Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

9.

Am Vorabend der allgemeinen Abreise trat eine kleine Änderung in dem Reiseplan ein. Von Verwandten in Kiel kam ein Brief, in dem er dringend an ein längst gegebenes Versprechen erinnert wurde, sie zu besuchen – ihnen doch wenigstens in diesem Jahre »ein paar Tage zu schenken«. Es ließ sich schwer mehr umgehen. Der Besuch war schon so oft aufgeschoben worden, daß eine erneute Ablehnung eine Beleidigung gewesen wäre. Besser also gleich, um ihn dann auf lange hinaus hinter sich zu haben. Es wurde also beschlossen, daß er morgen mit dem ersten Frühzug nach Kiel fahren, seine Frau mit den Kindern erst am übernächsten Tage in das Bad abreisen und er ihnen dorthin in etwa einer Woche nachkommen solle. Ihr war es lieb – ein nicht zur rechten Zeit fertiggewordenes Kleid konnte dann noch einmal anprobiert und mitgenommen werden.

Marie, die heute ihren freien Abend hatte, wurde von ihrer Gnädigen gerufen und instruiert: »Marie, wenn Sie fortgehen, bestellen Sie doch zu morgen früh um sieben am Halteplatz ein Auto. Der Herr fährt morgen mit dem ersten Zuge nach Kiel voraus, und wir bleiben noch einen Tag. Aber vergessen Sie es nicht und merken Sie sich die Nummer. – Hören Sie?«

Marie vergaß nicht.

Pünktlich um sieben Uhr am nächsten Morgen hielt ein Taxameter vor dem Hause, und der Hausherr fuhr zum Bahnhof.

Dort angekommen, gab er zunächst ein Telegramm an seine Anverwandten auf, das seine Ankunft für den frühen Nachmittag meldete, und trat dann, Handtasche und Schirm in der Hand, an den Schalter, um sich seine Fahrkarte zu lösen.

Im Begriff, die nötigen Geldscheine aus seiner Brieftasche zu nehmen, hörte er – dicht vor sich – mit einer ruhigen, klaren und festen Stimme dieselben Worte sagen, die er selbst in der nächsten Minute auszusprechen im Begriff war, die Worte: »Eins – Kiel – zweiter – bitte ...«

Er sah auf. Vor ihm stand ein junger Mann in grauem Anzug, der soeben Geld einstrich, eine Karte in Empfang nahm und dann abtrat.

Der Platz vor ihm war frei. Aber Staatsanwalt Sierlin tat keinen Schritt vorwärts. Er rührte sich nicht. Er sah dem Davongehenden nach. Er traute seinen eigenen Augen nicht.

Erst, als er von hinten – nicht eben sanft – angestoßen wurde und eine grobe, von der eben gehörten gänzlich verschiedene Stimme fragen hörte, ob er denn nicht endlich weitergehen möchte, da andere auch noch mit dem Zuge mitfahren wollten, raffte er sich aus einer Art von Betäubung auf, warf sein Geld hin, erhielt ebenfalls seine Fahrkarte und stürzte auf den Bahnsteig.

Der Zug stand wartend. Die Passagiere waren bereits auf ihren Plätzen. Einige Nachzügler eilten zu ihren Wagen.

Auch er mußte einsteigen, wenn er noch mitwollte.

Er tat es, fand ein Abteil zweiter Klasse, warf Tasche und Schirm in das Netz und sich in eine Ecke. Der Zug zog an.

Er saß in Gedanken. – Jetzt hatte er ihn! Er war mit ihm in diesem Zuge!

Nach einer Weile sprang er auf, durchging die beiden Wagen zweiter Klasse, schaute in alle Abteile – der, den er suchte, war nicht in ihnen. Der Zug war schwach besetzt.

Er war wieder in seiner Ecke. Außer ihm saß nur noch ein alter Herr am Fenster. Er grübelte vor sich hin.

