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5.

Adolf Braun ging an die Ausführung seines Planes. Nicht daß dieser Plan in allen seinen Einzelheiten fertig vor ihm gelegen hätte – diese mußten sich von selbst ergeben, sich aus ihm heraus entwickeln. Sie waren nicht im voraus feststellbar.

Was er allein mehr ahnte, als wußte, war: daß zu seiner erfolgreichen Durchführung ein Übermaß von Geduld, eiserne Nerven und ein durch nichts zu erschütternder Wille gehörten. (Neben Zeit und Geld – aber Zeit und Geld hatte er ja.) Es galt daher, zunächst seinen durch die Entbehrungen des letzten Jahres geschwächten Körper so zu stählen, daß seine Nerven jeder Ermüdung, jeder Anstrengung, jeder Erschütterung gewachsen waren. Sie mußten seinem Willen jederzeit bedingungslos gehorchen. Fühlte er, daß sie im geringsten nachgaben, mußte er ihnen Ruhe gönnen und sie aufs neue auf das Ziel hin trainieren. Er tat es.

Er lebte einige Wochen ausschließlich seiner Gesundheit. Er aß gut, schlief viel, machte lange und weite Spaziergänge in frischer Luft und vermied jede, auch die kleinste Ausschweifung. Er trainierte, wie nur ein Sportsmann trainiert.

Nach diesen Wochen war er so weit, daß er sich einen ersten, kleinen Vorstoß zutrauen durfte. Der Feind sollte zunächst nur an ihn erinnert werden: ihn sehen (wenn er ihn auch höchstwahrscheinlich nicht wiedererkannte). So ging er denn an drei verschiedenen Tagen, gegen Abend, nachdem er ihm entweder vom Gericht aus in der Straßenbahn unauffällig gefolgt war oder ihm, nun, wo er wußte, wann er ungefähr nach Hause zu kommen pflegte, aufgelauert hatte, erst hinter ihm her, dann dicht an ihm vorbei – immer, ohne ihn im geringsten zu beachten, als kenne er ihn nicht und habe ihn nie gesehen. Beim dritten Male fühlte er, daß er gesehen worden war.

Dann saß er in der folgenden Woche Abend für Abend auf der Bank, die dem Hause, das er kannte, schräg gegenüber lag. Er saß oft stundenlang da. Es war noch kalt – er fühlte es nicht; es regnete – er merkte es kaum. An einem dieser Abende schritt er, kurz nachdem der Feind sein Haus betreten hatte und am Fenster erschien, auf dieses Haus zu, ging an ihm vorbei und fort. Er war fast sicher, jetzt nicht nur gesehen, sondern auch bemerkt worden zu sein.

Er nahm seinen Platz wieder ein – in einer sorgsam einstudierten Haltung: gerade aussehend, wie in Träumen; seiner Umgebung entrückt, wie in Gedanken. Es geschah, daß er wirklich Ort und Stunde vergaß und das Herankommen des anderen übersah. Das schadete nichts. Wenn er nur gesehen war. Wenn man nur auf ihn aufmerksam geworden war ...

Er überzeugte sich, daß man es war. Er merkte es an einem Verlangsamen der Schritte des Erwarteten, wenn er die Straße betrat; er fühlte mehr als er sie sah, die Blicke, die zu ihm herüberflogen und sich dann in gekünsteltem Gleichmut wieder abwandten. Auch die Kinder kannte er bereits, wie sie ihn. Sie spielten zuweilen neugierig um den regungslos Dasitzenden herum, ohne daß sie es gewagt hätten, sich ihm ganz zu nähern.

Er kannte auch die majestätische und aufgedonnerte Pute, die drüben hinaus- und wieder hineinrauschte – seine Frau; das flinke und dralle Dienstmädchen, das dort hin und her flitzte; er kannte sogar das dumme, gutmütige Gesicht der dicken Köchin, das zuweilen in der Haustür erschien – er tat, als kümmerte er sich mit keinem Blick um sie alle.

Er saß da, in immer der gleichen, gleichgültigen Haltung, mit den Blicken über das Haus und seine Bewohner weg, und die Hände tief in den Taschen seines Sakkos.

Um ganz sicher zu sein, ging er dann wieder an drei aufeinanderfolgenden Abenden der übernächsten Woche so auffällig schnell an dem Nachhausekommenden, und zwar diesmal auf der Bordschwelle, vorüber, daß er in der stillen, kaum von einem Menschen betretenen Straße auffallen mußte. Er fiel auf. Er merkte es an dem plötzlichen Stillstehen des anderen beim Vorüberschreiten; an den herausfordernden Blicken, die ihn von der Seite trafen, ohne daß er sie scheinbar bemerkte. Er wußte nicht, ob er bereits erkannt war. Daß er gesehen und bemerkt war und daß man sich über ihn zu ärgern begann – dessen war er sicher.

Damit war einstweilen erreicht, was er zunächst wollte, und er durfte sich eine Ruhepause gönnen. Diese ersten, harmlosen Plänkeleien hatten ihn, mit ihrem oft stundenlangen Auflauern, dem die Wachsamkeit aller Sinne erfordernden Nachgehen, dem Sitzen auf dieser Bank bei jeder Witterung zwar nicht ermüdet oder angegriffen, aber doch in eine neue und etwas erregte Stimmung versetzt. Dazu kam die jedesmalige Anspannung aller seiner Willenskräfte bis zum Äußersten, um beim Vorbeigehen an sich zu halten – sich nicht auf den Feind zu stürzen und ihn niederzuschlagen.

Er bezwang sich – das durfte nicht sein. Es gehörte nicht in seinen Plan.

Als er glaubte, daß sie sich nun genug ausgeruht haben dürften (sie beide), nahm er seine Arbeit wieder auf.

Aber jetzt trieb er sich nicht mehr in dem Vorort dort draußen herum, sondern in der Nähe des Gerichts.

Dort sah er »ihn« alle Augenblicke, ohne indessen von ihm wiedergesehen zu werden. Er wollte auch einstweilen nicht gesehen werden.

An einem Nachmittag jedoch, einem wundervollen Maitage, war die Gelegenheit allzu günstig, als daß er sie ungenützt hätte vorübergehen lassen dürfen. Sein Feind stand mit einigen anderen Herren an der Haltestelle der Straßenbahn und wartete auf seinen Wagen. Er faßte sich und ging so auffallend dicht an ihm vorbei, daß er gesehen werden mußte, obwohl er selbst keinen Blick zur Seite warf. An der schnellen Körperwendung des anderen, einem fast unmerklichen Zusammenfahren, fühlte er, daß ihm nachgesehen wurde.

Er ging ein paar Straßen weiter, bestieg das erstbeste Auto und ließ sich hinausfahren. Kurz vor dem Ziel stieg er aus und setzte sich auf seinen alten Platz auf der Bank.

Es dauerte noch gut eine halbe Stunde, bis er die gewohnte Gestalt um die Straßenecke biegen sah. Er sah sie plötzlich stillstehen, merkte, daß er abermals gesehen war, stand schnell auf und ging fort.

Er wußte: jetzt dachte er an ihn.


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