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9.

Nicht nur, wer an Adolf Brauns klarem Verstand gezweifelt hätte, würde sich getäuscht haben, sondern auch, wer geglaubt hätte, seine Arbeit diese mit so beispielloser Zähigkeit durchgeführte Arbeit – wäre eine leichte. Ihre ganze Schwere hätte nur beurteilen können, wer sie sah. Aber es sah sie niemand.

Besonders dieses letzte Vierteljahr, von der Rückkehr aus den Ferien bis jetzt, hatte ein Übermaß von Energie, Selbstbeherrschung und Geduld erfordert, gegen das die ersten Monate des Frühlings und des Sommers – mit ihren Begegnungen zu bestimmten Zeiten und an vorausbestimmbaren Orten – das reine Kinderspiel gewesen waren.

Jetzt, wo jede einzelne von diesen Begegnungen nicht mehr ihre Stütze an bestimmten Stunden hatte, sondern ganz wahllos stattfand (und stattfinden sollte), kostete eine Stunde des Zusammentreffens viele des Wartens – Stunden, um eine Minute oder gar nur eine Sekunde des Sehens, des Gesehenwerdens und des Weitergehens zu inszenieren.

Und wie viele von diesen Stunden waren ganz vergeblich: der Gesuchte kam nicht, blieb aus oder war, selbst bei schärfster Verfolgung, auf einmal selbst außer Sicht! –

Wenn er durch seinen Freund Eduard (der von seiner Mieze stets auf dem laufenden erhalten wurde) gewisse Anhaltspunkte erhielt, war es noch am leichtesten.

So etwa: sie hatte ein Theaterbillett besorgen sollen, traf ihren Liebsten am Vormittag, schickte ihn an die Theaterkasse. Der merkte sich natürlich Reihe und Nummer der Plätze und hinterbrachte sie seinem Freunde. Dieser nahm sich noch am selben Tage einen Platz in einer vorderen Reihe. So saß er am Abend fast vor seinem Feinde und dessen Frau. Aber er hatte selbst ebenfalls keine rechte Freude an der Vorstellung. Er fühlte die bohrenden Blicke förmlich in seinem Nacken, verriet sich aber mit keiner Bewegung.

Auch das Zusammentreffen in der Straßenbahn war bei weitem nicht mehr so bequem wie im Sommer, denn Staatsanwalt Sierlin kam jetzt zu ganz unregelmäßigen Zeiten nach Hause, und oft mußte er, um ihn zu sehen (und gesehen zu werden) stundenlang an einer Haltestelle stehen und warten.

Wenn das aber einen ganzen Tag so ging: mit dem Auflauern, dem Beobachten, dem Nachgehen und Nachfahren, bis sich endlich eine Gelegenheit ergab (oder auch nicht ergab), so war es nicht ganz leicht, besonders bei Nässe und Kälte. Dann war selbst er, der gegen alles, gegen jedes Wetter und jedes Gefühl Abgehärtete, zum Umfallen müde am Abend.

Es war nach der Rückkehr von der Reise. Er sah, welche Mühe sein Feind sich gab, ihn nicht zu sehen. Wie er über ihn hinwegsah, als habe er ihn nie gesehen. Er sah, welche Anstrengung es ihn kostete. Er sah, wie sein Blick unruhig wurde, bevor er ihn fortwandte; er sah sein leichtes Zusammenzucken.

Er selbst sah jetzt nicht mehr über ihn hinweg. Er sah ihn an, gleichgültig, fremd, und dann gleich wieder fort. Aber er sah ihm nie in die Augen. Ihre Blicke begegneten sich nie. Auch das war beabsichtigt.

Er merkte, wie jener immer wieder im Begriff war, auf ihn zuzukommen und ihn anzusprechen (wie damals auf der Bank), und wie er immer wieder die Annäherung unterließ. Er mußte beschlossen haben, ihn zu ignorieren. Aber das sollte ihm nicht gelingen! –

Er war in dieser Zeit oft zu Hause, besonders an den Abenden, und sah seinen Freund Ede seltener. Nach einem beschwerlichen Tage erfolgreichen oder nutzlosen Wartens (bei jedem Wetter) gönnte er sich diese Abendstunden der Ruhe am warmen Kachelofen und in dem alten Lehnstuhl.

Dort saß er dann viele Stunden und grübelte, grübelte... Denn alles, alles, was er tat, war vorher genau überlegt, von allem Anfang an und, soweit es möglich war, bis in jede Einzelheit.

Es war sein Werk, an dem er arbeitete, wie nur ein Künstler an dem seinen. Es formte sich, nahm Gestalt an, wuchs und wuchs...

Wie war es doch, daß er zuerst auf diesen Gedanken gekommen war, den er erst selbst für widersinnig und unausführbar gehalten, und der nun doch eine Wirklichkeit geworden war, wie er sie sich nicht erhofft und erträumt? Wie war es doch? –

Vor Jahren, noch vor seinem Unglück, als er mit einem Kollegen, der sich viel mit den Fragen der Hypnose und Suggestion, des Spiritismus und ähnlichen – ihm ganz fremden – Dingen beschäftigte, ein Glas Bier trank, hatte dieser ihm von der Beeinflussung des menschlichen Willens durch einen anderen menschlichen Willen erzählt, und sie hatten gleich eine Probe gemacht. In dem – nicht sehr besuchten – Restaurant saß ein paar Tische von dem ihren entfernt ein Herr und las die Zeitung. Sein Kollege begann ihn zu fixieren – unentwegt seinen Blick in den Nacken des Fremden zu bohren. Eine viertel – eine halbe Stunde lang. Adolf Braun sah, wie der Fremde allmählich unruhig wurde, wie er sich umsah, wie er seine Zeitung fortlegte und wie er endlich aufstand, um mißmutig fortzugehen.

