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4.

Aber es vergingen acht Tage, ohne daß Staatsanwalt Sierlin irgend etwas von dem Unbekannten hörte oder sah, und wenn er jetzt überhaupt noch an ihn dachte, war es höchstens in dem Augenblick, wo er sein Haus betrat und unwillkürlich einen Blick nach der Bank hinüberwarf, die aber leer war und blieb, obwohl jetzt die schönen Tage gekommen waren.

Er fiel ihm erst wieder ein, als er eines Abends sehr schnelle und feste Tritte hinter sich hörte Gegen seinen Willen wandte er sich halb um und sah, wer es war. Aber statt, wie bisher, dicht an ihm vorbeizugehen, schien ihm dieser junge Mann heute ausweichen zu wollen – er ging so weit von ihm, als es das Trottoir erlaubte, fast auf der Bordschwelle hin, und schnell weiter. Er sah durchaus nicht danach aus, als wenn er etwas von ihm wolle oder mit einem Entschluß kämpfe. Auch in Gedanken schien er nicht zu sein, wie bei seinem Vorsichhinträumen auf der Bank. Er ging ganz so wie einer, der nur den einen Wunsch hat, möglichst rasch nach Hause zu kommen. Ebensowenig schien er sich erkältet zu haben – so frisch und gesund war sein Aussehen und so fest sein Gang. Ihn hatte er wieder nicht im geringsten beachtet, ganz so, als habe er ihn nicht gesehen. Ich muß mich getäuscht haben, sagte sich Staatsanwalt Sierlin.

Seltsam und jetzt auffällig aber war, daß sich dieser Vorgang: das schnelle Vorübergehen in fast absichtlich gewählter, schroffer Distanz die beiden nächsten Tage wiederholte. Es war um so auffallender, als er gerade an diesen beiden Tagen zu ganz verschiedenen Stunden nach Hause kam – ungewöhnlich spät. Es war beide Male schon dunkel, als er den jungen Menschen an sich – fast vor seiner Haustür – vorübereilen und um die Ecke verschwinden sah. Da er dann wieder fortblieb und diese letzten Begegnungen ganz momentane gewesen waren, legte er ihnen auch jetzt noch nicht mehr Wichtigkeit bei, als die einiger flüchtiger Gedanken über die seltsamen Wege des Zufalls und vergaß sie alle über seiner sich täglich bis zur Unerträglichkeit häufenden Arbeit.

Inzwischen war der April herangekommen, auch in diesem Jahre ein launischer und naßkalter Monat. Die Witterung hinderte indessen den Unbekannten nicht, jeden Abend – und zwar eine ganze Woche lang – auf der Bank zu sitzen, vor sich hinzustarren oder in den grauen und wolkenschweren Himmel zu blicken. Auch das hätte Staatsanwalt Sierlin gleichgültig lassen können, wenn er nicht angefangen hätte, sich zu ärgern, und zwar zunächst über sich selbst. Denn einmal galt jetzt sein erster Blick beim Nachhausekommen der Bank; und dann konnte er es, fast gegen seinen Willen wieder, nicht unterlassen, vor dem Essen noch schnell an das Fenster zu treten, um nachzusehen, ob dieser Mensch immer noch dort saß, um dann jedesmal zu finden, daß die Bank leer war. Es war gerade, als habe der eben noch dort Sitzende nur auf den Augenblick seines Nachhausekommens gewartet, um aufzustehen und fortzugehen.

Es war auffallend, und es fiel ihm auf.

Er dachte schon daran, beim nächsten Male auf ihn zuzugehen und ihn zu fragen, ob er auf ihn oder wen sonst hier warte. Aber er unterließ es immer von neuem wieder. Es war unter seiner Würde. Und es hätte einer Sache Bedeutung beilegen heißen, die keine Bedeutung besaß.

