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2.

– – – Staatsanwalt Sierlin hatte die Polizeiwache kaum verlassen und sah sich auf der Straße, als er davonstürzte.

Er hatte völlig vergessen, daß er noch eben, vor kaum einer Minute, versprochen hatte, hier zu warten.

Er hatte nur den einen Gedanken: jetzt bleibt dir nur noch die Kugel! –

Du bist auf offener Straße ins Gesicht (und rast zu Boden) geschlagen worden – dieser Schimpf kann nur mit Blut abgewaschen werden, und dieser Mensch ist nicht satisfaktionsfähig! ...

Er raste mit seinen längsten Schritten, genau wie vor drei Wochen, darauf los; wußte nicht, wohin er ging; und blickte erst auf, als er sich in einer bekannten Gegend, dicht in der Nähe seiner Wohnung, befand.

Da erst fiel ihm ein, was er getan hatte: er, ein hoher Beamter, hatte sich einer Vernehmung durch die Flucht entzogen ! –

Er schlug unwillkürlich den Rockkragen hoch. Ihm war, als müsse jeder Vorübergehende ihm ansehen, was er getan.

Er kehrte um und ging wieder weiter, einerlei wohin ...

Als er sich am späten Abend – die Kinder schliefen schon lange, und seine Frau wurde mit kurzen und harten Worten zur Ruhe gewiesen – schmutzig und zum Umfallen müde allein in seinem Zimmer befand, verschloß er die Tür und holte die Waffe aus seinem Schreibtisch.

Aber als er sie ansetzen wollte, sah er, daß seine Hand zitterte. Er mußte sie wieder hinlegen.

Dann knirschte er auf:

»Nein! – Erst du! – Du Hund! – Erst du!«

Er ging zum Wandschrank, schenkte ein großes Glas voll Kognak und stürzte es hinunter.

Dann setzte er sich in seinen Lehnstuhl und starrte vor sich hin. Er saß die ganze Nacht so da, die Flasche neben sich, trinkend und rauchend, und wenn er vor sich hinsprach, waren es immer dieselben Worte:

»Erst du! Erst du! – Du Hund!... Du Hund!«

Am Morgen fuhr er in die Stadt zu einem Arzt. Nicht zu seinem Hausarzt; zu einem anderen, ihm nur dem Namen nach bekannten. Der brauchte ihn nicht erst zu untersuchen, sondern nur anzusehen, um guten Gewissens das verlangte Attest schreiben zu können: »Schwere nervöse Störungen ... dringend gebotene, sofortige längere Schonung... Enthaltung von jeglicher Arbeit... absolute Ruhe ...«

Wieder zu Hause, verbrauchte Staatsanwalt Sierlin den Rest des Vormittags zur Abfassung eines Gesuches um sofortigen Urlaub, das er sogleich – mit dem Attest und den noch bei ihm liegenden Akten – durch einen besonderen Boten an die zuständige Stelle leiten ließ.

Die nächsten Tage sprach er kaum ein Wort. Zu Hause verließ er sein Zimmer kaum. Wenn seine Frau in ihn drang, sagte er, er sei krank und um Urlaub eingekommen; bat sie ihn, zu verreisen, fuhr er sie an: alles, was er brauche, seien ein paar Tage Ruhe; er sei überarbeitet, und man solle ihn zufrieden lassen

Ging er aus, geschah es immer ganz unvermutet und zu den seltsamsten Zeiten. Er konnte mitten im Essen aufstehen und hinauseilen, um erst in der Nacht heimzukommen. Oder er verließ, wenn alles schon schlief, das Haus und kam erst am Morgen wieder, ohne zu sagen, wo er gewesen.

Er wußte es selbst nicht. Aber es waren immer Straßen, Straßen, Straßen, durch die er ging. Begegnenden wich er entweder scheu aus, wenn sie ihm zu nahe kamen, oder er sah ihnen herausfordernd und drohend ins Gesicht.

Besuche wurden nicht angenommen; telephonische Anfragen durften nicht beantwortet werden. Denn solche kamen – es sickerte durch ...

Der, auf den die Tropfen der Gerüchte fielen, spürte sie nicht.

Er wechselte zwischen Anfällen sinnloser Wut oder solchen einer heimlichen tödlichen Angst.

Er wartete auf seinen Feind.

Er suchte ihn.

Er wußte, er würde wiederkommen.

Er ging nie ohne Waffe aus und hielt meistens die Hand am Griff des Revolvers in der hinteren Hosentasche, was seinen Schultern beim Gehen ein seltsam verzerrtes Aussehen gab.

Er wartete. Warum kam er denn nicht, der Hund, damit er ihn niederknallen konnte? – Erst ihn! ... Und dann sich! –


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