Beharrlichkeit, Geduld und ein starker Wille – das wären die Erfordernisse, sagte sein Kollege. Er hatte es dann zum Scherz gelegentlich einmal selbst versucht, aber ohne besonderen Erfolg.

Aus diesem ersten Keim hatte sich dann: erst der Gedanke, dann der Entschluß zu seinem Plane entwickelt.

Viele Stunden hatte er dagesessen, gegrübelt und gegrübelt, bis er soweit war.

Und immer noch saß er da, grübelte weiter und weiter...

Oder er las.

Er hatte, seit er Zeit und Geld besaß, wieder viel gelesen, wie als Junge schon. Jetzt waren es meist bessere Kriminal- und Gesellschaftsgeschichten, die er sich in Stößen aus der Leihbibliothek holte.

Die ersten sollten ihm helfen, neue Tricks zu finden. Er sah sich kläglich enttäuscht. Sie nährten seine eigene Erfindergabe nicht, und er legte sie wieder fort, um sich befriedigt zu sagen, daß auf seine Methode noch keiner außer ihm gekommen war. Niemand außer ihm. Sie war von absoluter Neuheit und Originalität.

Die anderen, die Gesellschaftsromane, dienten dazu, ihn mit dem Leben der Kreise bekannt zu machen, in denen sein Feind verkehrte. Er wollte wissen, wie man sich dort bewegte und wie man dort sprach. Er lernte ganze Phrasen auswendig, sprach sie vor sich hin, und wenn sie ihm auch natürlich nicht in Fleisch und Blut übergingen, hatte er sie doch für den gegebenen Fall bei der Hand.

Er studierte sein eigenes Gesicht im Spiegel. Er gab ihm, wie ein Schauspieler, jeden nur möglichen Ausdruck, um jeden beherrschen zu lernen. Dann legte er die alte und erprobte Maske wieder an – die Maske der Gleichgültigkeit, der Unnahbarkeit, der Abwesenheit von allem, was um ihn her vorging.

Beharrlichkeit, Geduld, Willenskraft – unaufhörlich sagte er sich immer wieder, daß diese allein zum Ziele führen konnten.

Er besaß sie alle drei. Er wurde nie müde. Er war nie entmutigt. Er fing morgen dort an, wo er heute aufgehört hatte. Er war wie der Jäger, der sein Wild so lange verfolgt, bis er es zur Strecke gebracht hat.

Er kannte jede Bewegung des Gegners. Er sah jetzt, wie es ihm nicht länger möglich war, über ihn hinwegzusehen, wie er wieder versuchte, an ihn heranzukommen.

Er ließ ihn noch etwas zappeln – entwich noch einige Male, bevor er es zu einem ersten ernstlichen Zusammenstoß kommen ließ.

Er wußte genau, daß sein Feind auch jetzt noch (obwohl er vor Wut beinahe platzte) alles vermeiden würde, was irgendwie Aufsehen erregen konnte.

So kam es zu dem Zusammentreffen im Kaufhaus. An diesem Tage war Adolf Braun seinem Feind, dem Staatsanwalt Sierlin, seit Stunden unbemerkt auf den Fersen gewesen: war ihm vom Gericht ins Kaufhaus gefolgt, hatte dort, immer durch die Menschenströme gedeckt, dreimal selbst kleine Einkäufe machen müssen, bevor es ihm gelungen war, an einer Kasse mit ihm zusammenzutreffen. Aber dann war alles programmäßig verlaufen.

Seine Studien – denn es waren regelrechte Studien – hatten ihn auch an dem Tage des Besuches bei Justizrat Eberhardt ihm nach und bis in die Nähe des Hauses, in dem dieser wohnte, geführt. Sein Feind hatte sich nicht getäuscht, als er ihn zu sehen glaubte. Er war ihm gefolgt. Aber was dann an diesem Nachmittag noch geschah, war ein reines Spiel des Zufalls.

Er hatte – er wußte selbst nicht warum – darauf verzichtet, vor dem Hause auf seine Rückkehr zu warten. Es war nicht Müdigkeit, sondern ein gewisses Gefühl des Überdrusses, das sich seiner – eigentlich zum ersten Male – bemächtigte.

So war er denn tiefer in den Park hineingegangen und setzte sich auf eine der Bänke. Es war kühl, aber immerhin – man konnte hier sitzen.

Wie immer dachte er nur an das eine. Er wünschte, es wäre jetzt bald zu Ende. Aber er sah noch kein Ende ab.

Auf einmal sah er drüben zwei Herren auf und ab gehen. Am andern Ufer des Sees. Er kannte den einen; den anderen hatte er nie gesehen. Er blieb sitzen. Aber er stützte das Gesicht in die Hände. Wenn er gesehen worden war, war es gut. War er nicht gesehen, war es auch gut. Er wollte abwarten.

Dann sah er den fremden Herrn – einen kleinen, untersetzten Herrn im Pelz, mit rundem Gesicht und blauen Augen – vor sich.

Er nahm sich zusammen. Er wußte, es kam jetzt auf jedes Wort an. Er setzte jedes einzelne. Er dachte an seine Bücher und was er in ihnen gelesen. Manches paßte.

Er war sehr befriedigt von dem Ausgang des Gespräches und mit sich.

Das war einmal ein guter Zufall gewesen! –

Er wußte jetzt: sein Feind suchte bereits nach Hilfe.

Keine Hilfe, nicht die Gottes, nicht die der Menschen, sollte ihm nützen! –

Bis Weihnachten wollte er ihn wieder in Ruhe lassen.

Dann sollte ihm das Fest versalzen werden.


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