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10.

Staatsanwalt Sierlin wurde mit Jubel an dem kleinen Bahnhof des Ostseebades begrüßt und im Triumph zum Hotel geführt. Er freute sich selbst, denn er hing an seinen Kindern, und diese, trotz seiner Strenge, wohl auch an ihm, wenigstens der kleine Kurt. Auch seine Frau war begierig, ihm erzählen zu können, wer alles von alten Bekannten auch hier sei und welche neuen Bekanntschaften sie in diesen fünf Tagen gemacht hatte. Sie tat es mit ihrer gewöhnlichen, leicht in Geschwätzigkeit ausartenden Ausführlichkeit.

Aber erst, als sie auf der Veranda an ihrem gewohnten und heute zu Ehren des Angekommenen festlich mit Blumen geschmückten Tisch und beim Essen saßen, tat sie das, was sie ihren Kindern verboten hatte zu tun – tat es ganz unbewußt aus einem ihrer gewöhnlichen und plötzlichen Einfälle heraus, über die sie sich selbst keine Rechenschaft ablegte.

Denn gleich am ersten Tage ihrer Ankunft waren die Knaben, ganz aufgeregt, mit der Nachricht gekommen:

»Mutti, denk dir doch nur,« sagte Kurt, »der Mann aus unserem Garten ist auch hier ...«

Und der ältere fügte hinzu:

»Und er wohnt bei uns im Hotel ...«

Sie war emporgefahren:

»Welcher Mann? – von wem sprecht ihr denn? – und erhielt zur Antwort, von beiden zugleich:

»Doch von dem Mann, der immer vor unserem Hause so dagesessen hat ... Wir haben doch schon von ihm gesprochen, damals, als Vater so böse wurde und sagte, wir sollten nicht mit ihm sprechen. Wir haben auch hier nicht mit ihm gesprochen ...«

Sie hatte die Unterredung bei Tisch längst vergessen und sagte daher nur:

»Dann tut es auch weiter nicht. Am besten, ihr sprecht überhaupt nicht von ihm, wenn Vater sich doch nur ärgert ...«

Aber sie ließ sich doch, als sie bei Tisch waren, den fremden Mann, der zwei Tische weiter saß, zeigen und konstatierte für sich: Zu uns, zur Gesellschaft gehört er nicht und auch nicht in dieses Hotel.

Damit war er für sie erledigt, und die Kinder, die nicht viel von ihm sahen, hatten ihn bald über den Bau der großen Burg am Strande vergessen, die täglich neu gebaut werden mußte und doch fertig sein sollte, wenn Vater kam.

Sie sagte also jetzt, gedankenlos und ganz nebenher:

»Es ist auch ein Mensch hier, von dem die Jungens behaupten, ihn öfters im Park gesehen zu haben. Es soll auch schon von ihm die Rede gewesen sein. – Kennst du denn den Menschen? – Er wohnt im Hotel ...«

Die Knaben, ihres Verbotes nun ledig, fielen eifrig ein und zeigten nach einem der anderen Tische:

»Dort sitzt er ...«

»Mit dem Rücken zu uns ...«, wurden aber gleich von ihrer Mutter streng zurechtgewiesen:

»Man zeigt nicht mit den Fingern auf andere Leute!«

Es war gut, daß Staatsanwalt Sierlin in diesem Augenblick stark mit seinem etwas zähen Rumpsteak beschäftigt war, und daß das Messer nicht recht schneiden wollte. Er mußte sich tiefer über seinen Teller beugen.

Als er wieder aufsah, war sein Gesicht von der Mühe des Zerlegens gerötet, und wieder (wie damals) lag eine gewisse Heftigkeit in dem Ton, mit dem er jetzt die Kinder, die noch immer gespannt auf seine Antwort warteten, anfuhr:

»Ich habe euch doch schon mehrmals gesagt, daß ihr euch um fremde Leute, die euch nichts angehen, nicht kümmern sollt. Tut, was ich euch sage!«

Die Knaben sahen betroffen vor sich hin, während die Gedanken seiner Frau schon wieder weit weg waren (sie hatte soeben in neu Eintretenden Bekannte aus Berlin erkannt und versuchte nun, sich ihnen bemerkbar zu machen).

Staatsanwalt Sierlin hatte seine ganze, nicht geringe Selbstbeherrschung nötig, um bis zum Ende der Mahlzeit seine Haltung zu bewahren und weitere Fragen zu beantworten. Es war ihm gelungen, nicht hinzusehen – und er sah nicht hin. Er wußte ganz genau, wer dort, einige Tische vor ihm und mit dem Rücken zu ihnen, saß ...

