften Kobalt.

Was sie beschäftigte, waren Zweifel, nicht einer, sondern der schwersten mehrere. Sie fand keine Sicherheit wieder, über eine nunmehr in Luft aufgelöste Erscheinung, die sie das letzte Mal gesehen haben wollte. Der Unbekannte hatte nicht zu Ende gesprochen, gleichviel. Was er wußte, bedrohte sie, nachträglich erklärte sich, warum seine Gegenwart eine dumpfe Qual gewesen. Was er wußte! Aber Fernand hätte aus ihrer Vergangenheit mehr gekannt und wäre keine Gefahr. Daß sie doch Fernand selbst getroffen hätte! Es würde sie vielmehr beruhigt haben. Ihren Geist verstören? Sie hatte es nicht zu fürchten – wenn alte Irrtümer jäh enthüllt würden, wenn Fernand nachgerade aussähe wie dieser. Die Wahrheit heilt auf diese oder jene Art, man ist vernichtet oder lebt.

Nein, sie erfuhr nur, daß sie – vielleicht – ihre Jahre an eine Illusion vergeben hatte. Um so schlimmer, wenn es keine war, sondern ihr junger Fernand noch immer in einer unklaren Ferne für sie arbeitete, bis er das Recht hatte wiederzukehren, und sie das Recht ihn zu lieben wie je. Sie empörte sich, mitten in ihrem Nachsinnen. »Alles war im Grunde beigelegt, war gut. Warum schickt er mir diesen?« Wobei sie nicht vergaß, daß Fernand ihr niemand schickte. Wenn doch, wäre dieser selbst Fernand gewesen.

Er war im ganzen ein anderer, nur daß Züge aufzuckten, Momente vorübereilten – ihr zum Hohn und Schrecken. Bei jeder neuen Ähnlichkeit der fragwürdigen Gestalt mit einem auch nicht mehr deutlichen Fernand fühlte sie den Hinweis auf sie selbst und was aus ihr geworden. Hätte Kowalsky, ihr verstorbener Gatte, sie wiedererkannt? Ihr Bruder, der sich in Amerika durchschlug, »mehr oder weniger wie ich hier«? Sogar dies bemerkte sie: »Kann ich meiner Schwester in Brüssel noch verdenken, daß sie mich nicht liebt?« Ihr hatte sie bisher doch manches vorgeworfen.

Die Schwester war heute nicht besser geworden, sie selbst nicht schlechter, der wirkliche Fernand blieb, der er gewesen, kein Muster offenbar von Kraft und Tugend, nur einfach geliebt. »Oder liebe ich ihn längst nicht mehr?« Zweifel. Das Heer der Zweifel kommt nicht als Überfall, sie müssen herangewachsen, unterdrückt, dennoch in der Natur sein. Sonst wären Veränderungen wie die heute erlittenen gar nicht zu ertragen, sie beschämen über das Maß. Der Gedanke »Ich liebe ihn nicht mehr« war ihr Zeichen, diesen stürmischen Sessel zu verlassen.

Alain war alsbald hinter ihr. »Sie gehen, Madame? Sie machen eine Dummheit, Ihre Sache steht gut, auf zehn Minuten darf es Ihnen nicht mehr ankommen.« Sie ließ ihn aber einen Hochmut fühlen, daß er schwieg und umkehrte. Was hatte sie gesagt? »Ich verstehe, guter Freund. Sie haben den Auftrag, mich nicht fortzulassen. Drinnen soll ich verhört werden.«

Er hatte keine Antwort gefunden auf so viel Unnahbarkeit. Monsieur Laplace fiel ihm als Vergleich ein, seine ordinäre Überlegenheit, die man anerkannte, weil er jeden entlassen, richten, vertilgen konnte. Was konnte Kobalt? Er hatte den Auftrag, von dem sie sprach. Er wendete sich nochmals gegen sie, die zurückkehrte. Er flüsterte: »Merci, Madame«, entschlossen, sie nicht zu nötigen, damit sie verhört werde.