Dann erhob er sich von neuem und durchging den ganzen Zug – von dem letzten bis zu dem ersten Wagen dritter Klasse, wieder und wieder an denen zweiter Klasse vorbei; riß Türen auf und schob sie wieder zu, ließ keine einzige Abteilung aus, sah sogar überall nach, ob die Toiletten auf Frei standen, öffnete zum Überfluß auch hier Türen, nur um sie wieder zuzuschlagen – erstaunte Blicke folgten dem in den Gängen Hin- und Herjagenden: der Gesuchte war nirgends zu sehen. Er konnte nicht mitgefahren sein. Es war unmöglich. Wo sollte er sich versteckt halten?

Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er wieder auf seinem Platze saß.

Warum war er nicht mitgefahren ? – Wohin war er verschwunden? – Und woher, woher wußte dieser Mensch, daß er mit diesem ersten Zuge und nach Kiel fahren wollte ? – – Denn er mußte es gewußt haben.

Er grübelte weiter.

Wie konnte er von einer Reise wissen, die erst im letzten Augenblick beschlossen war und von der keiner, außer seiner Frau, Kenntnis hatte?

Denn er hatte doch nicht geträumt – vorhin! – Er hatte ihn doch vor sich gesehen!– Und nicht nur gesehen – er hatte auch seine Stimme gehört, eine Stimme, die plötzlich so merkwürdig bekannt in sein Ohr geklungen, als habe er sie schon einmal gehört. Aber wo und wann ...?

Staatsanwalt Sierlin war versucht, hell aufzulachen. Wenn das auch ein Zufall gewesen war, dann gab es Zufälle im Leben, die mehr als merkwürdig waren. Aber es war kein Zufall gewesen und die Sache war durchaus nicht lächerlich. Sie begann sogar im Gegenteil jetzt ernst zu werden. Er mußte ihr jetzt endlich auf den Grund kommen. Wenn er ihn nur hier, hier im Zuge gehabt hätte, wo er ihm nicht mehr entkommen konnte! – Aber – er war eben nicht im Zuge. Er war fort. Auf unerklärliche Weise verschwunden – vor seinen Augen.

Dann fühlte er, wie jäh eine Wut in ihm aufstieg, über die er nicht mehr Herr war.

Jetzt verfolgte ihn dieser Mensch, den er noch immer nicht kannte, von dem er noch immer nichts wußte (nicht einmal, was er eigentlich von ihm wollte) – jetzt verfolgte er ihn sogar in seine Ferien hinein! – Löste sich eine Fahrkarte zu demselben Zuge und fuhr dann nicht mit! – Fuhr mit einem anderen Zuge – ihm nach!

Denn daß er ihm in Kiel begegnen würde, daran zweifelte er nicht einen Augenblick.

Er saß in seiner Ecke, starrte vor sich hin und sprang bei jeder Haltestelle auf, um ans Fenster zu treten und alle Aussteigenden in Augenschein zu nehmen. Eine Frage des alten Herrn, ob er sich unwohl fühle, beantwortete er so kurz und unfreundlich, daß sie nicht wiederholt wurde.

Das Frühstück, das ihm seine Frau so sorgsam eingepackt hatte, blieb unberührt. Ein Gefühl des Unbehagens, das sich seiner bemächtigt, war so stark, daß er nichts anzurühren vermochte.

Als der Zug in seine Endstation einfuhr, sprang er mit einem Satz als erster heraus, eilte zur Sperre und stellte sich neben sie. Er ließ alle Passagiere, einen nach dem anderen, an sich vorübergehen, bis der letzte durch sie verschwunden war und der Bahnsteig wieder verlassen dalag. Da erst verließ auch er den Bahnhof.

Er war während des Aufenthalts bei seinen Verwandten kein angenehmer Gast. Liebenswürdig war er ja nie gewesen, aber diese schlechte Laune, diese Unruhe und Kurzangebundenheit überstiegen denn doch jedes Maß, und man war froh, ihn schon nach sechs Tagen loszuwerden, da er selbst äußerte, seinen Besuch abkürzen zu müssen. Recht aufgefallen war es auch allen, daß er so oft ganz verkehrte Antworten gab und sich bei Spaziergängen und an öffentlichen Orten immer so umsah, als suche er jemanden, der ihm folgte (obwohl er doch hier, außer ihnen, keinen Menschen kennen konnte).


 << zurück weiter >>