Er wußte ebenso genau, wer jetzt, während die Kinder mit ihrem Nachtisch beschäftigt waren und seine Frau, halbabgewandt, mit wieder anderen Bekannten am Nachbartisch sprach, an seinem Tische vorüberging, auf einem Umweg, der ganz unnötig war, um den Ausgang zu erreichen, und dichter, als es ebenfalls nötig war und es der Abstand der Tische erforderte. Er fühlte ihn im Rücken.

Aber er bezwang sich auch jetzt noch. Er sah nicht auf. Auch hier durfte es zu keinem Skandal kommen.

Als man indessen etwas später auf dem Zimmer oben war, überraschte er seine Frau mit dem Vorhaben, noch eine halbe Stunde, und zwar allein, ausgehen zu wollen. Er begründete es mit eingenommenem Kopf nach der Reise und dem Wunsch, sich schon heute oberflächlich mit der Lage des Bades bekannt zu machen. Er versprach, in einer halben Stunde zurück zu sein.

Draußen, allein auf dem halbdunklen und leeren Korridor, stand er still. Die Adern schwollen auf seiner Stirn an und seine Hände ballten sich.

Dann stieg er langsam die Treppe in die Halle des Hotels hinunter. Alle Tische in ihr waren von den Gästen besetzt, die hier nach dem Essen ihren Kaffee tranken – plauderten, lachten, flirteten. Er überflog sie mit einem schnellen Blick.

Die beiden angrenzenden Räume: ein Schreib- und Lesezimmer und ein Billardzimmer waren leer. Aus einem weiter nach hinten gelegenen erscholl Tanzmusik. Er betrat auch ihn, sah eine Weile den Tanzenden zu, die dort bei den Klängen eines Klaviers und einer Geige jazzten und foxtrotteten. – Dann ging er in die Halle zurück. Am Eingang des Hotels lag eine kleine Bar. Aber nur zwei ältere Herren saßen dort auf hohen Stühlen, die Knie emporgezogen, als ob sie Leibschmerzen hätten, und tranken eine rötliche Mischung.

Er verließ das Hotel, ohne gefunden zu haben, was er suchte.

Draußen, in der kühlen und feuchten Luft fühlte er, wie sein Gesicht glühte.

Er stieg die hölzerne Treppe hinab, die über die Düne zum Strande führte. Dort ging er an ihm entlang, erst an Strandkörben und zerfallenen Burgen vorbei, dann auf dem feuchten und festen Sande, weiter und weiter.

Neben ihm sang die Brandung des Meeres ihr ewiges Lied. Er hörte ihre Stimme nicht. Er sah nicht das Aufleuchten der Sterne an dem nächtlichen Himmel, nicht den silbernen Glanz der Wellen. Er fühlte auch nicht, wie sie in jähem Anprall seine Stiefel netzten – er ging und ging.

Der Strand war menschenleer. Niemand kam ihm entgegen. Niemand folgte ihm.

Langsam legte sich seine Wut.

Eine böse und grausame Freude stieg in ihm auf: Er hatte ihn! – Er hatte ihn endlich! – Hier! – Hier, wo er ihm nicht mehr entkommen konnte, in dem kleinen Badeort! – Und er wohnte mit ihm unter demselben Dach! ...

Was schadete es, daß er ihm heute abend noch entgangen war? Es war vielleicht gut so. Er wußte nicht, was er mit ihm gemacht hätte, wäre er ihm schon heute abend unter die Fäuste geraten ...

Aber morgen, morgen in aller Frühe (wenn sie allein waren) – da würde er ihn sich vornehmen, daß ihm Hören und Sehen vergehen sollte! – Hören und Sehen ebenso, wie dies Nachgehen und Entwischen! ...

Wenn sie allein waren ... Denn auch hier, wo bereits so viele Bekannte waren, mußte die Sache ohne alles Aufsehen ihre Erledigung finden. Aber diesmal würde sie erledigt werden! –

Er wurde ruhiger und kehrte um.

Einmal lachte er hell auf, mit einem mißtönigen und grellen Lachen: Es war die Höhe! – Nachgereist war ihm der Kerl bis hierher! – Nachgereist! – Und, um sicher zu sein, schon ein paar Tage vor ihm hier gewesen! ... Es war die Höhe! –

Aber nun hatte es ein Ende. Mit ihm, dem Staatsanwalt Sierlin, trieb man nicht Spott und Spiel.

Morgen noch ... Und dann sollte ihm kein Tag hier mehr verbittert werden ...

Als er das Hotel wieder betrat, war die Halle leer und die Tanzmusik verstummt. Hier ging alles kurgemäß frühzeitig schlafen.