Sie machte während ihrer wiederholten Schritte hin und her wechselnde Wahrnehmungen: keine gewollten, auch klar wurden sie ihr nicht sogleich, setzten sich aber allmählich zusammen. Das erste war, über die belebte Halle hinweg, ein Ausblick auf den Platz des Buchhalters, seinen leeren Platz. Bei ihrem nächsten oder dem folgenden Gang saß er wieder an seinem Tisch, und eine Tür war geschlossen worden – was sie in Wirklichkeit niemals gehört hätte. Es geschah aber in ihrem Kopf, der schon vorher heimlich fortgesetzt hatte, was vor seinen Augen geschah.

Das ungleiche Paar, Pigeon mit Laplace, war an ihr nicht vorbeigezogen, nur damit auf sie ein böser Blick fallen sollte. Sie wußte jetzt, wer vor dem Hause ausgeglitten war. Seine Begleiterin erriet sie. Wenn Monsieur Laplace einen Bogen gemacht hatte, um nicht drinnen auf Léon Jammes zu stoßen; wenn sie selbst von ihm gehaßt wurde, gleichviel warum, aber wahrscheinlich für denselben Vorfall heute morgen, dann ergab sich, wo er jetzt war. Der Präsident und sein Vertrauter hatten es eilig gehabt, den Comte X zu sehen.

Genauer: ihn sehen und sprechen war Sache des einen. Der andere stand nur Schmiere. Begriffe derart sind einer Dame geläufig, unter Bedingungen und Umständen, die auf Kobalt zutrafen. Man lebt nicht umsonst allein, verabschiedet von der Welt – ach, ihre tiefste Gleichgültigkeit verhindert nicht, daß du fühlst wie gehetzt. Einzige Ausnahme, als sie in der Fabrik arbeitete, unter Menschen. Auch das war ihr verboten worden … Genug, Pigeon stand Schmiere.

Ihr Kopf arbeitet. In aller Frühe, vor einem Bäckerladen, im Beisein der Inhaberin Madame Vogt, hat sie, die Hände um die Schläfen, geklagt: »Oh! mein Kopf.« Nicht, daß er untauglich wäre; daß ihr Kopf ungeschickt, unerfahren wäre. Er hat einstmals von oben herab die Menschen studiert, sans qu'il y paraisse, Spieles halber. Es wurde dann aber ernst für sie selbst. Ihr Kopf schreckt nicht zurück. Was werden diese Typen droben verhandeln, Laplace, Comte X – wenn sie nicht seit der Rückkehr des Buchhalters damit fertig sind? Ein Verbrechen, Kobalt zweifelt nicht.

Die unbekannte Größe ist die Frau des Hauses, eine Gans vielleicht, sitzt dabei, begreift nichts, wird ihrem Mann nachher Märchen erzählen, ob unwissend oder listig. Indessen, heute früh war der Anschein anders. Die Dame kam in Verlegenheit, als ihr Freund hinfiel. Hilflos konnte jede wohl aussehen. Sie gab preis, was man schwer vortäuscht, eine erstaunte Reinheit. Kobalt, geübt von langer Hand, erkennt die Reinheit und was übrigbleibt, nach ihrem Verlust. Sie sieht voraus, daß sie um der Frau willen, die in größerer Gefahr als sie selbst ist, hinter den beiden Schurken die Treppe ersteigen wird. Hoffentlich beizeiten. Wie viele Minuten soll es drinnen noch währen, wie viele droben? Immer entscheiden Minuten, nachdem Jahre versäumt sind.

Was droben vorging, wenn Kobalt nur dies gemeint hätte, bot in Wirklichkeit einige unerwartete Einzelheiten. Besonders spielte die Dame, um die man sich sorgte, die meiste Zeit Klavier, mehrmals dieselbe Pavane, die ein alter Tanz oder seine Wiederkehr und Nachempfindung ist. Als er vor Jahrhunderten dem Leben angehörte, wurden die Füße, sobald er erklang, feierlich und edel gesetzt. Anderswo und im geheimen, wenn nicht Pavane war, taten sie lüsterne Gänge genug. Estelle übte ein fremdes Ding, das ihr Neugier machte. Kobalt, auch nur eine Figur von heute, hat dennoch Erinnerungen. Noch erscheint sie nicht.

