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8.

Dem Landgericht gegenüber lag ein kleines Café, das fast nur von Juristen besucht wurde, die hier in den Pausen zwischen den Verhandlungen eine Erfrischung zu sich nahmen – Richtern, Verteidigern, Rechtsanwälten, Assessoren.

Jetzt, wo die schönen Tage da waren, saß man meist in dem kleinen Vorbau an der Straße mit seinen fünfzehn kleinen Tischen, Rücken an Rücken, um zugleich so etwas frische Luft zu schnappen.

Alles kannte sich natürlich. Jeder wußte, wer der andere war, und sagte nur, was dieser andere hören durfte oder – sollte. Die Gespräche trugen so mehr einen allgemeinen als privaten Charakter.

Auch Staatsanwalt Sierlin gehörte zu den ständigen Gästen des Cafés.

Es war ihm in den letzten Wochen nicht gelungen, seine Absicht auszuführen: diesen Unbekannten (der die Ausgabe für ein Auto nicht gescheut hatte, um ihn für einen Moment zu Gesicht zu bekommen) zu stellen und nach seinen Beweggründen zu fragen, obwohl er sich jetzt jedesmal, wenn er sich seinem Hause näherte, nach ihm umsah. Er war wieder einmal verschwunden.

Jetzt sah er ihn eines Tages plötzlich hier – in seinem Café. Er sah ihn und erkannte ihn sofort beim Eintreten: wie er sich von dem Platze erhob, auf dem er gesessen, an ihm vorbei- und hinausging. Sein erstes Gefühl war wieder, ihm in den Weg zu treten und ihn anzusprechen. Sein zweites, daß das hier, an diesem Orte, wo aller Augen sich zu ihm hinwenden würden, einfach unmöglich war. Er war bereits begrüßt worden. Auf das peinlichste berührt, waren seine Gedanken nicht bei dem Gespräch, in das er sogleich gezogen wurde.

Was bedeutete das nun wieder? – Wie kam dieser Mensch hierher, und was wollte er hier? – Natürlich konnte jeder anständig gekleidete Mensch in diesem Lokal verkehren, wenn es auch selten vorkam, daß andere Gäste als solche »von drüben« – Juristen – es besuchten. Und was sollte dies schnelle Aufstehen bei seinem Eintritt? – dies gleichgültige Anihmvorübergehen? – was sollte das alles nun wieder? – –

Er war gespannt zu sehen, ob dieser Vorfall nur ein einmaliger und daher möglicherweise zufälliger gewesen war, oder ob er sich wiederholen würde.

Er wiederholte sich. Er wiederholte sich innerhalb der nächsten beiden Wochen mindestens sechsmal und immer in derselben Weise: trat er ein, erhob sich der dort schon Sitzende, ging an ihm vorbei und betrat die Straße. Staatsanwalt Sierlin dachte daran, ihm auf diese hinaus zu folgen. Aber auch das war unmöglich: sie wimmelte von Bekannten. Er mußte dort, wie hier, jedes, auch das kleinste Aufsehen oder Ärgernis vermeiden. Er mußte tun, als kenne er diesen Menschen nicht und habe ihn nie gesehen – an ihm vorübergehen, wie jener an ihm vorüberging, achtlos, fremd, gleichgültig...

Er ärgerte sich noch mehr als bisher. Er ärgerte sich maßlos. Er fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg, wenn er sich dem Café näherte und ihn schon aus der Ferne an immer demselben kleinen Tisch im Vorbau an der Eingangstür sitzen sah, dem kleinen Tisch, an dem dann sofort ein Platz frei wurde – gerade als wolle er diesen Platz ihm anbieten. Er hatte Mühe, seine Fassung zu bewahren, Hände zu schütteln und Fragen zu beantworten. Aber was sollte er machen? – Er durfte nicht einmal in seinen Blicken den Unmut zeigen, dessen er sich schämte und der ihn doch ergriff; den er kaum mehr loswerden konnte. Er war nahe daran, das Café zu meiden. Aber auch das wäre aufgefallen. Und dann: diesem Menschen aus dem Wege gehen – sich von ihm in seinen Gewohnheiten stören lassen ? – Das wäre ja noch schöner gewesen! ... Aber die kurzen Erholungen zwischen anstrengenden und aufreibenden Sitzungen wurden ihm wahrhaftig durch diesen Menschen verbittert, von dem er nicht einmal wußte, wer er war. – Denn was wußte er von ihm ? – Daß er möglicherweise dort draußen wohnte, wie er; daß er über ungemessene Zeit verfügte (denn was für eine Zeit kostete allein schon dies Herumsitzen in diesem Café!); und daß er offenbar Geld hatte (woher nahm er es ?).

Staatsanwalt Sierlin verlor seine nie besonders gute Laune zusehends.

Mißgestimmt und ärgerlich kam er nach Hause (auch dann, wenn er »ihn« nicht gesehen hatte); er war unruhig und schlief nicht mehr so gut; und ärgerte sich unausgesetzt und eigentlich über alles: über seine Frau und ihr Geschwätz; über die Jungens, die in der Schule nicht recht vorwärts kamen; über zu milde Richter und allzu dreiste Verteidiger; über hartgesottene Verbrecher; und – über diesen fremden Menschen, den er sah oder auch nicht sah, von dem er aber nie wußte, wann er ihn sehen würde und wann nicht. Denn einmal kam er; und das andere Mal blieb er wieder fort.

Es war die höchste Zeit, daß die Gerichtsferien begannen. In ihnen würde er Ruhe haben vor allem – auch vor diesem Kerl.

Es waren jetzt nur noch acht Tage.

Er wollte mit den Seinen an die Ostsee, und zwar gleich am ersten Tage.


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