Oben wurde er bereits ungeduldig erwartet. Er war über eine Stunde ausgeblieben, ohne es zu wissen. Die Knaben schliefen schon längst im Nebenzimmer.

Es dauerte lange, bis er selbst Schlaf fand. Er schlief unruhig. Er schob es auf die Reise, die erste Nacht an fremdem Ort und die erregende Seeluft.

Ungewöhnlich früh stand er auf; ungewöhnlich schnell kleidete er sich an. In dem Vestibül unten war er der erste der Gäste. Der wollte er sein.

Er ging geradewegs auf die Portierloge zu.

Dort fragte er zunächst nach Briefen, dann nach dem Fremdenbuch, trug sich ein, und endlich, wie beiläufig, indem er dem Portier ein Markstück in die Hand drückte:

»Sagen Sie mal, Herr Portier, da hat gestern abend ein Herr in der Nähe unseres Tisches gesessen« – er beschrieb ihn kurz – »der schon einige Tage bei Ihnen wohnen soll ...«

Der Gefragte war sofort im Bilde. Er witterte Ungewöhnliches – (Staatsanwalt – so früh – Trinkgeld) – und beeilte sich zu sagen:

»Der Herr ist eben, vor noch keiner halben Stunde, abgereist, nach Berlin zurück ...« und wies zugleich auf einen Namen im Fremdenbuch in dessen vorletzter Seite.

Staatsanwalt Sierlin durchfuhr es: Abgereist? –

Eben! – Wieder entkommen! – –

Aber er las doch die Eintragung (in einer klaren, kaufmännisch unpersönlichen Handschrift):

»Adolf Braun, Kaufmann, aus Berlin. Vermutlicher Aufenthalt: unbestimmt. Ziel der Reise: Berlin.«

Er schlug das Buch langsam zu und verließ die Loge.

Der Portier sah ihm nach: sicher ein Kriminalfall. Er war doch Menschenkenner. (Wer sollte es sonst wohl sein, wenn nicht ein Portier großer Hotels, der seit zwanzig Jahren die Menschen aus aller Herren Ländern und ihre Erlebnisse an sich hatte vorüberziehen sehen!) – Daß aber dieser junge Herr, der immer so still seiner Wege ging, so freundlich und freigebig mit Trinkgeldern gewesen war, daß dieser sich eines Vergehens oder gar Verbrechens schuldig gemacht haben sollte – es wollte ihm nicht in den Kopf. Er schüttelte ihn. Für Staatsanwalt Sierlin blieb die Erholung, wenigstens in den ersten beiden Wochen, aus. Er zog sich, was er sonst nie getan, von aller Gesellschaft nach Möglichkeit zurück, machte lange und einsame Gänge in die Dünen und kehrte von ihnen in nicht besserer Laune heim. Mit seinem verkniffenen Gesicht, seinen scharfen und kurzen Fragen und seinen oft ganz unsinnigen Antworten verdarb er auch den Seinen den Aufenthalt.

Erst in der dritten Woche wurde er zugänglicher, suchte alte und machte neue standesgemäße Bekanntschaften und saß mit ihnen des Abends am Bier- und Skattisch.

Er war wie sonst. Seine gewöhnlichen Eigenschaften traten eher noch stärker hervor.

Es war in dieser Zeit, daß der wegen seiner boshaften Bemerkungen (besonders bei den jungen Damen) gefürchtete Assessor Kreidewien aus Lübeck das Wort von den »Etwas-zu-Menschen« prägte und allsogleich auf ihn so anwandte:

»Dieser Berliner Staatsanwalt ist,« sagte er vertraulich zu einem Bekannten (von dem er wußte, daß er es unverzüglich weitergeben würde), ›»dieser unausstehliche Herr ist etwas zu laut‹; ›etwas zu schneidig‹; ›etwas zu wenig vornehm‹...« Im übrigen vergingen die letzten Wochen, wie die ersten, im Fluge. Man badete; machte Segelpartien; lag im Sande und faulenzte nach Noten. Von dem »Kerl« war natürlich nie mehr die Rede, schon deshalb nicht, weil er dem Gesichtskreis entschwunden war.

Staatsanwalt Sierlin hatte sich, nachdem er sich wieder den Kopf vergebens darüber zerbrochen, wie er seinen Aufenthalt hier erfahren und weshalb er ihm nachgereist war, vorgenommen, nicht mehr an ihn zu denken. Es gelang ihm nur unvollkommen, aber doch zeitweilig.

Nach sechs Wochen kehrte die ganze staatsanwaltliche Familie nach Berlin zurück. Frau und Kinder in bester Verfassung. Der Herr des Hauses nicht ganz so erholt, wie er es für die schwere und aufreibende Arbeit des nahenden Wintersemesters hätte sein müssen.


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