Die Pavane war eine unschickliche Begleitung der Worte, die hin und her liefen zwischen Estelle, früher Stella, der Frau eines Bankdirektors, und ihrem Freunde, dem Comte X, einem Synarchen in momentaner Verlegenheit. Beide verließen kürzlich den Frühstückstisch, wo der dritte Platz schon vorher geräumt war. Sie wechselten durch die gläserne Tür in das zweite der hellseidenen Zimmer, aber auch an dem Instrument, wo die Dame sich niederließ, hörte die philosophische Unterhaltung kaum auf. Weiß Lack war der Flügel, bemalt mit Rokokomotiven. Das Gespräch handelte zuletzt vom Töten.

Der Unterricht, mit Estelle zu sprechen, gelangt zuerst heute bis an sein praktisches Ergebnis. Einmal ausgemacht, daß die menschliche Existenz durchaus auf die Gegenwart beschränkt, die Vergangenheit von einer widrigen Belanglosigkeit, nicht weniger die Zukunft jeder Beeinflussung entzogen ist, was bleibt? Die Existenz selbst, ohne anderes Ziel als zu existieren; kein Gesetz, es wäre denn erlassen von der Existenz selbst. Die eigene scheint als notwendig anerkannt, was alle anderen unsicher macht.

Dieser Zug von Gedanken überzeugt, wenn jemand dauernd in Verzweiflung, momentan auch in Verlegenheit ist. Er überzeugt einen Comte X. Warum aber eine Dame Estelle, die ihre Welt und sich in ihr materiell gesichert glaubt, die einen verläßlichen Mann hat, übrigens im Herzen unschuldig ist? Tatsächlich wird sie überzeugt. Obwohl, was sind Überzeugungen, wo man rein, weniger aus Berechnung, mehr aus Zartheit der Triebe ist. Estelle hat die Schwäche, gern zu bewundern. Sie bewundert wirklich, nicht aber den Bankdirektor, der anstatt ihres reinen Herzens ein einfaches hat. Er gibt sich ganz dahin, was die Empfängerin weder tut noch bewundern kann. Wie anders Comte X.

Er schätzt die Existenz sehr hoch, das Leben gering ein. Sie wüßte nicht, was gerade ihn berechtigt. Gewiß nicht seine Sorgen – sie hat begriffen, daß Monsieur Laplace de Revers über ihn Gewalt hat; sowenig wie seine körperlichen Voraussetzungen. Mehrere Unbequemlichkeiten, sein häufiger Besuch der Toilette, könnten ihr nicht entgehen, auch wenn er davon schwiege. Worüber er nicht klagt, das bemerkt sie um so mehr, seine übertriebene Nase, die meistens zittert, und den Fuß zieht er nun einmal nach. Dafür hat er breite Schultern.

Genug, als Erscheinung hält er sich gerade noch, dank eigener Aufmerksamkeit und flüchtigem Hinsehen. Hinter der Front ist Schutt, wie ihr wohl ahnt; merkwürdig, ihr verschlägt es nichts, ihm tut es bei ihr nichts. Erstens ist er der Comte X, eigentlich Lehideux. Sie braucht nur seine Philosophie mit seinem Namen zusammen zu denken, es überläuft sie. Natürlich hat sie sich gefragt, warum er sie nicht begehrt. Antwort: er ist zu klug. Er kennt sich und weiß, ihre Ehe ist glücklich. Aus Gründlichkeit hat sie überdies ihre eigenen Gefühle erforscht. Nein, sie kann es lassen. Das benannte Wesen Lehideux – ein Schauder. Eine Französin würde nicht schaudern, Stella ist fremd – eingerechnet den Titel, muß sie das Wesen nicht haben, im Gegenteil. Ihr Mann ist ihr lieber.

