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7.

Er steckte sich eine Zigarre an und setzte sich in seinen Lehnstuhl, den, in dem er immer saß, wenn schwierige Fälle zu überdenken waren.

Er war einstweilen noch immer geneigt, an eine Sinnestäuschung zu glauben, so unglaublich war dies zweimalige Begegnen innerhalb einer Stunde und an ganz verschiedenen, voneinander weitab gelegenen Plätzen. Aber einmal gab es für ihn keine Sinnestäuschungen und durfte es keine geben; und dann wußte er, daß er sich nicht irrte. Es war dieselbe Haltung, es war dasselbe Gesicht gewesen, das er jetzt schon genügend kannte, um sich in ihm nicht mehr zu irren – ein glattrasiertes, schmales Gesicht, mit einem seltsam harten Zug um den Mund. Es war derselbe, etwas starke Hinterkopf mit den blonden Haaren. Er kannte das Gesicht, bis auf die Farbe der Augen. Nur deren Aufschlag hatte er noch nie gesehen. Er war ihrem Blick noch nie begegnet. Es war, als wichen sie ihm aus, in ihrem starren Vorsichhinbrüten auf der Bank, in ihrem Uberihnhinwegsehen beim Vorbeischreiten.

An der Identität der Person war also nicht zu zweifeln.

Er zwang seine Gedanken zu der gewohnten, kühlen Überlegung.

Dies war ein Fall – zweifellos. Fälle waren dazu da, um geklärt zu werden. Er, sie zu klären.

Er rekapitulierte schnell:

Erstens: ein junger, ihm völlig unbekannter Mensch war vor einer Reihe von Wochen hier, vor seinem Hause, an ihm vorbeigegangen, näher als nötig, doch ohne ihn anzusehen, zu grüßen oder ihn sonstwie zu beachten. Das konnten – im Zusammenklang mit schlechten Manieren – Zufälligkeiten gewesen sein.

Zweitens: dieser selbe Mensch hatte sodann des öfteren auf einer Bank, seinem Haus gegenüber, gesessen und war einmal, nachdem er gerade angelangt war, auf dieses sein Haus zugegangen, ohne es indessen zu betreten oder sich sonst bemerkbar zu machen. Das konnte, wenn auch kaum mehr durch einen Zufall, so doch durch andere Gründe erklärt werden, die er sich bereits damals zurechtgelegt – Entschluß, ihm einen Besuch abzustatten; plötzliches Versagen des Willens im letzten Augenblick; Schuldgefühl und Angst.

(Dagegen sprach: die unbekümmerte Haltung, die, statt seinen Blick mit stummer Bitte auf sich zu lenken, vielmehr – und fast ostentativ – bekundete, daß er ihn nicht sah und nicht wünschte, gesehen oder angesprochen und gefragt zu werden.)

Drittens: ebenderselbe junge Mann hatte in den nächsten Wochen oft stundenlang und bei ungünstigstem Wetter, Tag für Tag, auf derselben Bank gesessen, immer in derselben abweisenden Haltung und war immer verschwunden, sobald er zu Hause angelangt war. Das war merkwürdig. Es war zum mindesten auffallend.

Viertens: immer derselbe war dann wieder mehrere Male am selben Ort und fast (aber nicht immer) zu gleicher Zeit an ihm vorbeigegangen, diesmal aber nicht langsam und nah, sondern in wiederum auffälliger Entfernung und stets so schnell, daß er hätte laufen müssen, um ihn noch einzuholen. Er hatte seine herausfordernden Blicke, sein Stehenbleiben und Nachblicken in gewohnter Weise ignoriert. Das war auffällig, sehr auffällig sogar.

Aber alles dies zusammengenommen hätte immerhin noch keinen genügenden und beweiskräftigen Grund zu der Annahme abgegeben, daß der Betreffende mit seinem seltsamen Treiben eine bestimmte und ihm geltende Absicht verfolgte. Es konnte das Gebaren eines harmlosen Narren sein, das eines sich schuldig Fühlenden, eines an einer fixen Idee Leidenden.

Er hatte diese Annahme: daß es ihm, gerade ihm, galt, bereits erwogen, sie aber immer wieder fallen gelassen.

Bis heute. Bis eben jetzt – vor zwei Stunden.

Denn daß heute, zwischen der ersten Begegnung am Gericht und dieser zweiten eben ein Zusammenhang bestand, und daß mit ihnen eine ganz bestimmte Absicht verfolgt wurde – daran konnte ein Zweifel jetzt schwerlich mehr aufkommen. Es erhoben sich nun diese beiden Fragen:

Wie war er so schnell und vor ihm hierhergekommen? –

Was wollte und bezweckte dieser Mensch? –

Die erste war leicht und nur auf eine Weise zu beantworten: da er selbst die erste Straßenbahn genommen, die ankam, und beim Umsteigen das nicht gerade häufige Glück gehabt hatte, sofort auf die erwartete zu treffen, die ihn in die Nähe seiner Wohnung gebracht; da in dieser zweiten außer ihm nur eine alte Dame mitfuhr (der er beim Einsteigen behilflich gewesen war), müßte er ihn gesehen haben, wenn er im Wagen gewesen wäre. Eine andere, schnellere Verbindung gab es nicht, außer einem Auto (oder einem Flugzeug, aber diese letzteren gehörten noch nicht zu den täglichen und regelmäßigen Verbindungen). Außerdem war er heute schneller als sonst nach Hause gegangen, durch stille Straßen, und hätte es bemerken müssen, wenn ihm jemand gefolgt wäre.

