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13.

Nie in seinem Leben hatte Staatsanwalt Sierlin so viel gearbeitet wie in dieser Zeit. Er saß bis in die Nächte über seinen Akten. Seine Stimme war härter und schneidender, sein Ruf nach Gerechtigkeit lauter als je, und seine Strafanträge überschritten jedes Maß. Den schärfer Blickenden entging es nicht, wie sich hinter dieser Forschheit des Auftretens eine gewisse Unsicherheit verbarg. Sie zeigte sich auch in den fortwährenden Zusammenstößen mit den Verteidigern, die kein Ende mehr nahmen.

Man schüttelte den Kopf über ihn.

Der Herbst war da. Die Tage wurden wieder kühler und in den Anlagen begannen die Bäume zu gelben. Die Bänke, im Sommer von Müttern und Kindermädchen aus der Nachbarschaft besetzt und von Kindern umspielt, standen wieder leer.

An einem dieser Abende, schon gegen Ende des Monats, des September, war Staatsanwalt Sierlin allein zu Hause. Seine Frau war mit den Knaben in der Stadt zu einem Besuch bei Bekannten und daran anschließendem des Zirkus. Marie hatte ihren freien Abend und war fortgegangen, nachdem sie das Essen für den Herrn aufgetragen.

Er hatte sich vorgenommen, heute noch recht fleißig zu sein und einen besonders schwierigen Fall (Gattenmord durch Vergiftung?) zu bearbeiten, mit dessen Aufklärung er Ehre einzulegen hoffte.

Aber die Arbeit ging ihm nicht so recht von der Hand. Er spürte wieder diese innere Unruhe, die ihn selten mehr ganz verließ. Er ging erst auf und ab und trat dann ans Fenster, um hinauszusehen.

Es war noch hell, aber ein feiner Nebel lag in der Luft und umschleierte leicht die Bäume und Bänke drüben.

Bei ihrem Anblick mußte er wieder an diesen verfluchten Kerl denken, der ihm den ganzen Sommer über so viel zu schaffen gemacht hatte, mehr als irgendein anderer Mensch bisher (und allein durch seinen bloßen Anblick), diesen Kerl, hinter dessen versteckte Absichten er noch immer nicht gekommen war; und der nun seit Wochen wieder fort und nun wohl auf immer unerreichbar war.

Er setzte sich wieder an seine Arbeit, aber sie ging noch schlechter voran als vorher, so daß er seine Wanderung durch das Zimmer wieder aufnahm. Seine Gedanken waren nicht mehr so bei einer Sache, hielten sie lange nicht mehr so fest wie früher. Er war sich klar darüber und zuweilen nicht unbesorgt. Nerven? – Lächerlich. Was war das? – Nerven! ...

Als er zum – er wußte selbst nicht – wievielten Male an das Fenster trat, war es ihm, als säße dort drüben jetzt eine Gestalt. Aber auch sie war eingehüllt wie in einen dünnen Rauch und selbst in ihren Umrissen nur schwer erkennbar.

Aber Staatsanwalt Sierlin wußte sofort, wer es war. Er und kein anderer! – Er zuckte zusammen, wie unter einem Schlage.

Dann faßte er sich.

Ruhe jetzt, nur Ruhe! –

Er trat auf den Flur und griff nach Hut und Stock. Alles, alles kam jetzt einzig darauf an, ihn zu überraschen, damit er ihm nicht wieder entwischte.

Er schlich sich die Hintertreppe des Hauses hinunter, die nach dem Hofe führte. Er lauschte nach der Küche hin, wo die Köchin mit dem Abwaschen des Geschirrs beschäftigt war. Er machte sich nicht klar, daß seine Vorsicht ganz unnötig war, denn sie war ebenso taub wie dumm. Er verließ das Haus durch die rückwärtige Tür, überschritt den Hof und ging auf dem Wege hinter den Nachbarvillen entlang bis dahin, wo die Straße ihren Anfang nahm. Sie und drüben der kleine Park lagen nun vor ihm.

Der Nebel kam ihm zustatten. Er konnte unmöglich von der Bank aus gesehen werden, wie er jetzt den Damm überquerte und die Anlagen betrat. Er ging tiefer in sie hinein, so daß er die Bänke durch die kahlen Büsche noch eben erkennen konnte.

Langsam und vorsichtig näherte er sich der, die er suchte. Jetzt sah er sie und den, der auf ihr saß. Wenn er sich jetzt von hinten auf ihn stürzte und ihn bei den Schultern packte, bevor er aufzuspringen vermochte, hatte er ihn! ...

Aber etwas hielt ihn zurück: es war die Haltung des dort Sitzenden, jetzt nur noch auf Schritte von ihm Entfernten. Es war dieselbe Haltung wie früher, die unbekümmerte Haltung eines ganz in seine Gedanken Versunkenen, dessen Blicke weit über seine Umgebung hinweg in eine unbekannte Ferne gehen. Nur daß er die Hände nicht mehr in den Taschen hielt. Er rauchte – die Knie übereinandergeschlagen, stützte er sich mit dem linken Arm auf sie, während die rechte Hand die Zigarette hielt, deren Rauch in die Luft ging.

Bei diesem Anblick kam dem ihm Nahenden ein neuer Gedanke. Er änderte plötzlich seinen Plan. Er griff in die Tasche, holte sein eigenes Etui hervor, entnahm ihm eine Zigarette und trat dann schnell hervor – auf die Bank zu. Der andere schien sein Kommen immer noch nicht zu bemerken. Staatsanwalt Sierlin setzte sich auf die nebelfeuchte Bank, rückte etwas näher und sagte, seine Zigarette vorhaltend (nicht höflich bittend, sondern wie selbstverständlich):

»Aeh – gestatten wohl – Feuer ...«

Der jetzt auf Reichweite neben ihm Sitzende schien ihn erst nicht gehört zu haben. Dann – sich ihm langsam zuwendend – sah er ihn zum erstem Male voll an: so, daß sich ihre Blicke begegneten, stand ebenso langsam auf, warf die halbgerauchte Zigarette mit einem Schwung in die Büsche und ging ruhig davon.

Staatsanwalt Sierlin blieb auf der Bank zurück. Er wußte jetzt, wo er diesen Augen und ihrem Blick schon einmal begegnet war.


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