Was sie begehrt, ohne es zu genehmigen, was ihren Kopf verführt, ist ausschließlich die Roheit eines Schwachen oder das Paradox eines ausgesprochenen Anhängers der Gesellschaft, der gleichwohl alles vernichtet, nicht nur die Menschheit, das wäre ohne Bedeutung: auch die Leute. Er würde es ihnen in jedem Salon deutlich geben, daß sie bei ihm verurteilt sind. Wie Estelle errät, würden sie zustimmen, en abondant dans son sens, und jeder würde die anderen meinen. Hier liegt der große Reiz für eine ehrgeizige Fremde.

Sie besitzt für sich und ihren häuslichen Gebrauch, wie den Frühstückstisch und das Klavier, eine gesellschaftliche Attraktion, den eleganten Widersinn persönlich. Er hätte besonders die Frauen immer auf seiner Seite. Da sie einander beneiden, hätte er die reichste – vor allem als Geldgeberin. Estelle durchschaut ihn, anders als ihr guter Mann, der noch nicht heraus hat, welches Verhältnis vorliegt zwischen seinem Hausfreund und seinem Präsidenten. Ebensogut und besser könnte eine Kapitalistin das eminente Talent finanzieren. Sie wäre nicht bequemer als Laplace, in ihrer Art würde sie noch mehr verlangen. Indessen, wenn das nicht der Weg dieser hohen Begabung, nicht ihre Genre ist …

Weiß Lack der Flügel, bemalt mit Rokokomotiven. Estelle, die Pavane, und über beide halbwegs herabgeneigt das Phänomen, das heute von sich das meiste hergibt. Es prophezeit, daß nächstens Blut in Massen fließen soll. Das ginge an, da Krieg ist. Aber die Opfer werden einer weltweiten Herrenklasse gebracht werden, das macht hier den Unterschied. Schlachten haben nie aufgehört, neu beginnen muß die Folter, das zu lange unterschätzte Hängen.

Estelle nickt, während ihr Anschlag weicher wird. Sie überlegt: »Er ist prachtvoll. Sein Ruhm in den Salons wäre meiner. Vielleicht muß er nur gestoßen werden, damit er sich produziert? Aber einen Mann, den ich mit anderen Frauen bewundere, würde ich nicht lange bewundern, auch nicht behalten. Monsieur Laplace wäre kein Grund mehr für seine Ausdauer.« Was geschah hier? Laplace, kein anderer wurde ihr gemeldet. Comte X sprach soeben: »Das Menschenleben ist tatsächlich keine tote Ratte wert.« Gerade dachte Estelle: »Meinungen zum Küssen. Und ich kann dabei die Pavane spielen … Bis ich achtzig Jahre alt bin«, hätte sie weiter gedacht, aber der eingedrungene Besucher folgte dem Hausmädchen.

Eine wunderhübsche Bonne, Estelle wie ihr Mann hielten auf gepflegtes Haar, sie selbst auf die Schuhe, an ihren Beinen nahm Monsieur Laplace ein unverzügliches Interesse. Hätte die Welt aus Frauen allein bestanden, der Präsident wäre natürlich ein anderer gewesen. Ihn beanspruchten leider alle die Männer, die in Not und Furcht zu erhalten waren, wozu dann ihre Frauen glücklich machen? Seine vieille galanterie française, die er mit einiger Selbsterkenntnis verhöhnte, ging diesmal so weit, daß er, noch im Korridor, wo Pigeon zusah, dem Mädchen ein Knie in den Hintern stieß. Empört zurückgewendet, begegnete sie einer Banknote, was sie beruhigte.

Sie führte den Präsidenten in das Frühstückszimmer mit den großen Glastüren. Hinter der zweiten war nicht der geringste Comte X festzustellen. Die Dame am Flügel hat keineswegs ihr Spiel unterbrochen, wie konnte sie wissen, wer ihr sogleich gemeldet werden sollte. Comte X hat es ihr wohl vorausgesagt, er hat ihr Unbefangenheit empfohlen; ihn möge sie verleugnen. Worauf er nach dem Inneren der Wohnung verschwand. Anstatt auf der anderen Seite hinaus und zur Treppe zu gelangen, lief er gegen Pigeon, der ihn begrüßte mit »On ne passe pas«. Launig wie ein Nußknacker.