Mochte der dort drüben sitzen, bis er schwarz wurde oder sich die Erkältung holte, die ihn dann schon von selbst zwingen würde, sein albernes und unverständliches Gebaren aufzugeben. Die Bank war für alle da. Nur ärgerte er sich jetzt, so oft er ihn sah. Er ärgerte sich auch noch, als er ihn dann plötzlich wieder eine ganze Woche nicht mehr sah. War es die Erkältung? – Er gönnte sie ihm jetzt.

Dann, in der übernächsten Woche, der dritten dieses April, begann das schnelle Vorübergehen wieder, und zwar abermals an drei aufeinanderfolgenden Abenden. Was sollte das heißen, zum Donnerwetter? – Er lauschte auf, wenn er die raschen und festen Schritte hinter sich hörte, blieb stehen, ließ sie an sich vorübergehen und tat es beim dritten Male in einer so herausfordernden Weise, daß jeder andere ebenfalls stehengeblieben wäre, um ihn anzusehen. Aber der Vorübergehende sah weder auf, noch tat er, als ob er ihn überhaupt bemerke. Er sah geradeaus und ging, womöglich noch schneller, weiter. Nachgehen konnte er ihm doch wohl nicht gut – hier in seiner eigenen Straße? – Es wäre das erstemal in seinem Leben gewesen, daß er, der Staatsanwalt Sierlin, einem fremden Menschen nachgegangen wäre! – Er ärgerte sich noch mehr.

Aber er beschloß, sich nicht mehr zu ärgern, als er ihn dann wieder eine Woche lang auf der Bank sitzen sah – Abend für Abend. Er nahm sich vor, weder hinüberzusehen, noch aus dem Fenster zu blicken. Er hatte sich sein Urteil gebildet: ein offenbar nicht ganz Zurechnungsfähiger, ein harmloser Narr, dem man seinen Willen lassen mußte.

Er kümmerte sich also nicht weiter um ihn. Er sprach auch nicht von ihm zu seiner Frau. Es wäre ihm lächerlich vorgekommen; und sie, in ihrer unpassenden Neugier für fremde Menschen, hätte sicherlich versucht, dem Gebaren dieses Fremden irgendeinen Grund unterzuschieben, und ihn nun ihrerseits täglich auf ihn aufmerksam gemacht.

Indessen wurde er jetzt sogar in seinen eigenen vier Wänden an ihn erinnert.

Denn eines Tages sagte der kleine Kurt bei Tisch: »Vatti, in unserem Wald sitzt jetzt immer ein so komischer Mann, der macht immer so ...« Er machte Glotzaugen.

Er schwieg aber gleich erschrocken, als er sah, mit welcher Bestimmtheit er zurechtgewiesen wurde, als habe er etwas Ungehöriges gesagt:

»Laß ihn sitzen! – Was kümmert das euch! – Und laßt euch nicht mit fremden Menschen ein, ich habe es euch schon immer gesagt! –«

Auf den erstaunten Blick seiner Frau hin – (und ehe sie fragen konnte: von wem sprecht ihr denn?) – wurde belehrend hinzugefügt:

»Es hat ein jeder das Recht, dort zu sitzen. Es sind öffentliche Anlagen, die nicht, wie ihr zu scheinen glaubt, euch allein, sondern der Gemeinde gehören, in der wir wohnen.«

Er war wieder ärgerlich, wollte es aber nicht zeigen und sprach von anderem.

Im übrigen hatten die Knaben auch keine Gelegenheit mehr, das Gebot ihres Erzeugers zu befolgen. Der Fremde blieb fort und, wie es schien, auf immer.

Der Frühling war jetzt wirklich da, die Bäume standen in Grün, und der kleine Park war nicht mehr unbelebt. Die in ihm spielenden und jagenden Kinder hatten den Einsamkeit und Stille Suchenden wohl vertrieben.

So dachte Staatsanwalt Sierlin, wenn er noch gelegentlich an ihn dachte (was kaum mehr geschah).


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