Um also vor ihm auf der Bank angelangt zu sein, mußte dieser junge Mensch sich ein Auto genommen haben – eine andere Möglichkeit gab es nicht.

Erhob sich also die zweite Frage:

Was konnte ihn, diesen jungen Menschen, der zwar anständig gekleidet war, aber durchaus nicht so aussah, als habe er das Geld nur so zum Wegschmeißen, was konnte ihn in aller Welt bewogen haben, sich eine solche Ausgabe zu leisten, eine Ausgabe, die ihn, den wohlsituierten Staatsanwalt Sierlin, jedesmal, wenn er um sie in die Tasche greifen mußte – acht bis neun Mark – bitter schmerzte?

Nur um ihn zu sehen, oder besser: von ihm gesehen zu werden? Und dann schleunigst wieder fortzugehen? –

Die Frage war nicht so ganz leicht zu beantworten. Natürlich konnte sie ihre Aufklärung nur im Hinblick auf seine amtliche Tätigkeit finden.

Es war nur einer unter den Fällen, denen ein Staatsanwalt auf Schritt und Tritt begegnete und mit denen er daher zu rechnen hatte.

Drohbriefe waren in seinem Beruf an der Tagesordnung. Er schenkte ihnen längst keine Beachtung mehr, und sie wanderten nur deshalb nicht in den Papierkorb, weil er sie zu einer Sammlung fügte, die bereits nach Hunderten zählte, und die er später einmal für eine Arbeit über diese Seite des menschlichen Charakters zu verwerten gedachte. Drohungen wurden ganz selten, fast nie ausgeführt.

Wenn auch allerlei geschah: schon zweimal war er dem Wurf eines während der Verhandlung nach ihm geschleuderten Tintenfasses (und seinem Inhalt) nur mit knapper Not entgangen; noch öfter hatten verurteilte Verbrecher vor ihrer Abführung versucht, sich über die Barrieren weg auf ihn zu stürzen (woran sie aber jedesmal gehindert waren); er war auf offener Straße angepöbelt und beschimpft worden – hatte die Kerle oder ihre wütenden Weiber entweder feststellen lassen oder war verächtlich lächelnd weitergegangen. Nur einmal war er, ebenfalls auf offener Straße, angefallen worden – ein wuchtiger Hieb hatte den Angreifer zurückgeschleudert. Ob jedoch der Schuß, der einmal – spät abends beim Nachhausekommen – dicht an ihm vorbeigegangen war, wirklich ihm gegolten hatte – das war bei der herrschenden Dunkelheit und der Leere der Straße nie aufgeklärt worden.

Sein Beruf brachte Gefahren mit sich. Er kannte sie und war ihnen gewachsen. Er war nicht feige. Er war stolz auf seinen Mut. Er ließ sich nicht einschüchtern. Er nicht. Er ging seinen Weg und würde ihn weitergehen. Verbrechen und ihre Urheber fanden an ihm stets ihren unerbittlichsten Verfolger. Mit den gegen ihn persönlich gerichteten würde er fertig werden, wie mit allen anderen, mit denen er von Berufs wegen zu tun hatte. (Übrigens trug er seit jenem unaufgeklärten Schuß stets einen geladenen Browning in der hinteren Hosentasche.)

Der Staatsanwalt würde auch mit diesem Falle fertig werden. Im Handumdrehen.

Sobald er herausgefunden hatte, um was es sich handelte.

Aber eben das wußte er noch nicht.

Dieser junge Mensch warf keine Tintenfässer; er trat ihm nicht direkt in den Weg; er stieß keine Schimpfworte aus. – Er schien ihm im Gegenteil aus dem Wege zu gehen. Er sah ihn nicht einmal an. Er beachtete ihn in keiner Weise. Er gab ihm keine Veranlassung, gegen ihn vorzugehen; keine, ihn auch nur anzusprechen.

Dennoch wollte er jetzt endlich dahinterkommen, was er von ihm wollte. Er würde das nächste Mal einfach auf ihn zugehen und ihn fragen.

In jedem Falle wollte er die Sache allein erledigen. Er hätte sich nur lächerlich gemacht mit seiner Erzählung von einem Menschen, den er nur sah und immer wieder sah und der ihm nichts tat. (Nichts auf der Welt fürchtete Staatsanwalt Sierlin mehr, als lächerlich zu erscheinen.)

Aber er ärgerte sich schon wieder, als er sah, wieviel Zeit er nun auch an diesem Abend einem so gleichgültigen Fall geopfert (der zudem eigentlich gar kein Fall war). Er warf die ausgerauchte Zigarre (die dritte schon, seit er hier saß) fort und begab sich hinüber, half den Knaben bei ihren Schulaufgaben, sprach mit seiner Frau und zog, als die Kinder zu Bett geschickt waren, die Erstaunte und Beglückte zum ersten Male seit langer Zeit wieder an sich.


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