Das hübsche Mädchen, das hinein zu Madame eilen wollte, wurde von Monsieur Laplace am Arm zurückgehalten. Sein Griff war empfindlich genug, daß sie das Gesicht verzog und keinen Zweifel über den Ernst der Gelegenheit behielt. »Ma fille«, sagte der Herr, »du wirst die Person, die soeben verschwunden ist, zur Stelle schaffen.« – »Ist einer verschwunden?« fragte das kluge Kind, erblickte auch diesmal einen Geldschein und seufzte. »Madame wird gekränkt sein.« Er erwiderte: »Da ist schon Pigeon, der ihn nicht fortläßt.« Hiermit gab er sie frei.

Sie schwebte auf Fußspitzen, über Madame geneigt meldete sie alles und noch mehr: »Il est excité. Il a les cent francs faciles.« Madame nickte. Während sie um einiges lauter spielte, trug sie der Kleinen auf: »Manette, dein Freund soll zurückkommen, aber erst, wenn ich einen Gegenstand zu Boden werfe.« Entgegen dem Anstand hatte sie Comte X mit »dein Freund« bezeichnet, damit der Horcher, wenn seine Ohren scharf genug waren, sie selbst aus der Affäre ließ. Dies war eine Affäre. Manette begriff es; ohne Widerspruch entschwebte sie nach hinten. Vorn in dem ersten der hellen Zimmer empfing Estelle ihren verhängnisvollen Besucher.

Sie dachte an ihn oft, so gut wie regelmäßig, wenn Comte X oder Lehideux seine Theorie der Existenz entwickelte. Hierbei vermied er benannte Beispiele. Sie verschwieg, welches Muster ihr vor Augen stehe, eigentlich aber seufzte sie nach diesem Laplace de Revers. Daß er wenigstens eine halbe Stunde lang den anderen vertreten hätte! In ihm erriet sie das fahle Monstrum, das der andere nur beredete, wenn auch voll Charme. Ein Laplace redete nie. Bevor er sich ausgedrückt hätte, war schon wieder eine Existenz vernichtet. Eine nur?

Jetzt ist Krieg. Die Toten werden nicht alle auf weitem Feld liegen. Die kleine Klasse des einen Laplace besorgt ihrer noch mehr und andere. Ihr Lehrer Comte X rühmte es ihr gern, aus Ergebenheit für die unerbittliche Existenz. Estelle war einverstanden ohne Furcht und Mitleid. Denn sie war reinen Herzens, erblickte niemals befleckte Bilder, am wenigsten trat ihr vor Augen, bewegte sich vor ihren sehenden Augen die mörderische Unzucht der Wirtschaft. Die entmenschten, aber unsinnlichen Ideen, die sie zuließ, ohne sie zu begreifen, veränderten in ihrem lieblichen Gesicht keinen Zug, nie die Farbe. Estelle blieb unbeschädigt außen wie innen. Dies gilt nicht für den Präsidenten Laplace de Revers.

Der große Mann, Organ einer unerbittlichen Existenz, wußte beiläufig, was er tat. Zweifellos kannte er mehr Schwänke aus seinem Leben als der Polizist, der ihn überraschenderweise verfolgte. Louis Laplace, Léon Jammes hätten konform gehen sollen, um nicht gleich zu sagen, daß der eine den Anspruch auf pünktliche Bedienung von seiten des andren besaß. Statt dessen sich nachspüren lassen von dem amtlich Befugten, der seine Befugnis falsch verstand, sie umkehrte, sie mißbrauchte. Er berichtete über den Synarchismus an die zuständigen Stellen, wo zum Glück die richtigen Leute sitzen konnten, aber es gab auch andere. Laplace bekam vertrauliche Nachrichten.

Wenn eine Macht wie er Richter hätte haben können, waren sie, was gilt es, im Vorhinein seine Mitschuldigen. Die mit Recht seine Richter gewesen wären, unterliegen endgültig: ihre Frist ist versäumt. Im Frieden haben diese schwachen Autoritäten nicht ihre Feinde getroffen, eher die Gegner ihrer Feinde. Einen Léon Jammes traf es noch nicht. Heute bei Ausbruch des Krieges triumphieren gegebene Tatsachen, die bis hierher ungesetzlich waren – sind aber das Gesetz der Dinge selbst. Versuche doch ein Léon Jammes sich zu vergreifen an einem Laplace de Revers! Erstaunlich, daß er es wagt, mit dem Direktor, einem Untergebenen des Präsidenten, sich einzuschließen, schon die zweite Stunde!

Der Präsident erfreute sich keines reinen Herzens wie Estelle, nicht ihrer Schönheit, der weder Gedanken noch Ereignisse eine Spur aufdrücken können. Er sieht schlecht aus. Die Niederlage seines Landes, selbst dieses Landes, herbeiführen, wäre noch einfach, wenn es immer beim Entwurf und der Verschwörung bliebe. Heute beginnt die Exekution, Monsieur Laplace sieht nicht gut aus. Überreizt und wütend war er gleich bei seinem Auftreten drunten, die ganze Bank hat beigewohnt, starr vom Entsetzen. Das ist noch nichts. Jetzt erleidet der Mächtige die Angst seiner Größe, er übertreibt nicht so sehr seine Folgen im ganzen, die Folgen des Verrates an einem Land wie dieses unterschätzt er noch.

In die Gedärme gefahren sind ihm die Missetaten seines Agenten Comte X, derentwegen Léon Jammes in Aktion ist – Kobalt hält er in Bereitschaft, der Skandal, den er aufrührt, kann bei entschlossener Behandlung Wellen schlagen, über allem zusammenschlagen kann er. Das ist die Angst. Als sie ihr Höchstmaß erreicht, sowohl im Kopf wie im Darm, muß es sich fügen, daß Monsieur Laplace vor Estelle steht. Ja, ihre reine Seele trägt zu seinem nächsten, drängenden Bedürfnis noch bei. Ihm bleibt nur übrig, sich ihr zu eröffnen. »Bitte, hier herum«, spricht Estelle.

Sie geleitet ihn nach hinten, über ihre Wohnräume, ihr Schlafzimmer sogar; übrigens sieht er davon nichts. Er hat meistens das halbe Gesicht auf dem Rücken, das eine seiner sonst herrischen Augen schielt immer nach einem Ankläger des jüngsten Tages, der ihm nachsetzt. Wohlverstanden käme Léon Jammes zu spät; aber eine Verhaftung, auch die alsbald widerrufene, bleibt eine Verhaftung. Sein Leidensweg nimmt kein Ende, obwohl er nur die hundert Schritte einer üblichen Flucht von Gemächern umfaßt. »Wo ist es?« stöhnt er, am Rande einer Katastrophe.

Estelle unterhält sich, sie leugnet es nicht. Anders als heute früh, da der ausgerutschte Comte X ein Schauspiel gab mit ihr als Heldin, wird der Präsident sie aus seinen Angelegenheiten herauslassen, er hat es eilig, in Sicherheit und unter Verschluß zu kommen. Sie hat gewählt, einen Weg ohne Zuschauer. Auch der Korridor draußen hätte an das Ziel geführt, vielleicht aber mit Begegnungen; peinlich wäre jede. Endlich angelangt, gibt sie ihren spannenden Schützling dennoch dem Zufall nicht preis. Tatsächlich bemüht er sich um seine Zuflucht vergebens, die Tür widersteht. »Auch Comte X wäscht sich die Hände«, spricht Estelle beiseite. Sie unterhält sich, das ist keine Frage.

Der Präsident rüttelt, nichts erfolgt. »Bliebe das zweite Lavabo«, rät Estelle. »Für die Dienerschaft; Sie müssen über die Nebentreppe gehen.« Unmöglich; er zog vor zu befehlen: »Sofort kommen Sie heraus!« Nichts – bis Estelle den eigens mitgebrachten Kaffeetopf zu Boden warf. Der Topf war Silber, er klapperte, was alsbald wirkte; die Stätte wurde frei, ihre Schwelle überschritt ein Comte X, der seinen entnervten Gebieter lächelnd überflog. Er selbst war in Mantel und Hut, längst bereit zu verschwinden, wenn nicht der brauchbare Pigeon beide Ausgänge bewacht hätte. Die Kriegslist lag nahe, sich zu verstecken, bis der Buchhalter glaubte, man sei schon fort.

Dies festgestellt und ihre Vogelscheuche für eine Weile abgeliefert, erübrigten den Verbündeten gewisse strategische Entscheidungen. »Der Krieg fängt gut an, was tun?« fragte der Mann, der das erste Mal, seit er hier Synarchismus lehrte, den kürzeren zog. Die Frau schenkte ihm einen dermaßen reinen Blick, daß er auf unerhörte Vermutungen kam. »Sollte er das Alleinsein mit Ihnen mißbraucht haben?« Natürlich hatte sie ihn mißverstanden. »Er konnte sich noch beherrschen, aber ich fürchte, er muß das Bett aufsuchen. Das würde empfindlich stören, wenn es wahr ist, daß gerade am Tage des Kriegsausbruches unsere Philosophie aus ihrer heimlichen Periode in die offene eintritt.«

Ihr Gefährte war enttäuscht und niedergeschlagen. »Einen Augenblick hatte ich vergessen, wer Sie sind. Immerhin konnte er, mit einer hübschen verheirateten Frau allein, zum Angriff geschritten sein. In diesem Fall waren wir gerettet.« Womöglich noch unschuldiger sah sie ihn an. »Sie wissen wieder, wer ich bin« – keine Spur von Gekränktheit. Er war es mehr als sie. Nur mit dem Kinn verneigte er sich, wobei er seufzte. »Et encore, avec ce coco-là, vous en seriez pour vos frais.« Einen Besiegten lächelnd überfliegen wie kurz zuvor, so war ihm nicht zumut.

Sein Zweifel an ihrer Begabung, Präsidenten zu verführen, Estelle nahm davon keine Kenntnis. »Ich werde Sie retten«, behauptete sie vielmehr. Er dankte höflich; wie dachte sie sich dergleichen – während ihm vielleicht noch diesen Abend ein Unglück drohte. Er versuchte es anzudeuten. Sie hörte nicht hin, sondern machte ihn aufmerksam, wo sie sich befänden: in ihrem Ankleidezimmer. Er verlor die Geduld, er rief unfein und zu laut: »Je m'en bats l'œil de vos réduits divers, je viens d'en prendre.« Sie zischte leise, um zu warnen vor der überall geöffneten Flucht.

»Achtung, in dieser Wohnung hört man das entfernteste Wort. Aber man sieht nicht alles.« Hierbei nötigte sie ihn in den Kleiderschrank. Dieser war tief eingelassen in die ganze lange Wand. Blieb die weite Tür beiseite geschoben, dann erhielt hinter glitzernden, duftenden Sachen ein Lauscher die bequemste Gelegenheit, sich zu ängstigen. Nicht ausgeschlossen, daß Estelle auch dies im Sinn hatte. Sie meinte es gut mit dem Gentleman, der ihr Stolz war. Andererseits unterhielt sie sich. »Viel Vergnügen solange«, sagte sie. Er stöhnte erstickt: »Um Gotteswillen, bleiben Sie noch!«

Wie er es wünschte, wartete sie, befahl ihm aber zu flüstern. Sie legte das Ohr an die Kleider, hinter denen sie ihren Comte X hatte; sie hörte: »Wir haben versäumt, die Frau zu entführen. Das ist ungleich schlimmer, als wenn wir es nicht versucht hätten.« Sie antwortete nicht, obwohl sie bei sich dachte: »Er hatte mich nur unvollkommen eingeweiht, während er mich kompromittierte. Meine Sache, mehr zu erraten und mir zu helfen, sobald der Chef an die Öffentlichkeit tritt.« Weiter hörte sie flüstern: »Das verzeiht er nie. Meine Bezüge sind abgeschnitten: bleibt nur noch mein Leben.«

»Sie sind verrückt«, sagte Estelle, nicht gerade erregt, nur so viel beteiligt, daß der Vorwurf der Kälte wegfiel. Er verteidigte sich. »Meinen Sie, bei den synarques wird nicht getötet?« – »Synarques heißen sie.« Im stillen merkte sie es sich, fand auch, daß sie schon geahnt habe, wie die Taten ihrer Philosophen aussähen, gesetzt, sie handelten. Nur schien hier der Nutzen eines Mordes ungeklärt. »Qué saco«, fragte sie, damit ein Anflug von Humor die Lage mildere. Da war es ihr, als ob hinter den Kleidern geschluchzt werde – oh, nicht feige, das wollte sie nicht. Tränen der Wut quollen.

»Ich Dummkopf habe selbst den Mörder von auswärts verschrieben. Niemand sollte ihn kennen; stattdessen kennt er jeden. Vor allem kennt er Kobalt schon längst, man weiß nicht, woher. Jetzt oder nie ist sie zu beseitigen.« Gedanke der Hörerin: »Ohne mich. Ich muß es verhüten.« Er war dabei angelangt, mit sich selbst zu sprechen. »Solange das geschminkte Individuum sie sucht, vergißt er mich. Seinen Verdacht, als hätte ich ihn verraten, muß man ablenken. Auch Präsidenten sind sterblich.« – »Vous vous emballez«, bemerkte Estelle; es erinnerte ihn an ihre Gegenwart. Sofort hatte er Wünsche.

»Da Sie schon mit drin sind, ma jolie, machen Sie ihm Furcht!« Sie wendete ein, noch mehr könne der Bewußte sich schwerlich ängstigen als gerade jetzt, in seiner Zurückgezogenheit. Ihr wurde erklärt, dies halte nicht vor. »Der vergißt mich nicht. Wenn er wieder ans Licht kommt, eröffnen Sie ihm, wo seine Gefahr liegt: bei Léon Jammes.« – »Er weiß es, das sagt mir mein kleiner Finger.« – »Sagt er Ihnen auch, Sie reine Seele, daß Kobalt mächtige Verwandte hat: daher der Schutz von Seiten des Deuxième Bureau?«

Sie gestand, daß die Hintergründe einer Kobalt ihr noch fremd seien. Soviel habe sie begriffen, daß der vieillard incommodé sein Übel nicht der Politik allein verdanke. »Eine Frau! Wirklich, diese Frau?« Das Geflüster aus dem Schrank: »Kobalt wäre gar nichts. Eine Gestörte, die man den Leuten zeigt. Aber les coïncidences. Sie nimmt von den Ihren kein Geld, hat in der Fabrik gearbeitet, der beste Vorwand für einen politischen Agenten, sich mit der Fremden zu beschäftigen. Sie sehen: Kobalt muß fort, oder Léon Jammes muß fort.«

»Sagten Sie nicht auch: der Präsident? Meinen Sie schließlich: mein Mann?« – Hierauf verwandelte sich das Geflüster in Zischen. »Fragen Sie den Buchhalter, der vor Ihrer Tür aufpaßt, mit wem der Direktor in Konferenz ist.« Sie hatte wieder einmal begriffen, diesmal zuviel. Hinter geschlossenen Zähnen, in unterdrückten Lauten sprach sie: »Bis heute abend gibt es einen Toten? Mein Mann kann es sein so gut wie ein anderer? Ich will nicht. Der Präsident wird an mich Zumutungen stellen. Ich erfülle jede.«


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